Die Gerechtigkeit in Person - Predigt in der Hauptkirche St. Michaelis, Hamburg (Ez 18, 1-4.21-24.30-32)
16. Juni 2002
Liebe Gemeinde,
in Hamburgs Partnerstadt Prag – und in der ganzen Tschechischen Republik – wurden gestern die Stimmen ausgezählt. Und heute, gerade in dieser Stunde, beraten die Politiker mit Vaclav Havel auf der Prager Burg. Dabei werden sie dann auch sehen, ob sich der Versuch der tschechischen Politikern ausgezahlt hat, mit der Erinnerung an historische Verbrechen und an historisches Gegen-Unrecht ein Volk an die Wahlurnen zu bringen – so, wie das eben ist, wenn Erben von Opfern darauf bestehen, dass sie keinesfalls auch Erben von Tätern sein können.
Keine Angst, das wird keine Predigt über das Münchner Abkommen von 1938! Auch nicht über die Beneš-Dekrete! Schon gar nicht über die Tschechen oder die Deutschen oder die Sudetendeutschen…
Aber dies soll eine Predigt werden über einen prophetischen Text, der nach der Gerechtigkeit fragt, in einem Volk und zwischen den Generationen: Wer muss für wessen Schuld einstehen?
Und dabei spricht der Predigttext in eine ganz ähnliche Situation hinein. Es geht dabei zwar nicht um eine Vertreibung, sondern um eine Verschleppung, nämlich vieler Juden nach Babylon – und es geht um die Frage: Warum haben die Alten die Geschichte verdorben – und wir müssen sie austragen?
Hören wir also den Predigttext aus dem 18. Kapitel bei Hesekiel – einen Ausschnitt aus einem heftigen Streitgespräch zwischen Gott und seinem Volk über die Gerechtigkeit, über Gottes Gerechtigkeit:
LUT Ezekiel 18:1 Und des HERRN Wort geschah zu mir: 2 Was habt ihr unter euch im Lande Israels für ein Sprichwort: »Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber (erst) den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden«? 3 So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel. 4 Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Väter gehören mir so gut wie die Söhne; jeder, der sündigt, soll sterben.
...
21 Wenn sich aber der Gottlose bekehrt von allen seinen Sünden, die er getan hat, und hält alle meine Gesetze und übt Recht und Gerechtigkeit, so soll er am Leben bleiben und nicht sterben. 22 Es soll an alle seine Übertretungen, die er begangen hat, nicht gedacht werden, sondern er soll am Leben bleiben um der Gerechtigkeit willen, die er getan hat. 23 Meinst du, daß ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott der HERR, und nicht vielmehr daran, daß er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt? 24 Und wenn sich der Gerechte abkehrt von seiner Gerechtigkeit und tut Unrecht und lebt nach allen Greueln, die der Gottlose tut, sollte der am Leben bleiben? An alle seine Gerechtigkeit, die er getan hat, soll nicht gedacht werden, sondern in seiner Übertretung und Sünde, die er getan hat, soll er sterben.
...
30 Darum will ich euch richten, ihr vom Hause Israel, einen jeden nach seinem Weg, spricht Gott der HERR. Kehrt um und kehrt euch ab von allen euren Übertretungen, damit ihr nicht durch sie in Schuld fallt. 31 Werft von euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt, und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist. Denn warum wollt ihr sterben, ihr vom Haus Israel? 32 Denn ich habe kein Gefallen am Tod des Sterbenden, spricht Gott der HERR. Darum bekehrt euch, so werdet ihr leben.
Was können wir dafür? So fragt die Erben-Generation. So fragen die Erben von Tätern, die zu Opfern wurden – und deren Kinder nun im Opferstatus leben. Und diesen nun weiter vererben, wie einen Vertriebenenausweis. Was können wir dafür?
