Morgenandacht zur Synode der EKD am 9. November 2020, Hannover

Andreas Piontek, Mitglied im Präsidium der Synode der EKD, hält die Morgenandacht am 9. November 2020

Andreas Piontek

Andreas Piontek, Mitglied im Präsidium der Synode der EKD (Archivbild)

Es gilt das gesprochenen Wort

- unredigierte Fassung - 

Ihnen allen an den Computerbildschirmen und hier im Kirchenamt wünsche ich zunächst einen guten Morgen. Ich hoffe, Sie haben alle gut geschlafen. Ich sehe Sie als kleine Kacheln hier vor mir sitzen.

Jeder Tag ist ein neuer Anfang. Unser Gott ist ein Gott der immer neuen Anfänge. So beginnen wir auch diesen Tag in seinem Namen, im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Der 9. November ist heute. Kaum ein anderer Tag in der deutschen Geschichte ist erinnerungsträchtiger. Der 9. November hat sich wie kein anderer Tag fest eingebrannt in unser Gedächtnis.

Der 9. November steht für glückliche Stunden der gewonnenen Freiheit durch den Mauerfall 1989. Mich überkommt noch immer ein Gänsehautgefühl, wenn ich an diese Zeit nach dem „sofort, unverzüglich“ von Günter Schabowski in der „Aktuellen Kamera“ denke. Froh und dankbar sind wir in diesem Jahr über 30 Jahre Wiedervereinigung.

Der 9. November steht aber auch für Stunden, für die man sich nur schämen kann, weil damit vor über 80 Jahren, 1938, der Holocaust begann. In Mühlhausen, wo ich lebe und arbeite, wurde, wie an vielen Orten, die Synagoge geschändet und die Tora-Rollen herausgeholt und verbrannt. Jüdische Mitbürger wurden in KZs und Gettos gesperrt. Die Kirchen sahen zu. Ein Jahr später wurde sogar ein kirchliches Entjudungsinstitut in Eisenach gegründet.

Und heute? Heute stehen wir an der Seite der jüdischen Geschwister, wenn, wie in Halle geschehen, Synagogen Ziel von Gewalt und Terror werden und jüdisches Leben bedroht wird.

Heute ist der 9. November ein Tag während der Coronazeit, in der wir mit Einschränkungen unserer Freiheit leben müssen. Dennoch hoffen, dennoch glauben an Jesus Christus, mittendrin. Diese Hoffnung und Zuversicht wird für mich unverwechselbar zum Ausdruck gebracht in dem Lied „Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt“ von Schalem Ben-Chorin.

Liebe Schwestern und Brüder, „ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt, ein Fingerzeig, wie das Leben siegt“. Wie denn? Es war schön, für mich zu sehen, wie viele von euch, von Ihnen mitgesunden haben. Leben mit Gott, aus dem Glauben an Jesus Christus in all den Unsicherheiten, in all dem Chaos?

Ein Fingerzeig, ein ganz besonderer Fingerzeig ist für mich jeden Tag das Bibelwort der Herrnhuter Losung. Für heute lesen wir: „Ich ließ mich suchen von denen, die nicht nach mir fragten, ich ließ mich finden von denen, die mich nicht suchten.“

So antwortet Gott auf die Klage des Volkes Israel über die Zerstörung Jerusalems. Ein eher verstörender „Fingerzeig“ von Gott in der damaligen Aussichtslosigkeit. Das wollten Sie vielleicht gerade nicht hören.

Gottes „Fingerzeig“, seine Impulse, sehen manchmal anders aus, als wir es erwarten. Gott lässt sich suchen von denen, die wir gar nicht im Blick haben, und finden von denen, die sich gar nicht erst die Mühe machen, ihn zu suchen. Das ist eine Zumutung. Haben wir die im Blick bei all unseren Zukunftsüberlegungen, oder sehen wir nur einseitig darauf, was wir schon immer sehen wollten?

 „Hinaus ins Weite“ – ja, das passt. Inwieweit können uns die Leitsätze den Blick schärfen auch für die, die nicht nach Gott fragen, keine Gottsucher sind und doch von Gott gefunden werden sollen? Beim Propheten Jesaja verheißt Gott einen neuen Himmel und eine neue Erde. Und unser Gott lädt uns dazu ein, uns darüber zu freuen.

 „Hinaus ins Weite“ heißt für mich auch, sich die Sehnsucht nach einem neuen Himmel und einer neuen Erde zu bewahren und Gottsucher zu bleiben.

