Bibelarbeit auf dem Gendarmenmarkt gemeinsam mit der Gruppe Habakuk

30. Mai 2003

Lied  Nr. 28, 1+2+4+5: Dein ist die Zeit

I.
Diese Bibelarbeit widme ich dem Gedächtnis von Dorothee Sölle. Sie sollte an diesem Morgen hier stehen; wir vermissen sie sehr. Gestern Vormittag wurde in einer großen Zusammenkunft in der Waldbühne ihrer gedacht. Heute erinnern wir uns daran, mit wie vielen Bibelarbeiten und Beiträgen sie evangelische Kirchentage geprägt und mitgestaltet hat. Seit 1983 hat sie ihre Bibelarbeiten auf dem Kirchentag zusammen mit Eugen Eckert und der Gruppe Habakuk gestaltet. Das war auch für den heutigen Tag so vorbereitet; die Liederzeitung, aus der wir singen, wurde noch mit ihr zusammen geplant. Der Kirchentag gehörte zu ihrem Leben, sie gehörte zum Kirchentag. Sie machte seit 1965 die Kirchentage immer wieder zu Zeitansagen. Sie sagte an, was an der Zeit ist. „Zeitansage“ heißt das Gedicht von Dorothee Sölle, das Kara Huber, meine Frau, jetzt für uns liest.

Zeitansage

Es kommt eine zeit
da wird man den sommer gottes kommen sehen
die Waffenhändler machen bankrott
die Autos füllen die schrotthalden
und wir pflanzen jede einen baum

Es kommt eine zeit
da haben alle genug zu tun
und bauen die gärten chemiefrei wieder auf
in den arbeitsämtern wirst du
ältere leute summen und pfeifen hören

Es kommt eine zeit
da werden wir viel zu lachen haben
und gott wenig zum weinen
die engel spielen klarinette
und die frösche quaken die halbe nacht

Und weil wir nicht wissen
wann sie beginnt
helfen wir jetzt schon
allen engeln und fröschen
beim lobe gottes

(Aus: Dorothee Sölle, loben ohne lügen, Berlin 2000)

II.
Der Kampf um Gottes Segen ist das Thema der heutigen Bibelarbeit. Jakob erkämpft sich den Segen Gottes. Darum soll es gehen. Ich beginne mit einer grundsätzlichen Überlegung zu der Frage, die uns an diesem Morgen zusammenführt.

Denn Gottes Segen und erst recht der Kampf darum gilt heute als ein abwegiges Thema. Der Segen der Technik bestimmt die Schlagzeilen, nicht der Segen Gottes. Der Fortschritt der Wissenschaft ist wichtig, nicht der Fortschritt der Gotteserkenntnis. Wir glauben, in einer säkularen Gesellschaft zu leben. Darunter verstehen wir eine Gesellschaft, in der man sich einrichtet, als ob es Gott nicht gäbe. Nicht dass wir von dem Segen des allmächtigen Gottes abhängen, wollen wir glauben. Sondern wir lassen uns glauben machen, dass die allmächtige Technik uns schon den erhofften Segen bringen wird. Wo der Glaube an den Fortschritt herrscht, ist der Segen Gottes kein Thema.

Monat für Monat tagt hier am Gendarmenmarkt der Nationale Ethikrat. Monat für Monat treffen sich an diesem wunderbaren Platz Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die über die Bedeutung der Lebenswissenschaften für unsere Gesellschaft beraten. Biotechnik, Gentechnologie, Reproduktionsmedizin – so heißen die Themen. Über die Forschung mit embryonalen Stammzellen oder über genetische Diagnostik schon vor der Implantation eines künstlich erzeugten Embryos wird gestritten. Dürfen Menschen geklont werden – wenigstens für therapeutische Zwecke? So wird dann gefragt. Nur wenige Schritte von dieser Bühne entfernt sitze auch ich an solchen Tagen unter den Mitgliedern des Nationalen Ethikrats. Einem Teil von ihnen geht es darum, die Bahn frei zu räumen für die nächsten Schritte wissenschaftlicher Erkenntnis, für den Gebrauch der neusten Technologien im Dienst menschlicher Freiheit, für die Quantensprünge in den Möglichkeiten heilenden Handelns. Von der Forschung an menschlichen Stammzellen, vom therapeutischen Klonen oder von anderen wissenschaftlichen Entwicklungen werden solche neuen Heilungsmöglichkeiten erhofft.