In den Klageliedern Jeremias wird das – bei aller Leidenschaft – noch in einem anständigen Ton vor Gott gebracht: „Unsre Väter haben gesündigt und leben nicht mehr, wir aber müssen ihre Schuld tragen“. (Klagelieder 5, 7) Unsere Väter haben große politische Fehler gemacht, ja gesündigt, haben mit falschen politischen Freunden paktiert – und wir sitzen nun im Exil. So könnte auch ein sudetendeutsches Kind gesprochen haben, wenn es die gewaltsame Vertreibung aus seiner Heimat überlebt haben sollte. Und auch das muss hinzugefügt werden: Der Präsident Vaclav Havel würde ihm zustimmen – und hat deshalb die Vertreibung auch als Unrecht bezeichnet. Hätten wir Deutschen nur sehr mutig dazugesagt: Und alles, was die Nazis (darunter viele Sudetendeutsche, aber eben beileibe nicht alle) den Tschechen angetan haben war auch Unrecht von Anfang an…
Im Volksmund aber, wie er bei Ezechiel zitiert ist, wird die Klage zum Spott auf Gottes Gerechtigkeit:
»Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber (erst) den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden.«
Daraus wird nun ein interessantes Streitgespräch, in dem ein Quantensprung im Verständnis der Gerechtigkeit stattfindet. Zuvor war ja die Vorstellung einer Kollektivschuld keineswegs so abwegig gewesen.
Doch nun richtet ihnen der Prophet Ezechiel aus, dass dieses Verständnis von Haftung für väterliche und vor-väterliche Schuld selbst Gott dem HERRN auch nicht mehr einleuchtet:
3 So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel.
Und er setzt dagegen:
20 ... nur wer sündigt, der soll sterben. Der Sohn soll nicht tragen die Schuld des Vaters, und der Vater soll nicht tragen die Schuld des Sohnes, sondern die Gerechtigkeit des Gerechten soll ihm allein zugute kommen, und die Ungerechtigkeit des Ungerechten soll auf ihm allein liegen.
Gut und schön! Das haben wir doch schon immer gesagt, dass Schuld immer ganz persönlich ist – und dass es, wie schon unser erster Bundespräsident Theodor Heuss das formuliert hat, keine Kollektivschuld geben kann; allerdings, wie wir mit Heuss dann auch hinzufügen sollten, sehr wohl eine „Kollektiv-Scham“.
Gewiss sagt es sich für die Nachkommen der Schuldigen vergleichsweise leicht, dass es keine Kollektivschuld geben kann. Aber fällt das den Nachkommen der Opfer nicht viel schwerer, vielleicht sogar so schwer, dass sie die Nach-Schuld ihrer Vorväter nicht einsehen können?
Aber wie dem auch sei – mit dem ersten Kapitel dieses Streitgesprächs kommen wir leicht zurecht. Aber wie ist es nun mit dem zweiten Kapitel?
Darin richtet uns der Prophet zweierlei aus:
Zum ersten, also zur Bekehrung des Sünders:
21 Wenn sich aber der Gottlose bekehrt von allen seinen Sünden, die er getan hat, und hält alle meine Gesetze und übt Recht und Gerechtigkeit, so soll er am Leben bleiben und nicht sterben. 22 Es soll an alle seine Übertretungen, die er begangen hat, nicht gedacht werden, sondern er soll am Leben bleiben um der Gerechtigkeit willen, die er getan hat.
Zum zweiten aber, zur Verkehrung des Gerechten:
24 Und wenn sich der Gerechte abkehrt von seiner Gerechtigkeit und tut Unrecht und lebt nach allen Greueln, die der Gottlose tut, sollte der am Leben bleiben? An alle seine Gerechtigkeit, die er getan hat, soll nicht gedacht werden, sondern in seiner Übertretung und Sünde, die er getan hat, soll er sterben.
Ob uns das so richtig zusagt?
Da sündigt einer ein Leben lang, was das Zeug hält, und im Alter, wenn ihm die Kraft dazu ausgeht, wird er auf einmal lammfromm, und sei es nur aus der Angst vor dem Tod (oder vor Gott, wer weiß, ob es ihn nicht doch gibt?). Vielleicht tritt er sogar wieder in die Kirche ein…. Und der soll nun gerettet dastehen – als sei er ein Leben lang ein „Gerechter“ gewesen?
Dagegen der andere: Ein Leben lang war er ein frommer Mann und lebte in Gerechtigkeit – und aufs Alter fängt er an, ja: durchzuknallen. Wird zum Gotteslästerer – und sei es, dass er schon nicht mehr ganz bei Sinnen ist. Und dem sollen die siebzig, achtzig Jahre zuvor – verbracht in schönster Gerechtigkeit – überhaupt nicht mehr angerechnet werden, nicht einmal als mildernde Umstände?
