Der Pfarrer und sein Kiez

Der Berliner Pfarrer Kaspar Plenert geht da hin, wo die Menschen sind

Pfarrer Kaspar Plenert im Gespräch vor der Kirchentür
Pfarrer Kaspar Plenert (2.v.l.) im Gespräch vor der Kirchentür.

Pfarrer Kaspar Plenert sitzt auf einem Stuhl vor seiner Kirche. Vor ihm liegt der Leopoldplatz, eines der härtesten Pflaster Berlins. Vergangenen Herbst schrieb eine Zeitung, Drogenhandel, Schlägereien, Raub und Diebstähle seien dort „nach wie vor Alltag“. Doch an diesem Wintertag wirkt der Platz friedlich, Eltern sind mit ihren Kindern unterwegs. Seit zwei Jahren ist der 39-jährige Kasper Plenert Pfarrer der Nazarethkirchengemeinde. Er bietet eine Sprechstunde an, doch die nutzen nur wenige Stadtteilbewohner. Plenert sagt: „Wenn die Leute nicht mehr in die Kirche kommen, dann müssen wir da hingehen, wo die Leute sind, um herauszufinden, was sie brauchen.“

Jeden Donnerstag sitzt er daher nun mit seiner Pfarrerkollegin Judith Brock vor dem Kirchenportal – das ganze Jahr, auch wenn es kalt ist. Vier Stühle, ein Tisch. Schon von Weitem ist das rote Tischtuch zu sehen. Darauf steht eine Schale mit Keksen und Mandarinen. „Kaffe‘ mit‘m Pfaffe“ steht in großen Buchstaben auf einem Plakat. Ein Mann bleibt an der Treppe zur Kirche stehen. „Hallo“, ruft Plenert ihm zu. Und schon stapft der Mann die Stufen hinauf und fängt an zu erzählen: Zwölf Jahre lang habe er im Wedding gewohnt, aber jetzt wolle er wegziehen, aufs Land. Plenert hört oft Geschichten von Leuten, die ihre Heimat verlieren, denen ihre Stadt abhanden kommt. Sie vermissen ihre gewohnten Läden, können die steigenden Mieten irgendwann nicht mehr aufbringen.

Nachts kommen die Junkies

Oft wartet schon jemand, dass ein Stuhl an Plenerts Tisch frei wird. Zum Beispiel eine junge Frau mit ihren drei Kindern. Sie würde gerne mal in den Gottesdienst gehen, erzählt sie, aber die Kinder würden da bestimmt stören. Der Pfarrer lädt sie zum Familiengottesdienst ein. Vor allem ältere Leute kommen in seinen Gottesdienst. Die Kerngemeinde, die jeden Sonntag kommt, ist klein. Aber mit denen will er rausgehen. Dreimal haben sie in diesem Jahr schon auf dem Platz Gottesdienst gefeiert. „Wir wollen uns trauen, auch laut und sichtbar zu sein.“

Früher war vor der Kirche der Treff der Trinkerszene. Kaputte Flaschen, betrunkene Leute, Pöbeleien führten dazu, dass viele Menschen den Platz mieden. Vor vier Jahren zog der Bezirk Wedding die Reißleine, entschied zusammen mit den Händlern aus der Umgebung, der Kirche und den Trinkern: Alle sollen etwas vom Leopoldplatz haben. Gleichzeitig sollten die Trinker nicht verdrängt werden. „Die brauchen auch einen Ort, wo sie sein können, wie sie sind“, sagt Plenert. Den haben sie jetzt, hinter der Kirche sind Unterstände aufgestellt.