 „Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer und Frauen zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“ Unverwechselbar ist dieses bekannte Bild von Antoine de Saint-Exupéry für mich, zeigt es doch, wie wichtig die innere Regung, also die Begeisterung für das Beginnen und das Gelingen, ist. Planung und Organisation sind wichtig, und die Diskussionen darüber sind auch notwendig, wie wir gestern in der Synode gemerkt haben. In der „Zeit“ wird getitelt: So viel Kampfgeist war selten in der EKD-Synode.

Aber noch wichtiger aber ist der Traum von der blauen See, des Himmels und der endlosen Weite. Es ist die Sehnsucht und Begeisterung für ein Leben und eine Welt, in der alle Platz haben und sich Gerechtigkeit und Frieden ausbreiten.

Das wäre doch eine wunderbare Zukunftsaufgabe: die Sehnsucht nach einem ganz neuen Anfang zu wecken und dabei die nicht zu vergessen, die nicht nach Gott suchen und nicht nach Gott fragen.

Die alten Worte des Propheten haben immer wieder eine Kraft entwickelt – Kraft, die Menschen begeistert und mitgenommen hat. Für sie war es ein „verblüffender Fingerzeig“. Wunderbar.

Und heute? Welche Kraft steckt für uns noch in diesen Worten? Wo berühren sie uns, richten die Herzen aus, sprechen so an, dass sie bewegen auf das Reich Gottes zu und auf seinen Schalom?

 „Vertraut den neuen Wegen, auf die der Herr uns weist, weil Leben heißt: sich regen, weil Leben wandern heißt.“ Ich sehe bei diesem Lied von Klaus-Peter Hertzsch seine leuchtenden Augen, mit denen er uns als Studenten begeisterte. Dieses Lied enthält für mich die Kraft, neuen Wegen zu vertrauen, ohne zu wissen, wo es genau langgeht. Das wusste Klaus-Peter Hertzsch im Sommer 1989 nicht – wir alle nicht. Und das Wunder geschah.

Was sind denn die neuen Wege? Das Volk Israel damals wusste das nicht so genau und wir heute auch nicht. Trotzdem vertrauen, weil Gott schon da ist, wo wir hinwollen, weil Gott wie damals eine gute Idee hat – sicher anders, als wir es oft denken.

Neben den guten alten Wegen, denen wir vertrauen können, macht der Herr, unser Gott, mit Jesus Christus neue Wege auf. So wie dieses Lied während des Mauerfalls und der Wiedervereinigung wie ein Lauffeuer durch unser Land in Ost und West ging, so kann es auch in die Zukunft unserer Kirche, die immer seine Kirche ist, begleiten.

„Seit leuchtend Gottes Bogen am hohen Himmel stand ...“ – besser und hoffnungsvoller kann man es nicht formulieren. „Seit leuchtend Gottes Bogen …“ – lasst uns voll Vertrauen und mutig neue Wege gehen als „leuchtender Bogen“ an seinem Himmel. Amen.

(Lied: „Vertraut den neuen Wegen“)

Die neuen Wege gehen wir nicht als Menschen allein Kraft unserer Planungskompetenz. Wir vertrauen der Kraft des Heiligen Geistes. Um sein Dasein zur Synode lasst uns bitten:

Herr, wir danken dir, dass du immer schon da bist. Dein Heiliger Geist schafft Leben, deine Kraft verbindet uns. Lass uns hören aufeinander und auf dich, wenn wir beraten und entscheiden an diesem Tag. Schenke uns von deiner Liebe, die vertraut und vergibt. Mit einer Sprache beten wir gemeinsam wie Jesus es uns gelehrt hat.

(Vaterunser)

Mit dem Volk Israel gibt Gott uns Anteil an seinem Segen: Segne uns, wenn wir Leid und Not, Schuld und Tod bedenken, was jüdischen Schwestern und Brüdern angetan wurde. Segne uns, wenn wir uns dankbar erinnern an das Geschenk der Freiheit nach dem Mauerfall. Segne uns, wenn wir beraten und entscheiden über den Weg deiner Kirche. So segne uns der allmächtige und barmherzige Gott, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Amen.

Liebe Schwestern und Brüder, gestern wurde gefragt: Was ist mit einer Kollekte bei einer digitalen Synodentagung? Heute können wir sagen: Ja, auch das ist am Ausgang möglich. Es wird später eingeblendet, wie. Über die Kollekten-App der Berliner St.-Marien-Gemeinde, in der der Eröffnungsgottesdienst stattfinden sollte, können wir Künstler, die in der Coronazeit durch Auftrittsausfälle betroffen sind, Bedürftige im Quartier, wie in einer Wärmestube, oder Obdachlose und internationale kirchliche Partner der Kirchengemeinde, die stärker von der Pandemie betroffen sind, unterstützen. Lassen Sie uns dieses neue Format einer digitalen Kollekte ausprobieren.

 (Musikalischer Beitrag)