Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn aus dem Jahr 1965

V. Theologische und ethische Erwägungen

Die theologische Auseinandersetzung über Fragen des Heimatrechts und der deutschen Ostgrenzen unterscheidet sich in einer bemerkenswerten Weise von den völkerrechtlichen Beiträgen. Auch in der Rechtsdiskussion treten unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich der Rechtslage, der Möglichkeiten einer künftigen Rechtsentwicklung und der rechtlichen Relevanz sittlicher und politischer Postulate klar zutage. Aber es herrscht doch ein breiter Konsens in der Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Völkerrechts. Dieses konstatiert die begangenen Rechtsverstöße, es klärt die gegenwärtige Rechtslage und bietet Formen und Kriterien für die künftige Friedensordnung zwischen den Völkern. Die konkrete Gestalt dieser Ordnung aber ergibt sich aus einer Fülle weiterer Faktoren.

Die theologische Diskussion drängt über eine derartige Teilfunktion hinaus dazu, die politischen Entscheidungen in weitem Umfang vorweg festzulegen. Wesentliche Teilnehmer am theologischen Gespräch suchen auf diese Weise, freilich mit unterschiedlichen oder gar entgegengesetzten Ergebnissen, den vom Völkerrecht freigelassenen Raum mit theologisch verbindlichen Sätzen auszufüllen. Dabei scheinen sich nicht selten theologischer Gewissensernst und politische Leidenschaften miteinander zu verbinden, so wie sich auch theologische Argumente mit politischen Wünschen und Auffassungen mischen. Die Forderung nach nüchterner Beschränkung gilt deshalb vornehmlich auch für die theologische Auseinandersetzung. Eine theologische Überlegung kann für die menschliche und politische Seite des Fragenkomplexes der deutschen Ostgrenzen nur dann einen wirksamen Beitrag leisten, wenn sie sich zuvor um einen möglichst großen Kern gemeinsamer Überzeugungen bemüht hat. Daraus folgt aber mit Notwendigkeit, daß die Kirche sich im Streit politischer Meinungen zurückzuhalten hat und sich auf solche Aussagen beschränken sollte, die mit theologischer und ethischer Verbindlichkeit gemacht werden können und müssen.

So erweisen sich Fragen der deutschen Ostpolitik als aktueller Anwendungsfall einer theologisch bestimmten politischen Ethik. Daher ist es nicht verwunderlich, daß die Auseinandersetzung darüber wieder zu dem Prinzipienstreit zurückgelenkt hat, der in der evangelischen Theologie zu Fragen der politischen Ethik in den letzten eineinhalb Jahrzehnten geführt worden ist. Auf der einen Seite standen dabei die Theologen, die in ihr ethisches Denken die von der Sünde bestimmte Wirklichkeit dieser Welt von vornherein stärker einbeziehen möchten. Für sie gehören Strukturformen des gefallenen Daseins in dieser Welt zu den von Gott gegebenen Erhaltungs- oder Notordnungen; ihre Beachtung soll die Macht der Sünde eindämmen und die Entscheidung in jedem konkreten Einzelfall leiten. Auf der anderen Seite bestritt man die Möglichkeit, die sittliche Entscheidung an vorgegebenen Ordnungsprinzipien oder unwandelbaren Seinsverhältnissen der Welt zu orientieren. Wo man das tut, entstehen nach dieser Auffassung Lücken, Räume von immanenten Eigengesetzlichkeiten sittlicher Entscheidungen; in sie kann dann der Mensch ausweichen und sich so einer vollen Gehorsamsleistung gegen die Herrschaft und den Anspruch Jesu Christi, die täglich immer wieder neu erfaßt werden müssen, entziehen; die Predigt des konkreten christlichen Gehorsams müsse an die Stelle der Suche nach einem festen Normensystem treten.

Die jeweils charakteristischen Haltungen dieser beiden miteinander im Streit liegenden Gruppen treten noch einmal gleichsam spiegelbildlich hervor, wenn man auf die gegenseitigen Kritiken hört. Wer die Gestalt menschlichen Zusammenlebens mehr an festen Strukturverhältnissen orientieren möchte, setzt sich dem Vorwurf aus, er verfalle gegenüber der Aufgabe der Welt- und Lebensgestaltung einer Ethik der Resignation; eine solche Ethik lasse die Welt so, wie sie nun einmal sei; sie verzichte darauf, Kräfte der Versöhnung aus der Mitte des christlichen Glaubens an die Weltaufgabe zu setzen; sie rechtfertige die eigene Passivität noch dazu mit der Berufung auf den göttlichen Willen. Die zweite Gruppe nun begegnet dem Vorwurf, sie vertrete ohne klare Kriterien eine an den jeweiligen Erfordernissen der Situation orientierte Ethik, die auf diese Weise den Eindruck des Willkürlichen erwecke; der hier vertretene Gehorsamsoptimismus könne nicht bis zu Ende durchgehalten werden, sondern müsse an der Gebrochenheit menschlichen Handelns unter der herrschenden Macht der Sünde scheitern; die vermeintliche Verankerung der sittlichen und politischen Entscheidung im Zentrum des Glaubens Lasse auch keinen ausreichenden Spielraum mehr für unterschiedliche Auffassungen innerhalb der christlichen Gemeinde.

