Morgenandacht

Ursula Richter

 Liebe Schwestern und Brüder! Als das Präsidium mich im Sommer wegen dieser Morgenandacht fragte, war das verbunden mit der Bitte, es möge doch eine Hinführung sein zu unserem heutigen Thema Christen und Juden. Allerlei Texte gingen mir im Kopf herum. Dann schaute ich ins Losungsheft, am 7. November, und es war klar: Der Fremdling soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer (3. Mose 19,34). Im Zusammenhang heißt es: Wenn ein Fremder bei dir in eurem Land wohnt, so sollt ihr ihn nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch. Liebe ihn wie dich selbst, denn ihr seid Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der Herr euer Gott.

Also, der Fremdling soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer. Das Schlimme ist, dass jüdische Menschen gar keine Fremden waren und auch heute keine Fremden sind. Aber in einer langen Geschichte des Antisemitismus wurden sie dazu gemacht. Oder wie könnten wir sagen, dass der Ölbaum, in den wir Christen eingepflanzt wurden, uns fremd wäre? Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich, schreibt Paulus den überheblich werdenden Heidenchristen in Rom. Wie kann die Wurzel, die mich trägt, mir fremd sein? Und doch ist das Ungeheure geschehen. Christen und die Kirche haben über Jahrhunderte, ja Jahrtausende vergessen und verdrängt, dass das Christentum seine Wurzeln in Israel hat, in Gottes erwähltem und geliebtem Volk, dem er Treue hält ewiglich. Wie viel bliebe übrig vom Christentum, würde man das streichen, was es dem Judentum verdankt. Was bliebe von Jesus, würde man ihn von seinen jüdischen Wurzeln lösen. <

Und dennoch: Mitten im Bekenntnis zu Jesus Christus hatte sich die Herabwürdigung seines Volkes Israels festgesetzt. Und viel zu lange haben wir als Evangelische Kirche in lutherischer Tradition gewartet, uns von den judenfeindlichen Äußerungen unseres Reformators Martin Luther zu distanzieren, die sich zum Teil lesen wie eine Handlungsanweisung für die Nazis oder für die Neonazis, die zu zitieren ich mich schäme.

Uns bis heute leuchtende Ausnahmen gab es Gott sei Dank während der Naziherrschaft, aber Ausnahmen. Ein die Shoah überlebender Jude fragte später in einer Anstalt der Inneren Mission, warum es Proteste von kirchlich bedeutenden Leuten, von Bischöfen, gegen die Massenmorde an Behinderten gegeben habe, aber nicht für die Juden. Gehörten sie etwa nicht dazu? Waren sie Fremde? Feinde der deutschen Gesellschaft und Feinde Jesu?

Aus dem Israelitischen Wochenblatt der Schweiz vom 28. Januar 2000 las ich, was Ami Bolak erzählt. Die Geschichte spielte sich in Altdorf in der Schweiz ab, sie hätte aber überall geschehen können. Knapp 400 Jahre weilt unsere Familie schon im Schweizer Land. Trotz der langen Sesshaftigkeit verspürte ich dieses sonderbare, bedrückende und für mich unerklärliche Antigefühl, die Feindschaft gegenüber jüdischen Menschen. Der Schlüssel für diese unheimliche Antipathie war: Jedes christlich erzogene Kind bekommt schon in frühester Jugend das Schönste, Erhabenste und Edelste vom Heiland zu hören. Aber, wer hat ihn nicht anerkannt, wer hat ihn verurteilen lassen? Wer? Die Juden. Diese Prägung geschieht auf solider breiter Basis in der Familie, im Unterricht und das prägt das Unterbewusstsein eines Kindes.

In Wirklichkeit, so Ami Bolak, sollte es umgekehrt sein. Es müsste das Gleiche passieren, was mir mit der kleinen Kathrin, der fünfjährigen Tochter meines Freundes Heini vor etlichen Jahren geschah. Ich war bei ihm zu Besuch und auf einmal fragte die kleine Kathrin ihren Vater Heini, ob es wahr sei, dass ich vom selben Volk wie der Heiland stamme. Das sei so, bestätigte mein christlicher Freund. Worauf Kathrin mich so bewundernd ansah, wie wenn ich ein Bruder von Jesus wäre.