Ich teile solche Hoffnungen. Gegen den wissenschaftlichen Fortschritt als solchen habe ich nichts einzuwenden. Wie gut wäre es, wenn Krankheiten geheilt werden könnten, gegen die bisher noch kein Kraut gewachsen ist: Alzheimer oder Parkinson, SARS oder AIDS, Krebs oder Malaria. Mit staunenden Augen verfolge ich, wenn Mikrobiologen mir zeigen, was sich in ihren Mikroskopen entdecken lässt und wozu sie mit ihren subtilen Geräten fähig sind.

Doch es macht mich unglücklich, wenn ich den Eindruck gewinne, dass wir Menschen uns bei solchem Handeln nicht mehr als Teil von Gottes guter Schöpfung sehen, sondern uns selbst zu Herren der Schöpfung machen wollen. „Lasst uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei“ - diese Aussage aus dem biblischen Schöpfungsbericht wird dann nicht mehr auf das Schöpferhandeln Gottes bezogen, sie wird vielmehr auf den Menschen gemünzt. Er selbst will seinesgleichen hervorbringen. Selbst will er den Segen erringen. Auf der Suche nach dem allmächtigen Gott begegnet er nur noch sich selbst, dem vermeintlich allmächtigen Menschen. Für sich selbst nimmt er göttliche Vollkommenheit in Anspruch; so verliert er das menschliche Maß. Wir sind dabei, uns zu überheben. Was Segen sein kann, wird dann zum Fluch.

Säkulare Gesellschaft? Voraussetzungslose Wissenschaft? Angesichts der großen Debatten über unser Bild vom Menschen, über unseren Umgang mit Gesundheit und Krankheit oder über die technische Reproduktion menschlichen Lebens kommen mir solche Konzepte oberflächlich vor. Wenn wir darüber streiten, welche Zukunft erstrebenswert ist und was wir von der Wissenschaft erwarten, ist immer die Frage nach Gott im Spiel. „Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott“, hat Martin Luther gesagt. Nur noch an der Oberfläche wird darum gestritten, ob wir die Welt religiös oder säkular verstehen. Im Kern aber geht es um die Frage, ob wir die Allmacht für den Menschen in Anspruch nehmen oder Gottes Allmacht anerkennen. Die Auseinandersetzung geht darum, ob wir uns selbst den Segen abringen oder ob wir ihn von Gott erwarten. „Ihr sollt ein Segen sein“? So selbstverständlich ist das nicht. Darüber gibt es vielmehr Streit.

III.
Von einem, der Gott den Segen abringen will, hören wir an diesem Morgen. Jakob tritt auf den Gendarmenmarkt. Nicht „Jakob der Lügner“, von dem Jurek Becker erzählt, wie er durch seine Lügen das Grauen des Ghettos erträglich machte, sondern „Jakob der Betrüger“. In biblische Urzeiten werden wir zurückgeführt Zu den Erzvätern des Volkes Israel gehört dieser Jakob, zu den Gründergestalten des Volkes Israel. Von eigentümlicher Dynamik ist seine Geschichte. Auf einen Abschnitt aus dieser Geschichte wollen wir uns an diesem Morgen einlassen.  Im Programmheft des Kirchentags finden Sie diese Geschichte auf S. 38.