Der Berliner Pfarrer Kaspar Plenert spricht mit einer Besucherin des Leopoldplatzes
Pfarrer Kaspar Plenert stellt den roten Tisch vor seine Kirchentür
Pfarrer Kaspar Plenert im Gespräch vor der Kirchentür
Die Nazarethkirche auf dem Berliner Leopoldplatz

Gerade weil der Leopoldplatz ein schwieriges Pflaster sei, müsse die Kirche öffentlich sein und sich einbringen, findet Plenert. „Wir wollen uns nicht verstecken.“ Das könnte er auch gar nicht, schließlich gehört ein großer Teil des Leopoldplatzes der Kirche. Deshalb trifft Plenert jeden Monat Vertreter von Bezirk, Verkehrsbetrieben und Ladenbesitzern. Gemeinsam überlegen sie, wie der Platz sauberer und sicherer wird. Ein aktuelles Problem: Vor allem nachts konsumieren Junkies auf dem Leopoldplatz Drogen.

Als Nächstes kommt ein Mann auf Plenert zu, der mit dem Pfarrer über die 99 Namen Gottes im Islam sprechen will. Im Wedding ist nur noch ein kleiner Teil der Leute evangelisch. Knapp ein Drittel derer, die im Bezirk Mitte – zu dem der Stadtteil Wedding gehört – wohnen, haben nicht die deutsche Staatsbürgerschaft. Nur ein Drittel gehört christlichen Kirchen an. Aber selbst jene, die eigentlich keinen Bezug zur evangelischen Kirche haben, freuen sich über Plenerts offenes Ohr.

Ein Stammgast und zwei Geflüchtete

Dann kommt ein älterer Herr, einer der Stammgäste des Treffpunkts. Er wohnt um die Ecke, ist alleinstehend und freut sich über die Gesellschaft. „Der macht den Wedding sauber, räumt da auf, wo er sich gerne aufhält“, erzählt Plenert anerkennend. Auch Plenert engagiert sich. Zusammen mit Ehrenamtlichen richtet er gerade eine Kleiderkammer mit Spenden aus der Gemeinde ein. Jeder soll dort das bekommen, was er braucht. Für mehr Sozialarbeit reiche seine Zeit nicht. Er hat hier nur eine halbe Stelle. Mit der anderen Hälfte berät er Kirchengemeinden bei Fragen zum Kirchenasyl. Sprich: einen Flüchtling aufnehmen, weil er durch die drohende Abschiebung „an Leib, Leben oder seiner Menschenwürde bedroht ist“, wie Plenert es formuliert. Auch zwei Geflüchtete kamen neulich auf einen Kaffee vorbei. „Der Antrag des einen war abgelehnt worden und der andere kam im Heim nicht klar“, erinnert sich Plenert. Er konnte die Situation nicht ändern, aber er war der erste, der ihnen zuhörte, der nicht mit den Behörden zu tun hatte.

Eines der größten Vorbilder von Kaspar Plenert ist Ernst Lange. Der Berliner Theologieprofessor eröffnete eine Kirche in einem Laden; er wollte die einbinden, die nie in eine Kirche gehen würden. Und auch von Martin Luther hat er sich zwei Sachen abgeschaut. Er versucht, die Menschen so zu akzeptieren, wie sie sind. „Einen Kaffee kriegst du hier, egal was du gemacht hast“, sagt Plenert. Schließlich schrieb schon Luther, dass die Menschen von Gott nicht angenommen werden, weil sie besonders toll sind, sondern allein durch Gottes Gnade. Und: Wie damals Luther fordert Plenert eine klare Sprache von der Kirche. Er findet das Wort „Nächstenliebe“ veraltet. „Was soll das sein?“, fragt er, und antwortet dann selbst: „Menschen helfen! Wenn wir zu den Leuten gehen wollen, müssen wir ihnen aufs Maul schauen.“ Das hat er heute wieder getan. Nach zweieinhalb Stunden trägt Kaspar Plenert seinen Tisch zurück in die Kirche. Auf dem Weg zu seinem Büro auf der anderen Seite des Platzes dreht er sich noch eine Zigarette; er nimmt den Kollar, das weiße Stück Stoff, aus seinem Hemdkragen und zieht den Reißverschluss seiner gestreiften Matrosenjacke zu. Nächsten Donnerstag wird er wieder hier sitzen. Auch wenn es friert.

Birte Mensing (für das JS-Magazin)