Die kleine Kathrin hat es richtig erkannt. Ich meine, darum geht es doch, dass wir den Menschen jüdischen Glaubens vom Volk Israel, den Bruder und die Schwester Jesu entdecken und unsere Geschwister, mit denen wir vom gleichen Ausgangspunkt zum selben Ziel unterwegs sind. Sie sind keine Fremden, sondern Einheimische. Vielmehr wir waren die Fremden und sind durch Jesus einheimisch, eingepflanzt in ihre Gottesgeschichte, die schon viel länger besteht und bestehen bleibt.

Auf dem Berliner Kirchentag 1961 fragte Eva Reichmann beim ersten Vortrag einer Jüdin in die überfüllte Halle, warum wir Christen die Juden als Jesus' Feinde gehasst und nicht als Jesusbringer geschätzt hätten. Und wir dürfen uns auch die Frage stellen lassen, warum manche sich ihnen gegenüber heute lieber als die Jesusbringer verstehen statt einfach die Jesusnachfolger zu sein. Nachdem im April unsere Württembergische Landessynode ihre Klausurtagung "Christen und Juden" eröffnet hatte, bei der am ersten Tag jüdische Gesprächspartner und -partnerinnen da waren, begrüßte uns Landesrabbiner Yoel Berger mit den Worten Josephs, der im Auftrag seines Vaters Jakob geht, die Brüder zu suchen: "Nach meinen Brüdern halte ich Ausschau, die suche ich." - hoffentlich auch nach seinen Schwestern. Berger sagte in seinem Vortrag auch: Ich möchte schrecklich gern, dass die Christen wahre Christen bleiben und dafür sorgen, dass ihre Kinder und Kindeskinder auch diese bleiben von ganzem Herzen. Dann haben wir Juden auch eine Chance, neben ihnen, parallel. Denn heute ist es so, dass Menschen verfremdet von ihren religiösen Wurzeln aufwachsen und auch nicht mehr viel über den Heiland wissen. Die große christlich-jüdische Verantwortung wäre, so Berger, mehr darauf zu drängen, dass Verständnis für das Gebet, für die Psalmen, also für die Rohstoffe unserer Gebete, für eine jüngere Generation zu wecken. Denn die droht aus der Verbundenheit der Welt der Psalmen zu entlaufen.

Internet, so sagte er, und Psalmen kann man nicht immer leicht unter einen Hut oder auf einen Bildschirm bringen. Aber wir könnten beide ein Programm in Worldwide Web entwickeln. Wir haben so gute Programme miteinander, denken Sie an die Bibel. Und dann sagte er uns zum Schluss seines Vortrags: Lasst uns unseren Weg, und lasst uns einander auf unserem getrennten, aber doch gemeinsamen Heilsweg begleiten.

Einander begleiten, das heißt, Entfremdung überwinden, beieinander heimisch werden in gegenseitiger Achtung und völligem Respekt als Zeichen für die Welt. Dazu gehört, dass wir einander begleiten im Lesen und Studieren der Bibel, einen Dialog führen über unser Glauben und Hoffen, was uns gemeinsam ist, was uns unterscheidet, was wir voneinander lernen können. Nur so werden Vorurteile und falsche Bilder abgebaut.

Seit 25 Jahren gibt es bei uns in der Württembergischen Landeskirche in der Fortbildungsstätte Kloster Denkendorf bei Esslingen die Einrichtung "Wege zum Verständnis des Judentums". Das ist, glaube ich, eine Besonderheit in der EKD. Dort wird eingeladen zu christlich-jüdischen Thoralammwochen unter Anleitung von orthodoxen jüdischen Lehrenden. Diese besuchen auch Kirchengemeinden, um Gespräche über die Bibel zu führen. Dort, im Kloster Denkendorf, wurde auch eine Synagoge eingerichtet, und die Küche kocht streng koscher, damit sich die jüdischen Gäste bei uns heimisch fühlen können. Es gibt dort übrigens sogar Trialog-Angebote, zum Beispiel "Die Bedeutung des Elterngebots für Christen, Juden und Muslime".