„Und Jakob stand auf in der Nacht und nahm seine beiden Frauen und die beiden Mägde und seine elf Söhne und zog an die Furt des Jabbok, nahm sie und führte sie über das Wasser, so dass hinüberkam, was er hatte, und blieb allein zurück. Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. Und als er sah, dass er ihn nicht übermochte, schlug er ihn auf das Gelenk seiner Hüfte, und das Gelenk der Hüfte Jakobs wurde über dem Ringen mit ihm verrenkt. Und er sprach: Lass mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber Jakob antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. Er sprach: Wie heißest du: Er antwortete: Jakob. Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen. Und Jakob fragte ihn und sprach: Sage doch, wie heißest du? Er aber sprach: Warum fragst du, wie ich heiße? Und er segnete ihn daselbst. Und Jakob nannte die Stätte Pnuel; denn, sprach er, ich habe Gott von Angesicht gesehen, und doch wurde mein Leben gerettet. Und als er an Pnuel vorüberkam, ging ihm die Sonne auf; und er hinkte an seiner Hüfte. Daher essen die Israeliten nicht das Muskelstück auf dem Gelenk der Hüfte bis auf den heutigen Tag, weil er auf den Muskel am Gelenk der Hüfte Jakobs geschlagen hatte.“

Lied Nr. 15: Sei du bei uns Gott /Burden down, Lord

IV.
Jakobs Lebensgeschichte gehört zu den dramatischen Biographien der Bibel. Sie ist reich an Überraschungen, eindringlich und bildkräftig zugleich. Jakob ist Isaaks Sohn und der Zwillingsbruder Esaus. Den Kampf mit seinem älteren Bruder beginnt er schon im Leib seiner Mutter Rebekka. An der Ferse des älteren Bruders hält er sich fest und kommt so zur Welt; der „Fersenhalter“ wird er deshalb genannt. Von Jakob, dem Listenreichen, wird erzählt, wie er für ein Linsengericht das Erstgeburtsrecht erwirbt und sich mit Hilfe der Mutter Rebekka den väterlichen Sterbesegen erschleicht: mit Tierfell täuscht er die behaarte Haut seines Bruders vor, so dass der im Alter blind gewordene Isaak den Falschen segnet. Jakob, der arme Flüchtling, tritt uns vor Augen, der den erschlichenen Sterbesegen in die Fremde rettet und bei Laban sieben Jahre um die schöne Rahel dient, die er zur Frau haben will. In der Hochzeitsnacht wird ihm jedoch deren hässliche Schwester Lea ins Bett geschmuggelt; sieben weitere Jahre kostet ihn die Liebe zu der schönen Rahel. Der Schriftsteller Thomas Mann hat von Jakob gesagt, er habe überhaupt nur zwei Leidenschaften gehabt: Gott und Rahel. Insgesamt 21 Jahre hat er in der Fremde zugebracht, bis er mit den beiden Frauen, zwei Nebenfrauen und zwölf Kindern den Weg zurück in die Heimat antreten kann. Wohlhabend ist er in der Fremde geworden; viele Listen hat er dafür aufgewandt. Der Jüngste ist er nicht mehr, als er endlich in das Land seiner Väter zurückkehrt.

Dass ein solcher Betrüger in der Geschichte Gottes mit seinem Volk eine herausragende Rolle spielt, ist erstaunlich. Aber tröstlich ist es auch. Wenn es für so einen Betrüger Segen gibt, dann vielleicht ja auch für uns. Jedenfalls liegt es nicht an ihm und seinen Verdiensten vor Gott; es liegt an Gottes Beziehung zu ihm. Diese Gottesbeziehung nimmt in zwei nächtlichen Geschehnissen Gestalt an, in einem Traum und in einem Kampf. Die eine Gotteserfahrung steht am Anfang, die andere am Ende seiner großen Wanderschaft.

Auf dem Weg in die Fremde nach Haran am oberen Euphrat, wo sein Onkel Laban lebt, unterbricht der junge Jakob die Reise zur Nacht und legt seinen Kopf auf einen merkwürdigen, offenbar an diesem Ort geheiligten Stein. Im Traum sieht er eine von der Erde bis zum Himmel reichende Leiter, auf der die Engel auf- und niedersteigen. Dies ist also ein Ort, an dem der Himmel offen steht. Als er erwacht, richtet Jakob den Stein, auf dem er schlief, auf, gießt Öl darüber und nennt den Ort Gotteshaus, Beth-El.