Dieser ethische Prinzipienstreit, an den sich zu erinnern in unserem Zusammenhang nützlich erscheint, ist besonders leidenschaftlich an der Atomwaffenfrage ausgetragen worden. Aber gerade dieser Streit ist nicht ganz ohne gemeinsames Ergebnis geblieben. Wenn auch die jeweils charakteristischen Merkmale beider Positionen erhalten geblieben sind, so konnte doch schließlich keine Seite mehr die Wahrheitsmomente der anderen verkennen. Damit waren die Fronten im ethischen Prinzipienstreit in der Weise neu in Bewegung geraten, daß eine größere Offenheit für die ethische Entscheidung in der konkreten Situation und damit der dynamische Grundcharakter evangelischer Ethik stärker in Erscheinung traten. Die jetzt herrschende Auseinandersetzung über Fragen des Heimatrechts und der deutschen Ostgrenzen mutet wie eine Rückkehr zu den alten Frontstellungen an. Das wird an einigen konkreten Teilaspekten noch hervortreten. Die Erfahrungen im Atomwaffenstreit nötigen aber dazu, einer Verabsolutierung von Wahrheitsmomenten zu widersprechen und die ethische Erwägung vor einem lebensfremden Doktrinarismus zu bewahren.

1. Zunächst ist zu fragen, ob biblisch-theologisches Bedenken der Heimatfrage es zuläßt, von der Heimat als einem dem Menschen schöpfungsmäßig zugehörigen geschichtlichen und gesellschaftlichen Raum zu sprechen und jedem einzelnen ein unabdingbares Recht auf seine ihm ursprüngliche Heimat zuzuerkennen. Viele Äußerungen kirchlich-theologischer Art lassen sich nur in diesem Sinne einer naturrechtlich-seinsmäßigen Denkweise verstehen. Der gewaltsame Verlust der Heimat löst danach die mit theologischer Verbindlichkeit versehene Forderung nach Wiederherstellung des alten Rechtszustandes und nach Rückführung in die alte Heimat aus.

Ohne Zweifel gehört die irdische Heimat zu den Gaben, mit denen Gott die Menschen ihr Leben in einer möglichst guten Ordnung der Welt führen lassen will. Die Heimat ist also zu den Gütern zu rechnen, die der Schöpfer dem Geschöpf in das Leben mitgibt und um die wir nach der Auslegung Martin Luthers mit beten, wenn wir in der vierten Bitte des Vaterunsers sprechen: „Unser täglich Brot gib uns heute.“ Menschenwürdiges Leben ist ohne die Inhalte und Beziehungen, die Werte und Verpflichtungen, die man üblicherweise mit dem freilich nicht leicht zu umschreibenden Begriff Heimat verbindet, schwerlich vorstellbar.

Doch ist schon aus Vernunft und Lebenserfahrung einer Übersteigerung zu widerraten, die die Heimat in den Rang eines höchsten Lebenswertes erhebt und ihr einen pseudoreligiösen Charakter verleiht. Die Heimat gehört zu den Elementen des Lebens, die in Verantwortung zu gebrauchen und zu gestalten sind. Diese Verantwortung schließt auch die Möglichkeit einer Entscheidung gegen die Heimat und einer Lösung von ihr nicht aus. Eine Überhöhung des Heimatverständnisses entspricht in der mobilen Gesellschaft von heute weithin nicht mehr der Lebenswirklichkeit; erst recht bedeutet sie eine Unbarmherzigkeit gegenüber den Menschen, die fern von ihrer Heimat leben müssen, ohne Vertriebene im engeren Sinne zu sein. Ein falsches Heimatverständnis kann schließlich Vertriebene und Flüchtlinge daran hindern, nach dem Verlust der Heimat sich ohne Resignation den neuen Aufgaben ihres Lebens zuzuwenden, und sich damit auch ihnen gegenüber als unbarmherzig erweisen.