Nein, mit unserem Verständnis von Gerechtigkeit kommen wir da nicht weit. Vor Gericht behaften wir die Menschen nur an ihren Taten, genauer: an ihren Untaten – ohne Ansehen der Person. Und das hat sehr gute Gründe – in den Grundlagen und Grenzen menschlicher Gerechtigkeit.
Wo wir aber uns ein Gesamtbild einer Person machen, da ziehen wir senkrecht durch unser Notizblatt einen Strich – und schreiben links die guten, rechts davon die bösen Taten, machen einen Strich drunter und ziehen also Bilanz. Wiederum eine Bilanz aus Taten. Auch das ist sinnvoll.
Aber warum macht Gott das nun ganz anders? Weil er ein ganz anderes Bild von Gerechtigkeit hat – ja, weil er in einem bestimmten Sinne die Gerechtigkeit in Person ist. Und zwar nicht die Gerechtigkeit eines unbestechlichen Preußischen Kammergerichts (ohne Ansehen der Person!), sondern die Gerechtigkeit einer ja: höchst bestechlichen, höchst verführbaren, höchst verführerischen – ja: rettungslos sentimentalen, sentimental rettenden Liebe:
23 Meinst du, daß ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott der HERR, und nicht vielmehr daran, daß er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt?
Wenn ein Täter Beziehungen hätte zum Staatsanwalt und zu den Richtern, dann wäre etwas faul im Rechtsstaat – und ein anständiger Richter hätte sich selber wegen Befangenheit abzulehnen.
Gott hingegen ist geradezu hemmungslos befangen. Er will nichts anderes als die Beziehung rein als solche, die reine Beziehung zu seinen Geschöpfen. Er ist sozusagen das eine, reine Beziehungswesen – das uns selber erst instand setzt, Beziehungen aufzunehmen – zu sich, zu unseren Mitmenschen, zu uns selber.
Der menschliche Richter sieht auf die Taten – wie’s in unserem Herzen aussieht, das kümmert ihn nicht, das geht ihn auch nichts an.
Gott hingegen schaut nicht zuerst auf unsere Taten, sondern in unser Herz – indem er uns in das seine schließt. Und wenn wir uns in diese Beziehung – ganz passiv! – hineinziehen lassen: Was zählen dann unsere Taten – die vergangenen bösen wie die guten? Aber sind wir erst einmal in dieser Beziehung gänzlich befangen – wie wollten wir dann noch leben, als seien wir es nicht?
Unsere menschliche Gerechtigkeit steht am Ende – und zieht einen Schlussstrich unter unsere Taten.
Gottes Gerechtigkeit aber steht am Anfang – und lädt zu einem immer neuen Anfang an, der alles andere hinter sich lässt. Und so richtet es auch Ezechiel aus:
31 Werft von euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt, und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist.
Ach, wie schön wäre es, wir könnten unter uns Menschen immer wieder einen neuen Anfang machen – in den Ehen und Familien, zwischen den Generationen, zwischen den Nationen, auch zwischen Tschechen und Deutschen, gar zwischen Juden und Christen. Und schließlich zwischen Juden und Arabern. Aber wie oft erfahren wir, dass wir das nicht aus eigener Kraft zustandebringen, im Gegenteil: Gerade aus eigener Kraft geht das uns das immer wieder schief. Wegen unserer so engen Vorstellung von Gerechtigkeit, die so zur Selbstgerechtigkeit wird.
Ach, wie schön ist es da, dass wenigstens Gott – die Gerechtigkeit selbst! – es immer wieder versucht, mit uns und mit allen anderen.
Und weil unsere Selbstgerechtigkeit uns unser Leben lang so tödlich im Wege steht, richtet uns der Prophet Hesekiel gerade dieses aus:
32 Denn ich habe kein Gefallen am Tod des Sterbenden, spricht Gott der HERR. Darum bekehrt euch, so werdet ihr leben.
Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft und Gerechtigkeit, bewahre unsere Sinne in Christus Jesus. Amen