Jahrzehnte später, auf dem Weg aus der Fremde zurück, erhält Jakob die Nachricht, Esau komme ihm mit einer Schar Bewaffneter entgegen. Verständlicherweise gerät er in Unruhe. Als Zeichen der Versöhnung sendet er dem Bruder kostbare Geschenke entgegen. Doch Frieden findet er dadurch nicht. Das Drama spitzt sich zu. In der Nacht sucht er Klarheit an der Furt des Jabbok. Der Fluss wird ihm zum Ort der Gottesbegegnung. Pnu-El, Angesicht Gottes nennt er diesen Ort. Denn er ist davon überzeugt: Ich habe Gott gesehen.

Wem ist Jakob denn in diesem Kampf wirklich begegnet? Lässt sich seine Behauptung, er habe Gott gesehen, nachvollziehen? Prügelt Gott? So fragen unbefangene Hörer dieser Geschichte. Anfangs scheint Jakob nicht zu wissen, mit wem er es zu tun bekommt. Die urtümliche Macht einer alten Flussgottheit mag vor seinen Augen erstehen. Es ist ein Kampf gegen Unbekannt. Als einen Engel hat schon die Bibel selbst den „Mann“ gedeutet, mit dem er kämpft. „Er kämpfte mit dem Engel und siegte, er weinte und bat ihn“, heißt es beim Propheten Hosea (12, 5). Man hat sich diesen Engel als einen Gottesboten vorgestellt, der vor Morgengrauen wieder in seine himmlische Behausung zurückkehren muss, um Gottes Lob zu singen. Aber Jakob lässt ihn nicht los; er will sich den Segen des Unbekannten ertrotzen.

Immer wieder setzt das Alte Testament solche Gottesboten mit Gott selbst gleich. Genauso wie er von einem Kampf mit dem Engel spricht, kann der Prophet Hosea deshalb von Jakob auch sagen: „Er hat im Mannesalter mit Gott gekämpft“ (Hosea 12, 4). Die uns so nahe liegende Frage, ob er nun einem Engel oder Gott selbst begegnet sei, führt aus einer solchen Sicht in die Irre. Gott ist er begegnet, wenn auch in der Gestalt eines Engels, eines Mannes, mit dem er kämpfen konnte wie von gleich zu gleich. Ja er kann ihn sogar festhalten, bis er ihn segnet und ihm einen neuen Namen gibt. „Israel“ soll er nun heißen, der „Gotteskämpfer“. Er, der sich einst den Segen seines Vaters erschlich, ertrotzt sich nun den Segen Gottes: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“ Sein Kampf ist erfolgreich. So wird aus dem Betrüger ein Hoffnungsträger. Das auserwählte Volk hat von ihm seinen Namen. Israel, nicht Jakob heißt er jetzt. Er bleibt nicht festgelegt auf seine Vergangenheit; Zukunft leuchtet in sein Leben.

Lied Nr. 29: „Ich lasse dich nicht“

V.
Auf Versöhnung ist Jakob angewiesen. Er kann in seiner Heimat überhaupt nur dann Fuß fassen, wenn die Versöhnung mit seinem Bruder Esau gelingt. Das Recht liegt ganz auf der Seite des Bruders; das weiß er – denn das Erstgeburtsrecht und den Sterbesegen des Vaters: beides hat er erschlichen. Mit seinen beiden Frauen Lea und Rahel, mit ihren Sklavinnen Bilha und Silpa, mit den elf Söhnen dieser vier Frauen und mit der einzigen, in unserem Text nicht einmal erwähnten Tochter Dina, Leas siebtem Kind, ist er unterwegs. Den Spaltfluss Jabbok muss er überwinden, der fast genauso heißt wie er selbst – wie Jakob. Eine gefährliche Furt überwindet man normalerweise am Tag; diesmal aber geschieht es bei Nacht. Das ist schon die entscheidende Bewährungsprobe. Aber Jakob bleibt zurück, er kommt erst nach. Allein besteht er den Kampf. Und er geht beschädigt aus ihm hervor. Eine lahme Hüfte bringt er aus dieser Nacht mit.

