Pogromgedenken in der Sophienkirche Berlin

Wolfgang Huber

 "Das Andenken des Gerechten bleibt im Segen". Dieses Wort aus den Sprüchen Salomonis steht als Losung über dem heutigen Tag. Was bräuchten wir dringender, als dass die Erinnerung an die unschuldigen Opfer, dass das Andenken dieser Gerechten, nicht als Flucht über uns hängt, sondern für uns zu einem Segen wird, zum Impuls für eine bessere Zukunft. Diese Hoffnung führt uns auch heute abend zusammen.

Nach der beeindruckenden Demonstration für Menschlichkeit und Toleranz setzen wir die Tradition fort, am 9. November hier in der Sophienkirche zusammenzukommen. Es ist wichtig, dass wir in diesem Gotteshaus miteinander beten, uns erinnern und in ökumenischer Gemeinschaft diesen besonderen Tag begehen, der auf so unterschiedliche Weise mit der deutschen Geschichte des vergangenen Jahrhunderts verbunden ist.

Im 10. Jahr der deutschen Einheit haben die antisemitischen Anschläge ein erschreckendes Ausmaß erreicht. Umgeworfene Grabsteine, beschmierte Synagogen, sogar Brandanschläge und körperliche Bedrohung haben wir erlebt oder sind uns berichtet worden. Auch heute gilt wie im Jahr 1938: Wer Synogogen schändet, Gotteshäuser also, der greift in einem die Menschen an, die dort beten, und den Gott, zu dem dort gebetet wird.

In der deutschen Öffentlichkeit hat man sich daran gewöhnt, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus in einem Atemzug zu nennen. Es mag ja sein, dass für viele Täter zwischen beidem kein Unterschied besteht. Aber auch hierin dürfen wir ihre Denkweise nicht übernehmen. Menschen jüdischen Glaubens, die unter uns leben, sind keine "Fremden"; sie sind keine Ausländer, keine Gäste aus einem anderen Land, sondern Deutsche.

Wenn in Deutschland trotz der Zuwanderung des letzten Jahrzehnts nur wenige Juden leben, dann ist das noch immer die bedrückende Folge der systematischen Verfolgung und organisierten Vernichtung der deutschen Juden zur Zeit des Nationalsozialismus.

Viele der Geschäfte, über denen vor gut 60 Jahren Namen wie Mosche Grünbaum oder Sarah Kohn geschrieben waren, sind nur noch auf alten Fotos zu sehen.

Die meisten von uns haben keinen Mitschüler und keine Mitschülerin erlebt, die selbstverständlich am Sabbat in die Synagoge gehen. Vielleicht nehmen wir auch gar nicht mehr wahr, wie sehr uns diese Begegnung fehlt.

Aber sie fehlt uns. Wenn man denn von der Kultur reden wollte, die Deutschland geprägt hat - von der "Leitkultur", wenn es denn sein soll - muss man sagen: ohne die bestimmende und inspirierende Rolle von Juden lässt sie sich nicht denken. Rahel Varnhagen oder Heinrich Heine, Moses Mendelssohn oder Felix Mendelssohn-Bartholdy, Albert Einstein oder Victor Klemperer: was wäre die "deutsche Kultur" ohne sie?

50 Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkrieges finden wir hier in der Spandauer Vorstadt zwar die zarten Neuanfänge eines vormals pulsierenden jüdischen Lebens. Die Cafés und Restaurants in der Oranienburger Straße, das Leo-Baeck-Haus in der Tucholskystraße oder das jüdische Gymnasium hier in der Großen Hamburger Straße stehen dafür.

So lange jüdische Gemeindehäuser in einem hochzivilisierten Land mit gepanzerten Fahrzeugen geschützt werden müssen, ist aber in unserer Stadt und unserem Land keine Normalität eingekehrt. So lange wir Tag für Tag erneut befürchten müssen, was auch vorgestern wieder in der Großen Hamburger Straße geschah, ist das Gedächtnis der Opfer genauso gefährdet wie unsere gemeinsame Kultur.