Die Heimat unterscheidet sich als Gabe Gottes nicht von den anderen Gütern des irdischen Lebens. Die Bitte um sie rechnet mit der Freiheit Gottes, daß er sie gibt, wann und in welcher Gestalt er will. Gott ist nicht an das einmal gewährte Geschenk der Heimat gebunden. Im Urteil des Glaubens, das vom Geschichtshandeln Gottes weiß, hat Gott auch da seine Hand im Spiel, wo für das menschliche Urteil der Raub der Heimat mit Unrechtstaten der Menschen verbunden war. Er kann aus der alten Heimat herausführen und über die Heimatlosigkeit wieder eine neue Heimat schenken, die das irdische Leben sichert.

Alles christliche Reden von Heimat wäre unzulänglich und irreführend, wenn es nicht für die Erkenntnis offen und durchscheinend bliebe, daß dem Menschen in Jesus Christus das Vaterhaus Gottes verheißen und angeboten ist, in dem er für sein Leben Geborgenheit findet, die ihm keine irdische Heimat geben kann. „Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen“ (Matth. 6,33) - dieses Wort der Bergpredigt sorgt auch hier für eine rechte Rangordnung und ordnet die irdische Heimat dem Heilshandeln Gottes unter. Der Christ hat die Freiheit, aber auch die Aufgabe, eine letzte Distanz sowohl zur Heimat wie zur Heimatlosigkeit zu gewinnen. Diese Fremdlingschaft in der Welt erlaubt den freien Gebrauch ihrer Güter und schützt vor einer unerlaubten Überschätzung.

Die theologischen Elemente des Heimatbegriffes können nach allem nicht dazu dienen, ein unabdingbares Recht des Menschen auf seine, auf die Heimat zu begründen. Auch die mit dem Heimatrecht verbundenen politischen Ansprüche können sich auf theologische Begründungen zum Heimatverständnis nicht berufen. Der Glaube an Gott begründet ein solches Verhältnis zur Heimat, daß der Christ zum gehorsamen Gebrauch ihrer Güter ebenso in der Lage ist, wie er zum Verzicht auf sie bereit sein muß. Zu welcher Entscheidung es im konkreten Falle kommt, läßt sich aus dem Heimatverständnis als solchem und aus einem postulierten Recht auf Heimat nicht ableiten, sondern gehört in einen umfassenden Zusammenhang menschlicher und politischer Verantwortung.

2. Auch für diese größeren politischen Zusammenhänge, in die Frage des Heimatrechts hier hineingehört, sind einige theologische Erwägungen anzustellen. Sie betreffen die Grundbedingungen politischen Handelns und die Ziele politischer Entscheidungen. In unserem Zusammenhang geht es um Fragen einer politischen Neuordnung im Verhältnis zwischen den Völkern, namentlich zwischen Deutschland und seinen östlichen Nachbarn. Die hier anzustrebende internationale Friedensordnung ist ohne Wahrheit und Gerechtigkeit, ohne gegenseitige Berücksichtigung berechtigter Interessen und ohne den Willen zum Neuanfang auf der Grundlage der Versöhnung nicht denkbar. Die Arbeit daran gehört zu den menschlichen Bemühungen überhaupt, das Leben in einer möglichst guten Ordnung zu führen. Die Theologie bejaht die Möglichkeit, eine solche Ordnung zu gestalten. Aber es muß sogleich hinzugefügt werden, daß evangelische Ethik keine in sich ruhende unveränderliche Ordnung für diese Welt kennt. Wir haben es immer mit geschichtlichen Ordnungen zu tun, nicht aber mit Ordnungen, die der Welt von Natur in ewiger, unwandelbarer Gestalt vorgegeben sind. Es wird nur möglich sein, eine vorläufige verbesserungsbedürftige, einigermaßen erträgliche Ordnung für das menschliche Zusammenleben zu verwirklichen, die im Wandel der geschichtlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse immer wieder neu überprüft werden muß.

Ist man sich in diesen Grundlagen kirchlicher und theologischer Mitarbeit an politischen Fragen noch weitgehend einig, so hat ihre Anwendung auf Fragen des Heimatrechtes und der deutschen Ostpolitik tiefgebende Differenzen im theologischen Gespräch gezeigt, die geeignet sind, die Wirksamkeit kirchlicher Stellungnahmen zu politischen Fragen überhaupt zu beeinträchtigen. Diese Differenzen seien an zwei Thesenreihen der jüngsten Zeit erläutert. Aus ihrer Bewertung ergibt sich gleichzeitig eine Reihe von Gesichtspunkten, die die theologische Ethik für politisches Handeln in dem vorliegenden Fragenkomplex geltend machen muß.

a) Auf der einen Seite steht die aus kirchlichen Kreisen von Vertriebenen stammende Thesenreihe „Das Evangelium von Jesus Christus für die Heimatvertriebenen“ (veröffentlicht im Ostkirchen-Informationsdienst, Hannover, Januar 1965). Diese Thesen, kurz „Lübecker Thesen“ genannt, rücken die Frage des Rechtes für die politische Ordnung in den Mittelpunkt des speziellen kirchlichen Dienstes an den Vertriebenen. Die Tatsache, daß das Evangelium von Jesus Christus eine Botschaft des Friedens und der Versöhnung Gottes mit den Menschen sei, dürfe nicht so verstanden werden, „daß die Kirche oder eine Gruppe in ihr das Recht eines Teiles ihrer Brüder ohne Bedenken beiseite setzen darf“ (These 15).