Die Hüfte, so können wir sagen, wird ihm ausgerenkt, damit seine Geschichte eingerenkt wird. Dafür begegnet ihm ein „Engel der Geschichte“, ein Engel seiner Geschichte. Gemäß jüdischer Vorstellung schaut ein solcher Engel in die Vergangenheit, die Zukunft hat er im Rücken. So auch dieser Engel: Er hat Jakobs Vergangenheit vor Augen; er kämpft mit ihm um diese Vergangenheit, weil sich nur so der Weg in die Zukunft öffnen kann. Dieser Engel macht ihn lahm, weil er nur so gehen kann. Er lässt ihn hinken, damit er seinem Bruder aufrecht entgegentreten kann. Gezeichnet ist der Gesegnete. Erkennbar ist er, weil er hinkt.

Soll das wirklich ein Segen sein? Ein gesegnetes neues Lebensjahr wünschen wir einem Jubilar und er antwortet: Hauptsache gesund. So sehr sind wir auf die Gesundheit fixiert, dass wir in jemandem, der hinkt, einen Gezeichneten, nicht einen Gesegneten sehen. Freut man sich mit einer Schwangeren über das sichtbar in ihrem Leib wachsende Kind und fragt, ob sie sich einen Jungen oder ein Mädchen wünscht, kann man leicht die Antwort erhalten: Hauptsache, es ist gesund.

Gesundheit ist ein hohes Gut, und der Wunsch danach ist legitim. Aber auch Gesundheit kann man zum Fetisch machen. Das geschieht, wenn Segen mit Gesundheit gleichgesetzt wird. Was ist dann mit den Behinderten, den langfristig Kranken, denen, die auf den Tod daniederliegen? Sind sie vom Segen ausgeschlossen? Wenn man uns Heutige reden hört, kann man das denken. Aber so zu reden, ist unbarmherzig und gedankenlos. Daraus kann Jakobs Geschichte uns aufrütteln. Über Jahrzehnte hat er alles angesammelt, was sich an Wohlstand nur denken lässt. Trickreich hat er seine Herde vermehrt; mit vier Frauen hatte er zwölf Kinder gezeugt. Unmengen seines Besitzes kann er als Geschenk für seinen Bruder vorausschicken. Aber am Fluss Jabbok merkt er, dass ihm das Entscheidende fehlt: der Segen. „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“ Zur Antwort wird er lahm geschlagen – und ausgerechnet jetzt ist er gesegnet.

Der hinkende Jakob löst am nächsten Tag bei seinem Bruder Tränen aus. Beide weinen sie. Das ist der Segen. Versöhnung – so heißt sein Name. Diese Versöhnung ist nur möglich, weil auch der Starke Schwäche zulässt. Genauer: Er wird dazu gezwungen; denn seine Schwäche ist unübersehbar. Erst in seiner Schwäche wird der Starke zum Segen. Keiner soll denken, er sei schon deshalb ein Segen, weil ihm alles gelingt. Nur wo freier Raum ist, in dem sich auch andere entfalten können, entsteht Segen.

Jakob hat scheinbar alles; doch ihm fehlt der Segen. Mit Frauen und Kindern über alle Maßen gesegnet, ist er in Wahrheit segenslos. Der erfolgreiche Heimkehrer, bepackt und umgeben von einem Reichtum, der einen schwindeln lässt, ringt um Segen. Sein sichtbarer Wohlstand verbürgt diesen Segen nicht. Er weiß: Noch in derselben Nacht kann ihm das alles genommen werden. Jesus verdeutlicht das einmal am Beispiel eines reichen Mannes, der Scheunen für seine Ernte baut und darüber vergisst, dass ihm in der nächsten Nacht das Leben abverlangt werden kann (Lukas 12, 16-21). Jakob erfährt es in diesem Kampf, in einem Kampf auf Leben und Tod. Hinkend und schutzlos entkommt er. Hinkend und schutzlos geht er am nächsten Tag seinem Bruder Esau entgegen. Nichts anderes bringt er in diesem Augenblick mit als offene Arme und Tränen in den Augen. Da spüren beide den Segen. Sie weinen, sie schließen sich in die Arme, sie sind versöhnt. Das ist Segen. Auch die Reichtümer, die Jakob mitgebracht hat, können nun zum Segen werden. „Nimm meinen Segen“, sagt Jakob zu Esau; und er nimmt ihn (1. Mose 33,  11). Der Segen ist weder allein Jakobs noch allein Esaus Segen. Der Streit um den erschlichenen Segen kommt erst im gemeinsamen und geteilten Segen an ein Ende.