Daran zu erinnern, was geschehen ist, kommen wir hier zusammen. Wir wollen die Erinnerung für uns und unsere Nachfahren wach halten und aus dem Wissen um die Schuld und das Versagen der Vergangenheit Zukunft gestalten. Darauf kommt es uns an.

Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, die in dieser Woche in Braunschweig tagt, hat heute im Blick auf das Verhalten der Evangelischen Kirche zur Zeit des Nationalsozialismus klar zum Ausdruck gebracht, dass die Kirche nicht nur durch Unterlassen eine Mitschuld trägt "an dem Frevel, der durch Menschen unseres Volkes an den Juden begangen worden ist", sondern dass sie ebenso durch aktives Tun zur Katastrophe des Holocaust beigetragen hat. Die Synode bekennt die Verstrickung unserer Kirche in die "Vorgeschichte und Ermöglichung" des Holocaust und sagt ausdrücklich: Unsere Kirche ist "durch ihre unheilvolle Tradition der Entfremdung und Feindschaft gegenüber den Juden hineinverflochten in die Vorgeschichte und Ermöglichung der systematischen Vernichtung des europäischen Judentums." Diese Worte sind spät; aber sie sind gerade heute nötig.

Die Scham über zugefügtes Unrecht, die Verantwortung für die Folgen vergangener Schuld und die Pflicht zur Erinnerung müssen unser gemeinsames Handeln bestimmen. Gemeinsam ist uns die Zukunft anvertraut. An der Vergangenheit sehen wir, wie wichtig das Eintreten für die gleiche Würde jedes Menschen ist. In unserer Gegenwart erleben wir, wie gefährdet diese Würde noch immer ist. Was tun wir für eine Zukunft, die von der Achtung vor der unteilbaren Menschenwürde geprägt ist?

Diese Würde ist für uns alle ein Gottesgeschenk. Deshalb ist sie auch nicht abgestuft nach Leistungen und Hautfarbe, nach Staatsangehörigkeit und Reisepass, nach Überzeugung und Religionszugehörigkeit. Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde - darum ist jeder Mensch einmalig und kostbar.

Wo immer Menschen verspottet, verfolgt oder drangsaliert, verletzt oder gar getötet werden, weil sie "anders" sind, werden wir als Christen herausgefordert, die Stimme gegen Fremdenfeindlichkeit und rassistisches Denken zu erheben. Deshalb ist das Gebot der Stunde das beherzte Eintreten für eine Zivilcourage, die allem Gerede von der natürlichen Überlegenheit eines Volkes widersteht.

So bitte ich Sie in diesem Jahr besonders eindringlich, sich jeder Kumpanei mit fremdenfeindlichem Gerede - auch im Kreis von Freunden, Verwandten und Kollegen - zu widersetzen.

Als Christen lassen wir uns so erinnern an die Botschaft des Propheten Jesaja: O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen (Jes 62, 6).

Wir wollen keinen Zweifel daran lassen, dass das Eintreten für die Würde eines jeden Menschen unmittelbarer Ausdruck unseres Glaubens ist. Als Zeichen dafür dienen auch die Kerzen, mit denen wir nachher zum Gedenkstein gehen werden. Sie sind ein Zeichen für Gewaltlosigkeit. Sie sind auch eine Erinnerung an die "Revolution der Kerzen". Sie tragen das Licht der Menschenfreundlichkeit Gottes auf die Straße. Wer nur danach fragt, ob rechtsextreme Gewalttäter sich vom Kerzenschein beeindrucken lassen, erklärt all das für gleichgültig. Gewiss: Weder Kerzen noch Demonstrationen sind für uns ein Alibi. Aber wer sich nicht selbst durch das Licht der Menschenfreundlichkeit Gottes den Weg hat zeigen lassen, wird rechtsextremem Reden und Handeln nicht viel entgegenzusetzen haben. Wenn wir uns darin einig sind, dass Zivilcourage in unserem Land von Nöten ist, dürfen wir nicht verheimlichen, dass wir zu dieser Courage - auch dann, wenn sie Mühe macht und unbequem ist - Zeichen der Gemeinschaft brauchen. Dass dieser Abend ein solches Zeichen der Gemeinschaft wird, ist mein herzlicher Wunsch.

Amen