Luther, Bach und der ewige Lobpreis

Der Musikwissenschaftler Konrad Küster hat die evangelische Kirchenmusik erforscht

Das Ergebnis, das Konrad Küster in seinem Buch „Musik im Namen Luthers“ vorstellt, ist  überraschend vielstimmig: Musiker in der Nachfolge Luthers waren äußerst produktiv, griffen häufig auf katholische Traditionen zurück und entwickelten sie kreativ weiter. Der Musikwissenschaftler Künster im Interview.

Gemälde: Luther begleitet den Gesang seiner Kinder auf der Laute
Luther begleitet den Gesang seiner Kinder auf der Laute. Gemälde aus dem Jahr 1866 von Gustav Adolph Spangenberg.

Ihr Buch heißt „Musik im Namen Luthers". Welchen Einfluss hatte Luther tatsächlich auf die musikalischen Entwicklungen im Einflussgebiet der Reformation?

Konrad Küster: Luther und sein Kreis haben Gründe dafür genannt, warum ihnen Musik so wichtig ist. Wenn Gott durch den Kreuzestod Christi uns sündige Menschen entlastet hat, hätten wir alle Gott dafür dankbar zu sein – buchstäblich unendlich. Der ewige Lobpreis Gottes – das ist für Luther das Musizieren der Engel im Himmel. Und dieses Musizieren muss man auf Erden vorwegnehmen. Das muss jeder so gut tun wie möglich. Nicht die Qualität des Musizierens wird gemessen, sondern es kommt darauf an, ob man es mit dem Lob ernst meint. Das hat Tür und Tor geöffnet für ein unglaublich reiches Musikleben.

Sie räumen aber mit der weit verbreiteten Meinung auf, Luther habe den Gemeindegesang in den Kirchen eingeführt. Wie war es denn tatsächlich?

Küster: Anders als im Spätmittelalter war es den Gemeinden nicht verboten, im Gottesdienst mitzusingen. Doch das Singen blieb die Aufgabe spezieller Sängerteams  – fortan waren das der örtliche Schulmeister und seine Schüler. Und sie sangen im Wesentlichen weiterhin die Gesänge der mittelalterlichen Gottesdienste. Luther behielt sie vor allem dann bei, wenn ihre Texte aus der Bibel stammen, also etwa aus dem Psalter. Darauf kam es ihm an, und das ist bei den meisten traditionellen Gesängen der Messliturgie ja der Fall.

Wozu dienten die Lutherlieder, wenn nicht zum Singen im Gottesdienst?

Küster: Alles, was in Luthers Kreis in Verbindung mit den Liedern gesagt wird, verweist auf didaktische Zwecke: Den Menschen sollte die Bibel nahegebracht werden. Das konnte zu Hause geschehen, wenn man Lieder im privaten Rahmen sang. Vor allem aber war Luther der Meinung, dass dies in der Schule geschehen sollte. Der Lehrer sollte mit seinen Schülern Lieder singen – und zwar gezielt solche, die sich auf einen biblischen Text beziehen. Das erfüllten vor allem die Lieder, in denen der Text eines Psalms als neue Paraphrase gefasst ist. Denn wenn der Bibeltext als Lied gesungen wird, lässt sich seine Aussage viel leichter memorieren. "Ein feste Burg" und "Aus tiefer Not" sind solche Psalmlieder. Ihr ursprünglicher "Ort" ist also der Schulunterricht – auch mit Johann Walters mehrstimmigen Sätzen des Wittenberger Geistlichen Gesangbüchleins.

Der lutherische Gottesdienst orientiert sich ja stark an der traditionellen Messform. Gilt das auch für die Musik? Wurden "katholische" Stücke, vielleicht sogar lateinische Texte übernommen?

Küster: Ja, auf jeden Fall. Alle mehrstimmige Musik, die das frühe Luthertum ausdrücklich für die Gottesdienste empfahl, entstammte der spätmittelalterlichen katholischen Welt. Diese Musik beherrschte das Geschehen noch bis 1580. Das Lateinische blieb sowieso noch bis um 1700 im Gottesdienst erhalten. Seine Funktion als Universalsprache war ja ähnlich wie das Englische heute, und gerade die nachwachsende Generation musste den Sinn dieser Sprache begreifen – nicht nur in der Schule, sondern auch im "normalen Leben" außerhalb der Schule. Dafür war die Kirche der perfekte Ort.

Welche Einflüsse zeigen sich bei denen, die neue Musik komponieren?