Die Versöhnung der getrennten Brüder ist ein Symbol für den Segen überhaupt. Die Unversöhnlichkeit von Brüdern kann scheinbar übermächtig sein. Die Bibel gibt dafür viele Beispiele. Der erste Mord, von dem die biblische Urgeschichte berichtet, ist ein Brudermord: Kain und Abel. Joseph und seine Brüder sind tief zerstritten. Wenn Jesus das Gleichnis vom verlorenen Sohn erzählt, ist es im Kern zugleich ein Gleichnis vom verlorenen Bruder. Auch Brüder im Glauben können sich trennen. Von Paulus und Barnabas beispielsweise heißt es: Sie „gerieten scharf aneinander, so dass sie sich trennten“ (Apostelgeschichte 15, 39). Auch die Kirchen haben sich getrennt, unversöhnlich wie zerstrittene Brüder. Reich und arm trennen sich heute. Globalisierung ist dafür der verschleiernde Name.

Im Spiegel solcher Beispiele können die Kirchen ihre Lage erkennen. Sie sind wie zerstrittene Geschwister. Unsere Kirchen sind aus der Konfessionsspaltung hervorgegangen. Aber wir können den Jabbok überschreiten. Wir können aus dem Beispiel von Jakob und Esau lernen. Versöhnung zwischen den getrennten Geschwistern ist möglich, wenn sie sich für Gottes Segen öffnen. Versöhnung ist möglich, wenn wir auch unsere Schwächen eingestehen und nicht nur mit unseren Stärken prahlen. Wir können die Tränen der Versöhnung zulassen – auch in den Kirchen. Dann öffnet sich der Weg – sogar zur gemeinsamen Feier an dem Tisch des einen Herrn.

Denn Segen gibt es nur gemeinsam. Segen kann keiner für sich reservieren. Er bleibt nur, wenn wir ihn teilen. Insofern ist Segen das genaue Gegenteil zu der Art, in der wir unseren Wohlstand verstehen. Segen soll umso sicherer sein, je mehr wir haben. Als gesegnet betrachten wir uns, wenn wir über andere hinwegschauen können. Größer und reicher, darauf kommt es an. Doch diese Art von Wettbewerb ist kein Segen, sondern ein Fluch. Sogar ganze Nationen verwechseln das Streben nach eigener Überlegenheit mit dem Segen Gottes. „Gott mit uns“  hieß die Parole des 20. Jahrhunderts Diese Parole trugen deutsche Soldaten in den beiden Weltkriegen sogar als Inschrift auf ihrem Koppelschloss. So wurde der eine und einzige Gott zu einem Gott der Deutschen, der Franzosen, der Engländer. Das war ein Bankrott der Christenheit. Wann endlich kommen wir aus diesem Bankrott heraus? Jesus jedenfalls hat nicht die Sieger selig gepriesen.

Noch immer stehen wir im Bann dieses Bankrotts. „God bless America“ rief der amerikanische Präsident aus, als er den Krieg gegen den Irak proklamierte. Und der amerikanische Kongress forderte sogar einen nationalen Gebetstag, an dem um Gottes Segen für die amerikanischen Soldaten und ihre Waffen gebetet werden sollte. Doch mit Gottes Segen hat das nichts zu tun. Keine Nation kann ihn für sich reservieren. Kein Mensch kann Gottes Segen gegen andere ausspielen. Gott will alle Menschen in seinen Segen einbeziehen, Frauen wie Männer, Junge wie Alte, Arme wie Reiche, Irakis wie Amerikaner. Gottes Segen wird verspielt, wenn die einen ihn für sich behalten und den anderen wegnehmen wollen.