Im selben Zusammenhang heißt es später:

„Nach dem Recht in der Welt geht es auch nicht, daß jemand ohne Vollmacht des anderen für ihn Rechtsverzichte aussprechen darf. Wenn das schon in der Welt gilt, dann dürfte es in der Gemeinde Jesu Christi, die ihre brüderliche Verbundenheit gern bezeugt, erst recht nicht möglich sein“ (a. a. O.).

Entschieden wird der Behauptung widersprochen, daß das Evangelium den Verzicht auf das Recht auf die Heimat gebiete; genau entgegengesetzt wird argumentiert:

„Weil auf der Welt nichts befriedigend geregelt ist, was nicht gerecht geregelt ist, und weil ein auf Unrecht gegründeter Friede den Keim zu neuem Unfrieden in sich trägt, und vor allem, weil Gott das Recht lieb hat und darum nirgends in der Schrift zu lesen steht, daß wir den Bestohlenen und Entrechteten mit dem freundlichen Rat beistehen sollen, daß sie sich mit dem Geschehen abzufinden hätten, ist es vom Evangelium her sogar geboten, daß wir gegen eine voreilige Verzichterklärung, wer immer sich das Recht dazu nehmen mag und welche vermeintlich guten Gründe dafür ins Feld geführt werden mögen, warnend unsere Stimme erheben“ (These 17).

Hinter den „Lübecker Thesen“ steht die Überzeugung, daß Unrechtsakte geltendes Recht nicht aufheben können und nicht durch vorangegangenes Unrecht gerechtfertigt sind. Daneben steht die Sorge, daß durch Verzichtleistungen und Anerkennung des durch Gewalttat entstandenen Zustandes das Unrecht legalisiert und dadurch überhaupt das Recht als ein integrierender Bestandteil der menschlichen Ordnung diskreditiert werde. Die Thesen gehen aber noch weiter, indem sie das Evangelium von Jesus Christus, also die Verkündigung des Wortes Gottes in Gericht und Gnade, das Angebot des Heiles an die Menschen für die fortdauernde völkerrechtliche und politische Aufrechterhaltung des deutschen Rechtsanspruches auf die Heimat der Vertriebenen und auf die staatliche Hoheit über die Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie in Anspruch nehmen.

Die unausgesprochene Konsequenz dieser mit äußerster theologischer Verbindlichkeit vorgetragenen Argumentation müßte die Forderung an den polnischen Staat sein, daß er den Vertriebenen wenigstens prinzipiell das Recht auf Rückkehr in die alte Heimat zugesteht und zum Verzicht auf die ihm durch das Potsdamer Protokoll von 1945 zugewiesenen Gebiete bereit ist, zu welcher tatsächlichen Regelung auch immer ein künftiger Vertragsabschluß kommen mag.

b) Als Beispiel für eine den Lübecker Thesen entgegengesetzte Position ist hier eine vom „Bielefelder Arbeitskreis der Kirchlichen Bruderschaften“ zur Diskussion gestellte Thesenreihe anzuführen: „Die Versöhnung in Christus und die Frage des deutschen Anspruches auf die Gebiete jenseits der Oder und Neiße“ („Junge Kirche“, 1963, Heft 12). Auch hier werden politische Empfehlungen theologisch verankert. Dazu wird der Botschaft von der Versöhnung Gottes mit den Menschen, die im Zentrum des christlichen Glaubens steht, und der Erhaltung des Friedens der Vorrang gegenüber dem Rechtsgedanken gegeben:

„Die Fragen nach der Heimat, nach dem Lebensrecht der einzelnen wie der Völker, nach Schuld und Krieg, nach Frieden und Völkerversöhnung müssen im Lichte dieser Botschaft, also im Lichte des Evangeliums von Jesus Christus geklärt werden. Das Evangelium ist mißverstanden, wenn die Beantwortung dieser Fragen nur im Lichte eines allgemeinen Glaubens an Gottes Schöpfertätigkeit und Vorsehung oder im Rahmen einer vermeintlichen christlichen Weltanschauung erfolgt, - oder wo es nur beachtet wird, sofern es eigene politische Ansichten und Forderungen zu bestätigen scheint“ (These 1).

