Transplantationsmediziner Nagel: „Es gibt keine Freiheit wegzusehen“

Das Mitglied im Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentags plädiert für eine „Erklärpflicht“ zur Organspende

Eckhardt Nagel, Direktor des Instituts für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften an der Uni Bayreuth und Mitglied im Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentags

Eckhardt Nagel, Direktor des Instituts für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften an der Universität Bayreuth und Mitglied im Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentags.

Berlin (epd). Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will die Zahl der Organspenden erhöhen und wirbt für eine Regelung, bei der jeder Organspender ist, der nicht widerspricht. Die Widerspruchsregelung könnte ein praktikabler Weg sein, sagt der Direktor des Instituts für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften an der Universität Bayreuth, Eckhard Nagel. Der langjährige Transplantationsmediziner, der auch dem Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentags angehört, will aber lieber eine „Erklärungspflicht“. „Ich will, dass sich jeder bewusst damit auseinandersetzt“, sagte er im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Herr Nagel, es gibt in Deutschland eine neue Debatte um Organspende. Die große Koalition hat sich vorgenommen, die Zahl der Organspenden zu erhöhen. Woher kommt der Mangel?

Eckhard Nagel: Schon 2007 haben wir - damals im Nationalen Ethikrat – gefordert, das Spenderpotenzial in Deutschland besser auszuschöpfen. Das gilt bis heute unverändert. Trotz der hohen Befürwortung in der Bevölkerung – das zeigen Umfragen – gelingt es nicht, die Spenderzahl zu erhöhen. Dafür gibt es auch organisatorische Gründe. Weniger als die Hälfte der Krankenhäuser mit Intensivstationen erkennen und melden potenzielle Organspender. Das liegt unter anderem daran, dass die Transplantationsbeauftragten zu wenig Zeit für ihre Tätigkeit haben. Bislang machen sie das in der Regel ehrenamtlich.

Bundesgesundheitsminister Spahn will das ändern, indem die Beauftragten je nach Größe der Intensivstationen dafür freigestellt werden?

Nagel: Das ist ein richtiger Weg. Zudem sollen die Krankenhäuser künftig die vollen Kosten für die Organentnahme erstattet bekommen. Auch das ist wichtig, denn für viele Krankenhäuser kann eine Organspende derzeit ein finanzielles Verlustgeschäft sein.

Wie kann das sein?

Nagel: Der Chirurg und Mitbegründer der Transplantationsmedizin in Deutschland, Rudolf Pichlmayr, ging bei der Organspende wirklich von einer Spende aus. Das heißt, dass alle Beteiligten, also auch die Institutionen und Ärzte ihre Leistung und Arbeitszeit spenden. Transplantationsärzte wie ich haben das noch Anfang der 90er Jahre unentgeltlich gemacht. Ein solches Denken ist uns durch die Ökonomisierung unserer Lebenswelten in der Gesellschaft insgesamt verloren gegangen. Ein Geschäftsführer eines Krankenhauses muss sich heute fragen lassen, warum es ein Defizit gibt, und kann das sich und seinen Trägern schwerlich mit einem gesellschaftlichen Auftrag, mit einer Spende erklären.

Wie viel geht denn heute einem Krankenhaus verloren, wenn es eine Organspende unterstützt?

Nagel: Im Prinzip erstatten die Kassen heute durch eine Pauschale die Kosten der Organentnahme. Der mit der Organspende verbundene Aufwand ist aber höher. Ein Patient fällt bei den Krankenkassen in dem Moment aus der Finanzierung, sobald der Tod festgestellt und bescheinigt ist. Die zusätzlichen Versorgungskosten sind dann nicht mehr gedeckt, obwohl der Patient bis zur Organentnahme gepflegt und beatmet werden muss. Ein Tag auf der Intensivstation kostet zwischen 1.000 und 2.000 Euro. Ganz grob als Orientierung kann man sagen, dass ein Krankenhaus pro Organentnahme zwischen 3.000 und 5.000 Euro verlieren kann.

Gesundheitsminister Spahn will aber noch weitergehen und sieht in der sogenannten Widerspruchsregelung eine Möglichkeit zur Steigerung der Organspendezahlen. Jeder, der nicht widerspricht, soll demnach künftig als Spender gelten. Wie stehen Sie zu seinem Vorschlag?

Nagel: Viele Transplantationsmediziner – ich auch – waren überzeugt, dass die Vorteile und segensbringenden Möglichkeiten der Transplantation alle Menschen so klar überzeugen würden, dass sie sich einen Organspendeausweis zulegen. Das war ein gigantischer Fehlschluss. Wie es vielen guten Vorsätzen geht, geht es auch dem Organspendeausweis. Er ist vielleicht gerade nicht verfügbar, kommt auf den Stapel mit nicht dringlichen Papieren, wird vergessen oder verdrängt. Diese Zurückhaltung, die im Kontext mit dem eigenen Sterben nachvollziehbar ist, überwindet man nicht mit Aufklärung und einer Bitte.