Küster: Auch "neue Musik" im Reformationsjahrhundert orientiert sich ganz massiv an italienisch-katholischen Vorbildern. Teils entsteht moderne Musik auf lateinische Texte, ähnlich der, die auch von katholischen Komponisten geschrieben wird. Eine Alternative ist, italienisch textierte, weltliche Musik so umzuschreiben, dass man sie mit einem deutschen Text versehen kann. Berühmtestes Beispiel dafür ist das Kirchenlied "In dir ist Freude" – ursprünglich ein italienisches Tanzlied.

In der katholischen Kirche war die Musik eine Aufgabe des Klerus. In der lutherischen Kirche übernehmen andere Institutionen und Berufsgruppen diese Aufgabe – welche?

Küster: Wie gesagt: Die Reformation rückte die Schulmeister in eine herausgehobene Position. Mehr und mehr kommen dann jedoch auch die Musikamateure der lutherischen Städte mit ins Bild: Menschen, die in ihrer Jugend an den Lateinschulen eine perfekte Musikausbildung erhalten hatten, konnten als Helfer, als "Adjuvanten", in die Musik mit eintreten, und zwar durchaus auf semiprofessionellem Niveau. Denn wie gesagt: Als gläubiger Christ musste man schon auf Erden Gott für den Erlösungstod Christi danken, ebenso wie dann auf ewige Zeit im Himmel.

Welche Rolle spielt die Orgel in der Entwicklung einer lutherischen Musik?

Küster: Eigentlich waren alle Reformatoren gegenüber der Orgelmusik zurückhaltend. Sie hatte keinen Text, war sie also wirklich glaubensfördernd? Luther und seine Weggefährten haben die Orgel aber nicht in Bausch und Bogen aus der Kirche verbannt. In Norddeutschland gab es schon unmittelbar vor der Reformation eine Art Orgel-Hype. Die lauwarme Zustimmung der Lutheraner nahm man dort als Freibrief, diese Orgelkultur noch weiter auszubauen. Sie kulminierte im 17. Jahrhundert in den Instrumenten Arp Schnitgers und den Kompositionen der norddeutschen Orgelmeister mit Dieterich Buxtehude an der Spitze. Das blieb auch den Lutheranern in Mitteldeutschland nicht verborgen, und in zwei Phasen haben sie dies in ihre Vorstellungen von Kirchenmusik integriert: Um 1590 und noch einmal knapp hundert Jahre später. Der berühmteste Profiteur in der zweiten Phase war dann Johann Sebastian Bach.

Welche Bedeutung haben Sammlungen und Musikdrucke für ein neues Repertoire?

Küster: Mit ihnen stand eine plausible und möglicherweise auch offiziell für gut befundene Repertoire-Grundlage zur Verfügung, die in die Gottesdienste Eingang finden konnte. Denn viele Kantoren waren auf ein solches Repertoire angewiesen: Sie waren eigentlich Theologen, befanden sich in ihrer Qualifikationsphase und sollten nun Verantwortung für Kirchenmusik übernehmen. Da war es nur willkommen, bei einem erprobten Material Zuflucht nehmen zu können – das dann über Generationen hinweg große Bestandskraft entfalten konnte, fast wie ein liturgisches Buch.

Heinrich Schütz hat in Italien studiert. Wie wichtig sind stilistische Einflüsse aus anderen Musikkulturen für die Entwicklung im lutherischen Raum?

Küster: Ohne auswärtige Vorbilder sind die Entwicklungen der lutherischen Kirchenmusik überhaupt nicht erklärbar. Vor allem hat man dauernd den Blick nach Italien gerichtet. Zunächst war es das Madrigal, das das Interesse fesselte: In ihm kommt es auf Textverständlichkeit an – etwas, das ideal in den lutherischen Denkhorizont passt. Dann ging es um die venezianische Mehrchörigkeit: Wenn ein Raum von Musik völlig erfüllt zu sein scheint, dann war der Effekt ideal dafür, sich das ewige Musizieren im Himmel vorzustellen. Und die italienische Musik des mittleren 17. Jahrhunderts, bis hin zur Oper, bot nochmals ähnlich attraktive Ansatzpunkte. Erst im Zeitalter der Aufklärung schwächt sich diese Bindung an italienische, katholische Vorbilder ab.

Eine zentrale Form evangelischer Kirchenmusik ist die Kantate. Wie hat sie sich entwickelt?