Aus diesem Grundsatz wird die entscheidende politische Konsequenz gezogen:

„In der gegenwärtigen Situation erscheint die Preisgabe des deutschen Anspruches auf die verlorenen Ostgebiete und der Verzicht auf die Rückkehr dorthin um des Friedens und um eines guten Zusammenlebens mit unseren östlichen Nachbarn willen als geboten. Zu solcher Erkenntnis befreit das Evangelium die politische Vernunft“ (These 17).

Entsprechend wird vor der Illusion gewarnt, als könnte das deutsche Volk die Ergebnisse des Potsdamer Protokolls von 1945 und damit die Folgen der bedingungslosen Kapitulation rückgängig machen:

„Diese Illusion droht das Verhältnis zwischen unserem Volk und seinen östlichen Nachbarn auf lange Zeit zu vergiften und kann gefährliche Folgen haben, wenn ihr nicht bei uns selbst Einhalt geboten wird. Sich dieser Erkenntnis widersetzen, ist dasselbe, wie den Kriegszustand aufrechterhalten. Zu einer neuen Rechtsordnung und zu einem neuen Verhältnis zwischen den Deutschen und unseren Nachbarn in Ost und West kann es nur kommen, wenn wir alle Versuche aufgeben, die bedingungslose Kapitulation von 1945 und ihre Folgen rückgängig zu machen, und wenn an die Stelle von Selbstrechtfertigungsversuchen und im tieferen Sinne nicht gerechtfertigten Rechtsansprüchen die Versöhnung tritt“ (These 18).

Es muß erwähnt werden, daß die „Bielefelder Thesen“ dem Verdacht entgegentreten, sie wollten dogmatisch verstandene Radikalforderungen vertreten, ohne den für das politische Handeln lebenswichtigen Spielraum zu lassen:

„Zwar können verantwortliche Staatsmänner in der Außenpolitik unseren ehemaligen Kriegsgegnern gegenüber immer nur behutsame Angebote machen; sie dürfen sich aber in der entgegengesetzten Richtung niemals so festlegen, daß die unausweichlich notwendigen Kompromisse unmöglich werden. Darauf muß auch die Öffentlichkeit vorbereitet werden“ (These 19).

Man möchte gerade dadurch einen konstruktiven Beitrag zur Politik leisten, daß man den Rechtsgedanken in den Versöhnungsgedanken hineinnimmt. Der Vorrang der Versöhnung hebt nach dieser Sicht das Recht nicht auf, sondern trägt zu seiner besseren Verwirklichung bei. Die Christen müßten dazu das Recht in den Dienst der Liebe stellen:

„So können sie einen hilfreichen Beitrag zur Rechtsverwirklichung in der Zukunft leisten. Wer Recht verwirklichen will, darf nicht damit beginnen, daß er neue Schuld auf sich lädt“ (These 9).

Zum Versöhnungsgedanken kommt bei dieser Meinungsgruppe oft noch eine Deutung der Aufgabe hinzu, die sich aus der geschichtlichen Situation des deutschen Volkes ergibt. Danach verlangen die Unrechtstaten der nationalsozialistischen Herrschaft von der Schuld- und Haftungsgemeinschaft des deutschen Volkes, daß es sich zur Wiedergutmachung des den östlichen Nachbarn angetanen Unrechts bereitfindet und darin die Glaubwürdigkeit seiner Umkehr unter Beweis stellt.

c) Beide einander so scharf entgegengesetzte Positionen machen Gesichtspunkte geltend, die eine positive Würdigung verdienen. In der Weise aber, in der diese Standpunkte vertreten werden, bedürfen sie der Korrektur.