Jesus hat in solchen Konflikten Partei ergriffen. Die Unglücklichen hat er selig gesprochen, nicht die Glücklichen. Den Armen hat er das Reich Gottes zugesagt, nicht den Wohlhabenden. Unausweichlich sind wir damit bei der Frage nach der sozialen Gerechtigkeit. Auch sie ist heute ein Prüfstein dafür, wie es um den gemeinsamen, den geteilten Segen steht.

Ein funktionierender Sozialstaat kann ein Segen sein. Wer einmal Länder erlebt hat, die weder sozialstaatliche Regelungen kennen noch über die dafür nötige Wirtschaftskraft verfügen, weiß zu schätzen, dass beides bei uns vorhanden ist. Ein soziales Netz für alle, verlässliche Hilfe für Kranke und Pflegebedürftige und eine gesicherte Altersversorgung sind ein hohes Gut. Was ist nötig, damit das Netz auch in der nächsten Generation noch hält? Schon Jakob wusste: Kinder müssen geboren werden, wenn die Alten sich nicht vor der Zukunft fürchten sollen. Heute heißt das: Kinderfreundlichkeit darf keine Sprechblase sein. Und niemand sollte sich schämen müssen, wenn er sich über Kinder freut. So verdreht ist unsere Gesellschaft, dass man etwas so Einfaches ausdrücklich sagen muss.

Was ist nötig, damit das soziale Netz nicht reißt? Viele Debatten dieser Tage empfinde ich als unaufrichtig. Die Reform des Sozialstaats wird gefordert, aber dem eigenen Geldbeutel soll sie nicht wehtun. Wer sich jedoch im Besitzstandsdenken einigelt, verspielt die Zukunft. Oft sind es dieselben, die eine Senkung der Lohnkosten verlangen, aber die eigenen Gehälter kräftig steigern. Wer als Manager schwere Fehler macht, kann unter Umständen mit einem goldenen Handschlag in Millionenhöhe rechnen. Wer dagegen nach dreißig Jahren normaler Berufstätigkeit seine Arbeit verliert, steht ohne Perspektive da. Deshalb wirkt die Ankündigung, ältere Arbeitslose sollten ein kürzeres Arbeitslosengeld bekommen, auf viele wie blanker Hohn. Denn über die einzige ernsthafte Voraussetzung dafür wird nichts gesagt: Dass sie schneller wieder Arbeit finden. Der Sozialstaat wird gesichert, wenn mehr Gerechtigkeit herrscht, nicht weniger. Das Besitzstandsdenken lässt sich nur überwinden, wenn niemand fürchten muss, dass seine Bereitschaft zum Verzicht zur Umverteilung von unten nach oben genutzt wird. Den richtigen Weg beschreibt ein altes biblisches Bild. Gerechtigkeit und Frieden sollen sich küssen, sagt dieses Bild. Auch soziale Gerechtigkeit und sozialer Frieden brauchen einen solchen Kuss, gerade heute, gerade in unserem Land.

Lied Nr. 10. Dem Gott, der alles Leben gibt

VI.
„Und als er an Pnuel vorüberkam, ging ihm die Sonne auf.“ Alles erscheint in einem neuen Licht. Frei von der Last seiner Vergangenheit kann Jakob den Fluss überqueren. Waffenlos geht er seinem Bruder entgegen. Und der nimmt ihn als Freund auf, nicht als Feind. Jakob kommt wirklich nach Hause.