Küster: Dafür war die Anleihe bei der Oper entscheidend – allerdings früher, als man bisher dachte. Es geht um die Frage, wie die Mischung unterschiedlichster Stilelemente und Texte in der Kantate zustande gekommen sein kann. Von zentraler Bedeutung ist, dass Evangelientexte auf Frage-Antwort-Strukturen beruhen, also in sich dramatisches Potential tragen. In diese Textgestalt lassen sich Arien einstreuen, wie man sie im mittleren 17.Jahrhundert schrieb: knappe, strophische Gebilde, die ähnlich aussehen wie ein Kirchenlied. Und natürlich können dafür auch Liedstrophen selbst verwendet werden. Diese umfassende Verschmelzung gibt es wohl zum ersten Mal um 1680 am Herzogshof in Schleswig-Holstein – unter dem direkten Einfluss der Hamburger Oper, die 1678 gegründet worden war.

Als Thomaskantor schuf Bach den Hauptteil seiner geistlichen Musik – vieles davon zählt heute zum Kernbestand der Musikkultur überhaupt. Dabei war der Schritt vom Hofkapellmeister zum Kirchenmusiker doch eher ein Abstieg. Was machte Leipzig für ihn interessant?

Küster: Im gesamten 17. Jahrhundert entstand die moderne, zukunftsweisende Musik der Lutheraner an den Höfen – zum Beispiel in Dresden oder Wolfenbüttel. Nur die großen Reichsstädte konnten da mithalten, vor allem Hamburg, Frankfurt und Nürnberg. Die Kantoren der mitteldeutschen Landstädte hatten an diesen Entwicklungen nur einen minimalen Anteil. Leipzig ist der Sonderfall schlechthin: Es war weder Residenz- noch Reichsstadt, hatte 'nur' ein traditionelles Schülerensemble und eine traditionelle Stadtpfeiferei, war also eigentlich weit entfernt von den Profi-Virtuosen, wie sie an den führenden Orten anzutreffen waren. Doch in Leipzig waren diese traditionellen Kräfte offensichtlich unglaublich gut – so gut, dass Bach mit ihnen die gleiche Musik aufführen konnte wie zuvor mit den Virtuosen am Hof in Köthen.

Vielfach kolportiert sind Bachs Konflikte mit seinen Vorgesetzten, die Klagen über "fremde Töne" und "opernhaften Stil". War seine Musik als im Sinne der lutherischen Reformation akzeptiert?

Küster: Nun ja, die Konflikte hielten sich, aufs Ganze gesehen, in Grenzen. Es gab zwei Fraktionen in Leipzig, eine eher traditionelle, ständische und eine eher moderne, am Höfischen interessierte. Die Modernisten haben Bach gedeckt, wo sie nur konnten. Die wenigen Angriffe, die dokumentiert sind, lassen sich den Traditionalisten zuordnen – die aber zugleich insofern „modern“ waren, als große Kirchenmusik im Zeitalter der Aufklärung pauschal in Verruf geriet. Über Bachs Kunst hat es aber nie Klagen gegeben, und auch der furchtsame Gedanke des Opernhaften ist nur im Vorfeld geäußert worden, als Warnung – Bach hat sich im Sinne der Zeit demnach daran gehalten.

Sie brechen in Ihrem Buch eine Lanze für die sogenannten Übergangs- und „Verfallszeiten“ der Kirchenmusik. Was gibt es da noch zu entdecken?

Küster: Es sind vor allem drei Zeiträume, die da im Zentrum stehen. Zunächst geht es um die Musik des späteren 17. Jahrhunderts, die zwischen Schütz und Bach entstand. Hier ist ein breiter Zugang noch ganz jung: Erschlossen wurde er von der Alte-Musik-Bewegung, der die Musik der lutherischen Kapellmeister jener Zeit mit ihrer Virtuosität wie auf den Leib geschrieben scheint. Begeistern kann man sich ebenso – ganz neu – für Kirchenmusik der Zeit direkt nach Bach, die viel zu stark mit dem Stempel des Epigonenhaften versehen worden ist. Die Musik seiner Söhne und Schüler ist aber ganz eigenständig – und faszinierend. Schließlich muss man sich fragen, welche lutherische Musik des 20. Jahrhunderts neben der großen, überkonfessionellen Oratorienkunst attraktiv wirkt. Dort gibt es durchaus Entdeckenswertes – zwischen dem, was als „Neue Musik“ ohnehin diskutiert wird, und dem, was die Kirchenchorpraxis geprägt hat. Auch auf dem lutherischen Sektor gibt es eine "Kunst-Schicht", die zwischen diesen beiden Extremen liegt.

Interview: Jörg Echtler (für evangelisch.de)