Die „Lübecker Thesen“ vertreten mit Recht die Auffassung, daß die Aufgabe von Rechtsansprüchen vor Gott nicht mit einem Verzicht auf irdisches Recht identisch ist. Wenn sich auch der Begriff „Recht auf Heimat“ als problematisch erwiesen hat, so weist er doch auf Rechtsgüter hin, die des Schutzes in der nationalen und internationalen Ordnung bedürfen. Eine künftige Neuordnung des Verhältnisses zwischen dem deutschen Volk und seinen östlichen Nachbarn wird dies anerkennen müssen und den Unrechtscharakter des Geschehenen nicht in Frage stellen dürfen. Auf der anderen Seite darf vom Recht und seinen Möglichkeiten nicht ungeschichtlich gedacht werden. Das Ringen um eine neue internationale Ordnung darf nicht allein unter dem Gesichtspunkt beurteilt werden, ob ein einseitig geltend gemachter deutscher Rechtsstandpunkt in ihr seine Verwirklichung findet. Die künftige Friedensordnung wird nicht ohne Opfer des deutschen Volkes auch an alten Rechtspositionen zu haben sein. Die Verfasser der „Lübecker Thesen“ müssen daran erinnert werden, daß man gerade in politischen Fragen mit einer absoluten Argumentation „vom Evangelium her“ zurückhaltend sein sollte. Nicht jedes kluge und vertretbare, auf Vernunft und Erfahrung beruhende politische Verhalten bedarf der theologischen Qualifizierung. Vor allem aber muß es als theologisch unerlaubt bezeichnet werden, die Vorstellung zu erwecken, als könne eine irdische Ordnung vollkommene Gerechtigkeit verwirklichen. Gewiß muß politisches Handeln eine gerechte Ordnung zum Ziele haben. In ihr müssen aber alle Beteiligten zu ihrem Rechte kommen. Damit kommen wichtige Faktoren einer gerechten Ordnung ins Blickfeld: das Recht des anderen, die Notwendigkeit des Ausgleichs, die Möglichkeit der Verwirklichung. Es kann nicht theologische Aufgabe sein, Illusionen zu nähren, wo es gilt, für eine nüchterne Betrachtung der Wirklichkeit unserer Welt und konkreter politischer Möglichkeiten einzutreten. Ebensowenig kann es gutgeheißen werden, wenn mit einer vermeintlich theologischen Begründung politische Erwägungen als eine verbotene Verzichtleistung gekennzeichnet werden, die über die bloße Behauptung des Rechtsstandpunktes hinausdrängen. Am besten wäre  s, wenn der Begriff „Verzicht“, der ohnehin moralisierend wirkt und ungute Affekte auslöst, in dieser ganzen Diskussion so sparsam wie möglich verwendet würde.

An dieser Stelle setzen die „Bielefelder Thesen“ mit Recht an. Der zentrale Gedanke der Versöhnung entbindet mit einer gewissen Dynamik den Willen zur Neugestaltung der politischen Zukunft. Darin zeigt sich, daß das Recht keine starre metaphysische Größe ist, die ohne Rücksicht auf ihr Verhältnis zum Leben verwirklicht werden könnte. Durch den Versöhnungs- und Friedensgedanken kommt auch zur Geltung, daß der Christ die in geistlicher Erkenntnis errungene Bereitschaft zum Verzicht auch im rechtlichen und politischen Bereich manifestieren muß, wenn eine sittliche Gesamtverantwortung es gebietet. Kritisch aber ist gegenüber dieser Position anzumerken, daß die angestrebte Versöhnung nur das Ergebnis eines sich auch in einer tragbaren politischen Neuordnung verwirklichenden Prozesses sein kann.

In ihm werden sich Recht und Versöhnung als Gestaltungsprinzipien einer neuen Ordnung durchdringen müssen. Der Verzicht auf die einseitige Vertretung des eigenen Rechtsstandpunktes ist nicht mit einer einseitigen Nachgiebigkeit identisch. Politisch wirksame Versöhnung ist ohne Partnerschaft undenkbar, in der auch der andere seinen Standpunkt überprüfen und einen eigenen Beitrag zum Neubeginn leisten muß. So wirkt an einer politischen Neuordnung eine Reihe von rechtlichen, politischen und menschlichen Faktoren mit, deren Zusammenspiel zu dirigieren und im rechten Augenblick zu Entscheidungen zu bringen, Aufgabe der politischen Führung ist, so daß sich Einzelheiten des Vorgehens und des erwünschten Ergebnisses nicht von vornherein starr festlegen lassen.

Die Kammer für öffentliche Verantwortung hat sich mit beiden vorgetragenen Positionen eingehend auseinandergesetzt, sich aber mit keiner der beiden im ganzen identifizieren können. Beide Betrachtungsweisen schätzen offenbar die Leistungsfähigkeit der Theologie für den politischen Rat und die politische Entscheidung falsch ein. Die Theologie wird ähnlich wie das Völkerrecht nur einen Teilbeitrag zur Lösung der anstehenden politischen Fragen Leisten können. Ihr politisches Mitreden betrifft weniger die Oberschicht der konkreten politischen Entscheidung als vielmehr die Tiefenschicht der inneren Voraussetzungen, des realistischen Urteils und der wirklichen Bereitschaft zur Versöhnung.