Einander begleiten und Entfremdung überwinden, das heißt auch, zueinander stehen und füreinander eintreten, ganz konkret. Mein ganzes Leben lang werde ich jene ältere amerikanische Jüdin nicht vergessen, die mich vor 20 Jahren während meines Kibbuz-Einsatzes im Guesthouse von Quakilati (?) im Waschraum angesprochen und sofort als Deutsche erkannt hat. Unvermittelt sagte sie mir, sie wäre nicht böse mit mir und meiner Generation, aber wir sind verantwortlich, dass in unserem Land nicht mehr so etwas wie die Nazi-Ideologie und der Rassenhass aufkommen können. Ihre Worte haben mir in der letzten Zeit ganz besonders in den Ohren geklungen. In Anlehnung an die Topsätze der letzten Synode - Zum Wesen der Kirche gehört die Mission, zum Wesen der Kirche gehört die Diakonie und dass sie ökumenisch ist, sonst hört sie auf, Kirche zu sein - muss man dazusetzen: Zum Wesen der Kirche gehört ihre Verbundenheit zum jüdischen Volk und das Eintreten gegen Antisemitismus und Rassismus, sonst hört sie auf, Kirche zu sein.

Das ist umso wesentlicher, als heute wieder Anschläge auf jüdische Gotteshäuser, auf Leib, Leben und Eigentum jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger verübt werden und sie aufs Neue zu Fremden gemacht werden. Das trifft uns selbst in unseren Wurzeln, und es trifft Gott: "Der Fremdling soll unter Euch wohnen wie ein Einheimischer. Wenn ein Fremdling in Eurem Land wohnt, sollt ihr ihn nicht bedrücken. Liebe ihn wie dich selbst. Ich bin der Herr."

Offener Fremdenhass bricht heute wieder auf, und für mich noch viel unheimlicher und gefährlicher, wie viel verborgene und getarnte Komplizenschaft in unserem Volk schlummert. Dazu zähle ich auch die Gleichgültigkeit und das Wegsehen. Gott selbst wird in den Getretenen mit Füßen ins Gesicht getreten und im Stich gelassen. Aus der jüdischen Bibel, unserem Alten Testament, hören wir Gottes Willen im Blick auf die Herausforderung unserer Tage. Im Gemeinsamen Wort der Kirchen zur Migration und Flucht ist wunderbar ausgeführt, was das heißt. Eigentlich frage ich mich jetzt, warum dies kein Gemeinsames Wort der Kirchen und der Jüdischen Gemeinde geworden ist, nachdem das Ganze ja auch ein Wort aus der jüdischen Bibel als Titel bekommen hat: Und der Fremdling, der in deinen Toren wohnt. Jesus steht mit dem Beispiel vom Barmherzigen Samariter und anderen Beispielen von der grenzüberschreitenden Nächstenliebe ganz in der Tradition Israels. Diese Beispiele sind übrigens schlechte Beispiele für eine Leitkultur. Christen und Juden haben wieder Zeichen für die Welt, soviel gemeinsam zu sagen und zu tun im ganzen Bereich der Ethik und viel öfters als man denkt, auch mit den Muslimen zusammen.

Ein gutes Beispiel für die Gemeinden finde ich das Arbeitsheft zur Initiative "Lade deinen Nachbarn ein." zur Überwindung von Fremdenfeindlichkeit, gemeinsam von den ACK-Kirchen, dem Zentralrat der Juden und dem Zentralrat der Muslime in Deutschland. "Der Fremde soll bei Euch wohnen wie ein Einheimischer". Das bedeutet, der Wert einer Gesetzgebung kann an den Vorschriften gemessen werden, die Fremde betreffen. Warum? Der einzige Gott ist der Vater Adams, des Begründers einer einzigen unteilbaren Menschheit. Alle Menschen sind Brüder und Schwestern. Weshalb ist bloß ein einziger Mensch zu Beginn erschaffen worden, fragt der Talmud, um dich zu lehren, dass jener, der einen einzigen Menschen vernichtet, gleichsam die ganze Menschheit vernichtet hat. Und jener, der einen einzigen Menschen erhält, gleichsam die ganze Menschheit erhalten hat. Und damit keiner sage, mein Vater ist größer als deiner. Deshalb soll jeder denken: Um meinetwillen ist die Welt erschaffen worden. Das heißt, ich trage die Verantwortung für die anderen.

Darum liebe den Fremdling wie dich selbst in Deutschland und in Israel.

Wir beten mit Johann Amos Comenius zur heutigen Losung.

Herr, du kamest selbst als Gast zu uns auf die Erde. Wandle du des Fremdlings Last, dass er Nächster werde. Für des Flüchtlings einsam Los mach' Herz und Türen offen. Heimzukehren in deinen Schoß lässt uns alle hoffen. Amen.

Wir wollen jetzt alle miteinander Schalom hawerim(?) singen als Segens- und Friedenswunsch für unser Zusammenleben hier, auf der ganzen Welt und für Israel.

(Lied EG 434)