Osternacht: Die Herzmitte des Kirchenjahres

Historische, theologische und liturgische Schwerpunkte

Kerzen im Osternachtsgottesdienst

Beim Osternachtsgottesdienst wird das Licht in die dunkle Kirche hineingetragen und an alle weitergegeben.

Um Mitternacht in die Kirche ge­hen oder vor Sonnenaufgang? Dazu muss es schon besondere Anlässe geben wie Weihnach­ten und Ostern. Und diese Anlässe füh­ren auch zu besonderen Gottesdiensten wie die Christnacht oder die Osternacht.

Die Osternacht wird seit der Frühzeit der Christenheit besonders gefeiert. An­fangs begingen Christen die Osternacht am Passahfest, also in der Nacht vom 14. auf den 15. Nisan des jüdischen Kalen­ders. In der Passahnacht, in Ex 12,42 als „Nacht des Wachens“ bezeichnet, wurde des Befreiungshandelns Gottes beim Exo­dus gedacht. In der jüdischen Auslegung und Frömmigkeit verband sich damit früh die Erinnerung an die Schöpfung, an Abraham und die Bindung Isaaks so­wie an die Erwartung des Kommens des Messias samt der damit einsetzenden endgültigen Erlösung am Ende der Zeit.

Frühe christliche Feiern der Osternacht

Diese Elemente prägten auch die frühen christlichen Feiern der Osternacht. An­fangs wohl aus zwei Phasen, einer Trauer­ und einer Freudenfeier, bestehend endete hier das gemeinsame Fasten. Das Fasten und Wachen diente der intensiven Erwar­tung des wiederkommenden Christus, der als „Passahlamm“ (1 Kor 5,7) die entscheidende Wende zum Heil der Men­schen vollbracht hat und dessen Kommen („Maranatha“, aram.: „Komm, o Herr“ [1 Kor 16,22; Didache 10,6]) erfleht wird.

Auf dem Konzil von Nizäa (325) wur­de nach heftigen Streitigkeiten, die über 100 Jahre gedauert hatten, der Oster­termin auf den Sonntag nach dem ersten Frühlingsvollmond festgelegt und damit vom jüdischen Festkalender getrennt; da­mit waren gleichzeitig die theologisch bestimmten Festgehalte der Schöp­fung, der Auferweckung Jesu als Neuschöpfung und der endzeitlichen Vollendung („achter Tag“) verbunden. Um die Wen­de vom 4. zum 5. Jahrhun­dert entwickelte sich, ausgehend von der Osternachtfeier in Jerusalem, eine viertei­lige Grundform, die bis heute prägend ist: Lichtfeier, Lesungen, Taufe, Abendmahl.

In dieser Grundform ist viel Raum für un­terschiedliche Gestaltungen, theologische Deutungen sowie für sakramentale und spirituelle Akzente. Selbstverständlich steht die Feier der Auferweckung Jesu im Zentrum, aber sie ist umgeben von den reichen Themen und Motiven der Schöp­fung, der Befreiung aus Ägypten, der Völkerwallfahrt zum Zion am Ende der Zeit, der Belebung der Totengebeine nach Ez 37, der Taufe als Mitsterben und Mitau­ferstehen. In christlicher Umformung sind damit auch die Gehalte der Passahtradi­tion aufgehoben und bewahrt. Auch wenn die Termine nicht mehr identisch sind, fei­ert die Kirche die Osternacht in bleibender und achtsamer Verbundenheit mit der Heilsgeschichte und den Hoffnungen Israels.

Erst Mitte des 20. Jahrhunderts wieder entdeckt

Nach Jahrhunderten des Verfalls und Verschwindens der Osternacht wurde sie zunächst unabhängig voneinanderin der evangelischen und der katholischen Kirche seit der Mitte des 20. Jahrhunderts neu entdeckt. Mit großem Elan wurden Liturgien zur Osternacht entworfen, ausprobiert und je nach kirchenrechtlicher Konstellation agendarisch geordnet. In den evangelischen Kirchen und Gemeinden gibt es heute eine Vielzahl an Osternachtgottesdiensten in pluralen Gestaltungen und Stilen: in agendarischer oder frei entworfener Gestalt, verbunden mit alter Tradition, ausgerichtet auf die Möglichkeiten und Herausforderungen vor Ort. Auch die Uhrzeiten des Beginns sind verschieden: Einige beginnen vor Mitternacht und enden kurz nach Mitternacht, andere beginnen kurz vor Sonnenaufgang, wieder andere feiern und wachen mehrere Stunden vom Karsamstagabend bis zum Ostermorgen. Auch damit werden theologische Schwerpunkte gesetzt: die Feier des göttlichen Geheimnisses „in der Mitte der Nacht“, der erlebnisreiche Transitus vom Dunkel zum Licht, die strapaziöse Nachtwache und das Aushalten der Dunkelheit von der Nacht bis zum Morgen.

