Was theologische Sprache mit Missbrauch zu tun hat
Fragen an Bischöfin Petra Bahr
Sprache schafft Wirklichkeit. Deshalb braucht es im Zuge der Aufarbeitung und Prävention sexualisierter Gewalt eben auch die Aufarbeitung der Sprache in Theologie und Liturgie, sagt die Hannoversche Regionalbischöfin Petra Bahr, die auch Mitglied im Deutschen Ethikrat ist.

Die systemischen Bedingungen in Institutionen und die Rolle des Pfarrhauses als moralisch überhöhter Instanz müssen hinterfragt werden, sagt Bischöfin Petra Bahr.
Die ForuM-Studie hat strukturelle Faktoren in der evangelischen Kirche ausgemacht, die sexualisierte Gewalt begünstigen, Täter schützen und die Aufarbeitung behindern. Dabei ging es auch um den leichtfertigen Gebrauch theologischer Begriffe wie Vergebung. Sind das aus Ihrer Sicht Anwendungsfehler oder bedarf es hier auch theologischer Korrekturen?
Petra Bahr: Theologische Begriffe können durch die Art und Weise ihres Gebrauch falsch, ja böse werden. Hier braucht es in der Tat eine Aufarbeitung der Sprache und der theologischen Bilder bis in die Liturgie, weil Sprache Wirklichkeit schafft. Eine Betroffene sexualisierter Gewalt, in deren Nähe ich aufgewachsen bin, hat erst jetzt, mit fast 90, erzählt, wie sie in jedem Gottesdienst bei der Vaterunserbitte „und vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ bis ins Mark erschüttert wurde, weil sie sich doppelt schuldig fühlte: als die, die sich selbst in eine furchtbare Situation gebracht hatte und als die, die ihrem Vergewaltiger bis heute nicht aus tiefstem Herzen vergeben kann. Vergebung kann man aber nicht verordnen oder gar erwarten. Die Bitte um Vergebung muss sich im übrigen an die richten, denen Gewalt widerfahren ist. Sie meint nicht zuerst die Entlastung der Täter.
Und wie steht es um die Rechtfertigung?
Bahr: Rechtfertigung der Sünder – als Beschreibung des Menschen in seinem heilungsbedürftigen Verhältnis zu Gott – rechtfertigt keine böse Tat. Diese Unterscheidung von Person und Werk im Namen einer zentralen theologischen Einsicht zu kaschieren ist Verdrehung dieser Einsicht.
Der Deutsche Ethikrat (DER) beschäftigt sich mit den „großen Fragen des Lebens“. Wären die Lernerfahrungen aus der Diskussion um sexualisierte Gewalt nicht ein Grund, auch dieses Gremium zu beschäftigen – etwa wenn es um Fragen der Beweisbarkeit oder Verjährung von Übergriffen geht?
Bahr: Der DER beschäftigt sich mit Themen, bei denen das ethische Urteil allererst gefunden werden muss, etwa bei neuen medizinischen Möglichkeiten oder bei der Einführung von Künstlicher Intelligenz. Es bedarf aber einer ethischen und theologischen Aufarbeitung der systemischen Bedingungen in Institutionen. „Macht“ als Thema der Institutionenethik – und nicht nur der Pastoraltheologie im engeren Sinne – gehört genau so dazu wie der Umgang mit Vertrauen, Verantwortung in Sorgeverhältnissen etc. Im Bereich der Pflegewissenschaften ist dieses Thema z.B. schon in intensiver Bearbeitung. Da kann man einiges lernen. Meines Erachtens braucht es auch den Blick in die jüngste Kirchengeschichte. Das Thema „Ehe im Pfarrhaus“, überhaupt das Pfarrhaus als Moralanstalt samt seiner hypertrophen Überhöhung hat vermutlich viel damit zu tun, dass sexualisierte Gewalt oft nicht als das bezeichnet wurde, was es war. Dazu gehört meines Erachtens auch das jahrzehntelange Fremdeln mit dem Rechtsstaat. Die Dinge alleine regeln zu wollen, auch im Umgang mit Verbrechen, zeigt sich in dieser Distanz.
Dieser Text erschien zuerst im ForuM-Bulletin, das regelmäßig über den aktuellen Stand der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und der Diakonie informiert. Der Newsletter erscheint etwa alle sechs Wochen und kann hier abonniert werden.