Kein Geringerer als der langjährige Sprecher der Vertriebenen, der 1963 verstorbene Professor Herbert Girgensohn, hat dieser Sicht eines kirchlichen Dienstes an dem Verhältnis zum polnischen Nachbarvolk in ähnlicher Weise des öfteren Ausdruck gegeben. In einem wenige Monate vor seinem Tode veröffentlichten Aufsatz heißt es:

„Die politischen Gegebenheiten, über die verhandelt werden muß, sind äußerst differenziert. Es ist bei allen Verhandlungen eine Unzahl von Gesichtspunkten zu beachten, die immer wieder gegeneinander abgewogen und in ihrer Relativität gesehen werden müssen. Das kann nur die Sache politischer Verantwortung und Überlegung sein. Wenn zum Beispiel das zukünftige Verhältnis zum Osten von Partnerschaft bestimmt sein soll, so ist damit gemeint, daß beide Seiten einander gegenüberstehen in der Freiheit, die um die beiderseitige Schuld weiß, nach dem Recht fragt und dennoch den Ausgleich erstrebt und auch zu Opfern, die dann gebracht werden müssen, bereit ist. Die Oder-Neiße-Linie ist wohl mit dem Wunsch der ewigen Zwietracht zwischen Polen und Deutschland gesetzt. Die Überwindung dieser Zwietracht schließt auch die neue Ordnung der Gebietsfragen ein, aber in der Freiheit von beiden Seiten. Es kann da verschiedene Wege geben. Vielleicht ist einer in der beginnenden Neuordnung Europas im Sinne der stärkeren Zusammenarbeit der europäischen Nationen überhaupt zu sehen“ („Die Vertriebenen und die kirchliche Seelsorge“, in: In den Fesseln des Diamat. Zur Seelsorge an Flüchtlingen, Verlag des Amtsblattes der EKD Hannover-Herrenhausen, o. J. - 1963).

3. Wenn die theologische Erwägung Recht und Versöhnung als Motive und Ratgeber für die deutsche Ostpolitik herausgestellt hat, so ist dies noch einmal unter einigen ethischen Gesichtspunkten zu bestätigen und zu unterstreichen.

Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den jetzt polnisch verwalteten ehemals deutschen Gebieten (ähnliches gilt natürlich auch für andere Gebiete) muß als Unrecht und Verstoß gegen elementare sittliche Gebote bezeichnet werden. Darüber können auch alle Versuche unserer Nachbarvölker nicht hinwegtäuschen, diese Vertreibung politisch, geschichtlich oder sittlich zu rechtfertigen. Man trifft wohl am ehesten den geschichtlichen Tatbestand, wenn man die Vertreibung und die Gebietsveränderungen als von den Polen in Anspruch genommene Entschädigung für eigene Verluste und Leiden bezeichnet. Aber so wenig diese Verluste und Leiden geleugnet oder vergessen werden dürfen, so wenig kann die eigenmächtig verwirklichte „Entschädigung“ den Unrechtscharakter der Vertreibung aufheben. An diesem Punkt ist ein Teil der Leidenschaft begründet, mit der Vertriebene für das „Recht auf die Heimat“ eintreten. Auch wer erkennt, daß es nicht einfach möglich sein wird, die alten Verhältnisse um jeden Preis wiederherzustellen, wehrt sich dagegen, daß über das Geschehene zur politischen Tagesordnung übergegangen wird. Hier gilt, was Herbert Girgensohn feststellte:

„Das seelische Trauma der deutschen Vertriebenen besteht vielleicht weniger in dem Verlust ihrer Heimatgebiete als in dem Stachel eines erlittenen Unrechts, das weder als solches anerkannt noch überhaupt berücksichtigt worden wäre. Es ist die Meinung der kirchlichen Vertriebenenvertreter, daß die Anerkennung des Rechtes auf Heimat, das heißt die Feststellung des Unrechts von Vertreibung überhaupt eine unentbehrliche Voraussetzung für die Herstellung zwischenmenschlicher und zwischenvölkischer Beziehungen ist“ („Das Recht auf Heimat“ in: Informationsblatt für die Gemeinden in den niederdeutschen lutherischen Landeskirchen, 1. Mai-Heft Nr. 9 vom 12. Mai  1960).

Aus dieser Sicht der Dinge müßte auch die Kirche einer stillschweigenden Sanktionierung der Vertreibung durch Anerkennung in einem Friedensvertrag widersprechen. Es muß möglich sein, daß dabei das Unrecht, das sich beide Seiten gegenseitig angetan haben, nicht übergangen wird. Nur so kann es einen Weg für ein neues Verhältnis zwischen den Völkern geben.

