Vor 100 Jahren wurde der christliche Widerstandskämpfer Kurt Gerstein geboren

Der Spion Gottes

Von Doris Stickler (epd)

Frankfurt a.M. (epd). Er war einer der unbeugsamsten Christen im Dritten Reich. Als "protestantischen Einzelkämpfer" würdigte ihn vor kurzem der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Wolfgang Huber. Doch der Name Kurt Gerstein ist in der Öffentlichkeit nahezu unbekannt - obgleich das Schicksal dieser ebenso tragischen wie schillernden Gestalt auf Bühne und Leinwand für Furore sorgte.

Vor 100 Jahren, am 11. August 1905, wurde Kurt Gerstein geboren. 40 Jahre später, am 25. Juli 1945, starb er unter ungeklärten Umständen in französischer Gefangenschaft. Vermutlich wäre Gerstein viel mehr Menschen in Deutschland ein Begriff, wenn sein gewagtes Doppelspiel durchschaut worden wäre und die Nazis ihn wie andere Widerstandskämpfer hingerichtet hätten.

So aber musste er über vier Jahre lang mit "Mördern pokern" und "ihre Grimassen schneiden", wie es Rolf Hochhuth in seinem Drama "Der Stellvertreter" formuliert. Im März 1941 schlüpfte er in die SS-Uniform mit dem Vorsatz, den Unrechtsstaat von innen heraus zu sabotieren.

Zu diesem Zeitpunkt war der 35-Jährige bereits zwei Mal von der Gestapo verhaftet, mehrere Wochen im KZ interniert, aus der Partei geworfen und mit reichsweitem Redeverbot belegt. Im Kirchenkampf aktiv, nahm der charismatische Redner kein Blatt vor den Mund. Dass Proteste und bekennende Schriften gegen den allseitigen Terror nichts auszurichten vermochten, begriff Gerstein jedoch bald.

Anfangs liebäugelte er noch mit der NS-Politik, auch auf Druck seines national-konservativen Elternhauses. Die endgültige Kehrtwende löste bei ihm die Ermordung seiner geistig behinderten Schwägerin durch die Nazis aus. Er beschloss in die "Feueröfen des Bösen" zu schauen und das Ausmaß der Grausamkeit zu ergründen.

Dies gelang ihm nur allzu schnell. Als Ingenieur und Mediziner dem Hygiene-Institut der Waffen-SS unterstellt und zum Chef der Abteilung "Gesundheitstechnik" befördert, oblag Gerstein die Beschaffung des Giftgases Zyklon B. Im August 1942 wurde er dienstlich in die Todeslager Belzec und Treblinka beordert, um an der Erprobung des Gases teilzunehmen. Dort war er gezwungen mit anzusehen, wie man hunderte nackter Männer, Frauen und Kinder in die Todeskammern trieb.

Zutiefst verstört begegnete er auf der Rückreise dem schwedischen Gesandtschaftsrat den er beschwor, die Alliierten zu unterrichten. Göran von Otter erinnerte sich wie Gerstein schluchzte, die Hände vors Gesicht schlug und immer wieder von dem gerade Durchlebten sprach. Er habe gedacht, dass der Mann "die Gewissensqualen nicht mehr lange aushalten" wird. Doch Gerstein hielt aus. Er hatte eine Mission: der "Spion Gottes" zu sein, so sein französischer Biograf Pierre Joffroy. Er setzte alles daran, die Weltöffentlichkeit zu alarmieren. Die erhoffte Reaktion des Auslands blieb indes aus.

Trotz der permanenten Gefahr entlarvt zu werden - für diesen Fall hatte Gerstein Zyankali im Siegelring versteckt - verbreitete er sein schreckliches Wissen. Es waren nicht wenige, die aus seinem Mund von den Gräueltaten erfuhren. Freunde, Vertreter der Bekennenden Kirche und Kontaktpersonen im niederländischen Widerstand informierte er ebenso wie weitläufige Bekannte. Der Apostolische Nuntius in Berlin allerdings komplimentierte ihn hinaus. In diesen Jahren war Gerstein ein vom Grauen zermürbter Mann. Dennoch verfolgte er weiter seinen Weg.

Der Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer notierte während der Haft, dass sich ein Christ nicht scheuen dürfe die Hände schmutzig zu machen, wo es die Tat der Verantwortung für die anderen erfordere. Gerstein erfüllte diesen Mahnruf in hohem Maß. Er griff dem "Rad in die Speichen": Als SS-Offizier beseitigte er Akten von politischen Verfolgten, versorgte Gefangene kofferweise mit Lebensmitteln und Zigaretten und fälschte Ausweise. Seine Berliner Wohnung war Treffpunkt von Dissidenten.

Geschützt hat ihn vermutlich sein schauspielerisches Talent und die äußere Erscheinung. Groß, schlank und blond entsprach er dem Idealtypus der Nationalsozialisten. Den Fortgang des Vernichtungswahns störte es freilich nicht, dass der Ingenieur auch Zyklon-B-Lieferungen als zersetzt deklarierte oder vorgab, sie für die eigene Entwesungsarbeit zu brauchen. Die Möglichkeiten seiner Sabotage waren begrenzt. Oft genug blieb ihm nichts anderes übrig als zu kollaborieren.

Doch Gerstein hat nicht wie "die Mehrzahl der 'guten Deutschen'" ruhig gewartet, "bis alle Juden tot waren", würdigte ihn der israelische Historiker Saul Friedländer. Die Tübinger Entnazifizierungskammer dagegen reihte ihn wegen der "Unwirksamkeit seiner Bemühungen" posthum in die Riege der Belasteten ein. Erst zwanzig Jahre nach seinem Tod - den Suizid am 25. Juli 1945 in französischer Gefangenschaft zweifeln etliche an - rehabilitierte ihn der damalige baden-württembergische Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger. Vor allem Juden hatten auf diesen Schritt gedrängt.

21. Juli 2005