Also die von Spahn vorgeschlagene Widerspruchsregelung?

Nagel: Ich habe ein Problem mit dem Terminus. Ich würde von Erklärungspflicht sprechen. Wir haben in unserer Sozialgesetzgebung die Grundannahme, dass Solidarität untereinander eine zentrale Größenordnung ist. Das ist etwa umgesetzt in der Krankenversicherung, in der ich mit meinen Beiträgen für andere eintrete, die schicksalshafte Erkrankungen haben. Drei bis vier Patienten sterben jeden Tag in der Bundesrepublik, weil kein Spenderorgan zur Verfügung steht. Ich finde, es ist eine Pflicht, sich mit diesem Leid auseinanderzusetzen und auf Grundlage dieser Informationen eine Entscheidung zu treffen. Eine Auseinandersetzung und ein klares Bekenntnis jedes Bürgers zu dieser Frage kann man erwarten und zumuten. In den USA muss man das beispielsweise erklären, wenn man einen Führerschein haben will. Im digitalen Zeitalter gibt es sicherlich viele Möglichkeiten, das praktikabel umzusetzen.

Eine Erklärungspflicht ist aber etwas anderes als eine Regelung, bei der automatisch Zustimmung angenommen wird bis zum Widerspruch. Sie wollen also eine andere Regelung als Spahn?

Nagel: Ich will, dass sich jeder bewusst damit auseinandersetzt. Der Gesundheitsminister hat aber ein Argument auf seiner Seite: die Frage nach den Sanktionsmöglichkeiten, wenn sich ein Mensch nicht entscheiden will. Das ist schwierig. Ich kann die Politik verstehen, wenn sie deshalb sagt, die Widerspruchsregelung ist ein praktikablerer Weg.

Kritiker des Spahn-Vorschlags, darunter auch der Ethikratsvorsitzende Peter Dabrock sagen, das wirke wie eine Organabgabepflicht. Sehen sie das auch so?

Nagel: Die Pflicht zur Erklärung ist keine Pflicht zur Organspende. Darum geht es eben nicht. Man kann doch auch Nein sagen.

Kritiker auch aus der evangelischen Kirche argumentieren, es nehme Menschen die Freiheit, sich nicht zu entscheiden. Gibt es nicht ein Recht, sich mit dem Thema nicht auseinanderzusetzen?

Nagel: Es würde bedeuten, es gäbe eine Freiheit, wegzusehen, das Leiden anderer Menschen auszublenden. So habe ich den Freiheitsbegriff noch nie verstanden. Es gibt in einer solidarisch organisierten Gemeinschaft keine Freiheit, einfach wegzusehen bei Schwierigkeiten und Problemen dieser Welt. Das hieße, ich schaue nicht nach Syrien, auf die schwierige soziale Lage von vielen Menschen in diesem Land. Für die Kritiker aus der Kirche sage ich es mal so: Der barmherzige Samariter hatte auch die Freiheit, wegzusehen und einfach vorbeizulaufen. Das hat er aber nicht getan.

Erst vor wenigen Jahren hat der Gesetzgeber bei der Organspende die Entscheidungsregelung eingeführt, verbunden mit einer Informationskampagne der Krankenkassen. Hat das nichts gebracht?

Nagel: Umfragen zeigen, dass 85 Prozent der Deutschen für Organspende sind. Die aktuellen Zahlen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sagen, dass etwa 36 Prozent der Deutschen einen Organspendeausweis haben. Vor vier, fünf Jahren waren es noch weniger als 15 Prozent. Da hat sich also was getan, aber nicht substanziell.

10.000 Menschen in Deutschland warten auf ein Spenderorgan. Wenn man das vermutete Potenzial ausschöpft, wäre dann allen geholfen?

Nagel: Auf Grundlage vorliegender Berechnungen kann man davon ausgehen. Um es an einer Zahl deutlich zu machen: Wenn man in Deutschland an einer terminalen Nierenerkrankung leidet und an die Dialyse muss, beträgt die Wartezeit heute auf eine Niere zwischen fünf und acht Jahren. In Österreich oder Spanien, wo jeweils die Widerspruchsregelung gilt, sind es ein bis zwei Jahre. Dass diese Differenz bleibt, kann niemand in Deutschland mit Blick auf die Betroffenen wünschen.

Interview: Corinna Buschow (epd)