„Christus, Licht der Welt“

Die vierteilige Grundform kennzeichnet auch heute evangelische wie katholische Osternachtfeiern. In der Lichtfeier wird die Osterkerze vorbereitet, entzündet und mit dem alten Liedruf „Christus, Licht der Welt“ in die dunkle Kirche getragen. Von ihr wird das Licht an jeden weitergeben. In der vom schimmernden Kerzenlicht geprägten Atmosphäre wird das Osterlob noch verhalten gesungen, traditionell mit dem um 400 in Norditalien oder Südgallien entstandenen „Exsultet“ („Frohlocket nun, ihr Engel und himmlischen Heere“), das die universale Weite des Heilshandelns Gottes aufzeigt und im bekannten Dialog („Der Herr sei mit euch [. . .] erhebet eure Herzen [. . .]“) auch das Abendmahl anklingen lässt. Die drei bis zwölf Lesungen spannen den Bogen von der Schöpfung über den Exodus bis zur Neuschöpfung. Die Taufe und das Taufgedächtnis bieten mit Röm 6 auch eine sperrige Tauftheologie, vertiefen aber gleichzeitig die ökumenische Ausrichtung des gemeinsamen Sakraments. Nach Osterevangelium, freudig gesungenem Halleluja und Predigt ist die Feier des Abendmahls von der Nacht des Verrats, der Lebenshingabe Jesu, der Mahlgemeinschaft mit dem auferweckten und erhöhten Herrn und der Bitte um seine Wiederkunft theologisch reich gestaltet und um Kreuz und Auferstehung zentriert.

Nicht wenige Gemeinden laden anschließend zum Osterfrühstück. Dies ist einerseits eine wünschenswerte gesellige Fortsetzung einer auch anstrengenden und langen Liturgie, nimmt andererseits aber auch altes Brauchtum der Segnung von Speisen (z. B. Brot, Butter, Eier und Fleisch), auf die in der Fastenzeit verzichtet worden war, wieder auf und lässt schließlich ein fröhliches Fastenbrechen gemeinsam begehen, zu dem je nach örtlichen Gegebenheiten auch Nachbarn aus anderen Religionen eingeladen werden können.

Fröhliche und gelassene Lebenszuversicht

Die Osternacht ist  theologisch wie liturgisch anspruchsvoll: der Höhepunkt und die Herzmitte des Kirchenjahres! Und sie öffnet weite Horizonte: Konfessionalistisch Ostern zu feiern ist ein Widerspruch in sich. Denn die Osternacht zeigt nicht nur ökumenische Konvergenzen in Gebeten, Lesungen, Riten und der gesamten Feiergestalt, sondern verbindet die gegenwärtige Gemeinde vor Ort mit der zeit- und raumübergreifenden Kirche und dem in ihr bezeugten Gottesbekenntnis. Die Kirche bekennt und lobt den einen Gott, der sein Volk aus der Sklaverei befreit, Christus von den Toten auferweckt und zu sich erhöht hat und der kommen wird, den Kosmos zu verwandeln. Daher hat Karl Barth recht: „Wer die Osterbotschaft gehört hat, der kann nicht mehr mit tragischem Gesicht umherlaufen und die humorlose Existenz eines Menschen führen, der keine Hoffnung hat.“ Fröhliche und gelassene Lebenszuversicht: Das ist evangelisch!

Prof. Dr. Helmut Schwier,
Professor für Neutestamentliche und Praktische Theologie
an der Theologischen Fakultät der
Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg


Der Text stammt aud dem Magazin „Grüße aus dem Kirchenjahr. Kirchliche Feiertage als kultureller Reichtum“ der EKD.