„Und als er an Pnuel vorüberkam, ging ihm die Sonne auf.“  Das ist, wie der Berliner Theologe Ernst Lange einmal gesagt hat, einer der „strahlendsten und schönsten Sätze, die überhaupt in der Bibel stehen.“  Wenn Gott uns begegnet, vernichtet er uns nicht, sondern lässt uns leben. Auch wenn wir in furchtbarem Geschehen Gottes Nähe spüren, in persönlichem Leiden oder in öffentlichen Erschütterungen, ist er nicht irgendein bösartiger Dämon. Es ist Gott, mit dem wir dann ringen. Dorothee Sölle hat in ihrer Beschäftigung mit der Jakobsgeschichte darum geworben, dass auch Menschen, die mit Krankheiten geschlagen sind, mit Krankheiten des Körpers, des Geistes oder der Seele, nicht denken mögen, es sei ein Dämon, der sie schlägt, sondern sich darauf einlassen, dass selbst dann der lebendige Gott in ihrer Nähe ist. Dann ringen sie mit Gott, dass er Gott sei. Das ist der Sinn des Gebets. Auch Jakob ahnt, dass es Gott selbst ist, mit dessen Nähe er in der unmittelbaren Todesgefahr zu tun bekommt. Er ist es auch nahe, wenn Jesus den Tod vor Augen hat. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Jesu Gebetsruf am Kreuz ist ein Bekenntnis zu Gottes Nähe. Denn er lässt zu, dass Judas, Kaiphas, Pilatus oder wie sie heißen ihre Bosheit austoben. Er schneidet das Böse nicht aus der Welt; der 11. September wie Tyrannei und Krieg im Irak haben es uns wieder gezeigt. Aber wir brauchen nicht daran irre zu werden, dass Gott „auch aus dem Bösesten Gutes entstehen lassen kann und will“ (D. Bonhoeffer).

In Berlin haben wir Bosheit und Menschenverachtung auf besondere Weise erlebt. An den 17. Juni 1953 werden wir hier in wenigen Wochen erinnern, an den Volksaufstand, der vor fünfzig Jahren brutal niedergeschlagen wurde. Die Spuren der Berliner Mauer sind in dieser Stadt noch immer zu sehen, die Familien auseinanderriss und viele Menschen das Leben kostete.

Aber wir wissen heute und bekennen es: Gott hat uns nicht allein gelassen. Er will nicht unseren Tod, sondern unser Leben. Wenn wir an Gott festhalten, dann dürfen wir auch in der Gewissheit leben, dass wir an unserem Pnuel vorübergehen – und die Sonne geht uns auf. Dorothee Sölle hat das so gesagt: „Gott überfällt uns ja nicht weniger, als er den Jakob überfällt. Im Gebet stellen wir uns dem, der uns überfällt. Wir sind nackt, wir haben das, was uns schützen könnte, weggeschickt. Lasst Euch von Gott überfallen, denkt doch nicht, der Jabbok liegt weit weg und in Soweto leben andere Kinder, nicht meine. Es spricht alles dafür, mit Gott für Gott zu kämpfen, dass Gott sichtbar werde, dass Gottes Sonne auch uns aufgehe und wir einen neuen Namen bekommen.“

Um dieses Licht Gottes bitten wir: Lass dein Licht leuchten!

Liederzeitung Nr. 12: Lass dein Licht leuchten

VII.
Jede von uns hat einen Engel. So heißt Dorothee Sölles Gebet zu der Bewegung zwischen Jakob und dem Unbekannten, Jakob und dem Engel, Jakob und Gott. Dieses Gebet findet sich in der Liederzeitung als Nr. 20. Wir sprechen dieses Gebet von Dorothee Sölle gemeinsam:

Jede von uns hat einen engel
lass uns ihn erkennen
auch wenn er als blutgieriger dämon kommt
jeder von uns hat einen engel
der auf uns wartet
lass uns nicht vorbeirasen am jabbok
und die Furt versäumen

Auf uns wartet ein engel

Jeder von uns kämpft mit gott
lass uns dazu stehen
auch wenn wir geschlagen werden
und verrenkt
jede von uns kämpft um gott
der darauf wartet
gebraucht zu werden

Auf uns wartet ein kampf

Jeder von uns wird gesegnet
lass uns daran glauben
auch wenn wir aufgeben wollen
gib uns die Dreistigkeit mehr zu verlangen
mach uns hungrig nach dir
lehr uns beten: ich lass dich nicht
das kann doch nicht alles sein

Auf uns wartet ein segen

Jeder von uns hat einen geheimen namen
er ist in gottes hände geschrieben
die uns lieben lesen ihn
eines Tages wird man uns nennen
land der Versöhnung
bank die ihren Schuldnern vergibt
brunnenbauerin in der wüste

Auf uns wartet gottes name

(Aus: Dorothee Sölle, zivil und ungehorsam, 2001)

Lied Nr. 26: Gott hat mir längst einen Engel gesandt