Vom Unrecht der Vertreibung kann aber nicht gesprochen werden, ohne daß die Frage nach der Schuld gestellt wird. Im Namen des deutschen Volkes wurde der Zweite Weltkrieg ausgelöst und in viele fremde Länder getragen. Seine ganze Zerstörungsgewalt hat sich schließlich gegen den Urheber selbst gekehrt. Die Vertreibung der deutschen Ostbevölkerung und das Schicksal der deutschen Ostgebiete ist ein Teil des schweren Unglücks, das das deutsche Volk schuldhaft über sich selbst und andere Völker gebracht hat. Auch diese deutsche Schuld steht nicht isoliert da. Es gibt eine Schuldverflechtung der Völker. Um nicht weiter auszuholen, braucht hier nur an den Zusammenhang mit dem Schicksal der polnischen Ostgebiete und ihrer Bevölkerung erinnert zu werden. Wir müssen aber daran festhalten, daß alle Schuld der anderen die deutsche Schuld nicht erklären oder auslöschen kann.

Aus der Anerkennung politischer und geschichtlicher Schuld müssen Folgerungen für das heutige politische Handeln gezogen werden. Gewiß wäre es kurzschlüssig, eine neue deutsche Ostpolitik ausschließlich als Folge und Gestalt der Buße für deutsche Schuld zu fordern. Eine Politik aus einseitigen Schuldkomplexen oder aus einseitiger Schuldzumessung würde keine haltbare Ordnung für morgen schaffen, sondern den Keim zu neuen Konflikten legen. Auf diese Weise bliebe die Schuld der anderen völlig außer acht, die Völker würden in Gerechte und Ungerechte aufgeteilt. Es gibt, auch ganz abgesehen von der Schuldfrage, berechtigte Interessen der Völker, zwischen denen eine gerechte Ordnung einen Ausgleich schaffen muß. Auf der anderen Seite aber darf die Schuldfrage, etwa unter Hinweis auf die Schuld der anderen, nicht aus dem geschichtlichen und politischen Urteil ausgeschaltet werden. Die Politik hätte es dann wieder nur mit den einander widersprechenden Interessen und Rechtsansprüchen zu tun, sie würde erneut bei bloßer Machtpolitik enden. Man wird sicherlich so viel sagen müssen, daß die Bereitschaft, Folgen der Schuld zu tragen und Wiedergutmachung für begangenes Unrecht zu leisten, ein wichtiger Bestandteil deutscher Politik auch gegenüber unseren östlichen Nachbarn sein muß. Aus geschichtlicher Erfahrung und in sittlicher Einsicht müssen wir uns klarmachen, daß begangenes Unrecht des hier vor Augen stehenden Ausmaßes nicht ohne geschichtliche und politische Folgen bleibt. Solche Folgen lassen sich aber nicht schlechthin wieder rückgängig machen.

Die ethischen Erwägungen führen zu der notwendigen Konsequenz, in klarer Erkenntnis der gegenseitigen Schuld und ohne Sanktionierung von Unrecht, das nicht sanktioniert werden darf, das Verhältnis der Völker, namentlich das zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk, neu zuordnen und dabei Begriff und Sache der Versöhnung auch in das politische Handeln als einen unentbehrlichen Faktor einzuführen. Hierzu sei noch einmal Herbert Girgensohn zitiert:

„Der wirkliche Neubeginn eines nachbarschaftlichen Verhältnisses kann nur in einer echten Partnerschaft bestehen, bei der auch die Wirklichkeit der gegenseitigen Schuldverstrickung ins Blickfeld tritt und die darum auch nicht auf einseitigen Akten der Vergeltung und der Gewalt basiert. Hier wäre nämlich keiner der Richter des anderen. Wir stünden allesamt unter einer höheren übergeordneten Gerechtigkeit“ (a. a. O.).

Die theologische Überlegung bestätigt die Erkenntnisse, daß es nicht zur kirchlichen Aufgabe gehört, politische Ziele und Lösungen im einzelnen zu formulieren. Aber es gehört zum politischen Dienst der Christenheit, die sittlichen und menschlichen Bedingungen für eine den Menschen und der Erhaltung des Friedens dienende Politik zu vertreten. Dabei darf das kirchliche Wort zur Politik nicht davor zurückschrecken, Quellenpolitischer Fehlentscheidungen oder Unterlassungen beim Namen zu nennen und die Gewissen konkret anzureden. Die Diskussion über das „Recht auf Heimat“ und über Fragen der deutschen Ostpolitik leidet unter einem unnüchternen Pathos und ist in ihrem sachlichen Gehalt unzulänglich. Manche öffentliche Äußerungen lassen vermuten, daß sie zu den tatsächlichen Überzeugungen in einem Spannungsverhältnis stehen. Daher muß die Kirche dafür eintreten, daß Grundfragen der deutschen Ostpolitik so sorgfältig wie möglich geprüft und unter Umständen neu formuliert werden.

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