Predigt: 8. Sonntag nach Trinitatis, 22. Juli 2018, 10 Uhr Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche

Prälat Dr. Martin Dutzmann, Bevollmächtigter des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union

Predigttext: 1. Korinther 6, 9-14.18-20

 

Liebe Schwestern und Brüder,

„Das tut man nicht!“ Die Älteren unter uns erinnern sich. Mit diesen Worten haben die Eltern, Kindergärtnerinnen und Lehrer manches Verbot begründet. Die Begründung „Das tut man nicht!“ erschien allen Beteiligten einigermaßen plausibel. Jedenfalls reichte sie meistens aus, damit wir Kinder bestimmte Dinge nicht taten.

Das ist heute anders, denn unsere Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend gewandelt. Die Freiheit, das eigene Leben zu gestalten, ist deutlich größer geworden als sie noch in den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts war. Wie ein Mensch sich kleidet, ob er sich die Haut tätowieren oder die Nase piercen lässt, wie er spricht, mit wem er Kontakt hat, woran er glaubt, wen er liebt – all das ist ihm überlassen. Der Satz „Das tut man nicht!“ ist gegenstandslos geworden und schon gar nicht taugt er mehr, um ein Verbot zu begründen.

Nicht alle Menschen kommen damit gut zurecht. Wer in einer anderen Kultur aufgewachsen ist und jetzt in Deutschland lebt, hat mitunter Mühe mit der freien Lebensweise, die den meisten von uns inzwischen so selbstverständlich ist. Auch manche Menschen, die hier groß geworden sind, sind verunsichert und sehnen sich nach festen Verhaltensregeln.

Über die Freiheit und ihre Grenzen wurde bereits im ersten Jahrhundert nach Christus in der christlichen Gemeinde in Korinth diskutiert. Dort gab es Leute, die vollmundig verkündeten: „Alles ist mir erlaubt!“ - und auch gleich eine theologische Begründung zur Hand hatten: „Alles ist mir erlaubt. Wie könnte es denn anders sein? Gehöre ich nicht seit meiner Taufe allein Gott? Bin ich nicht durch die Taufe ein freier Mensch geworden, frei von allen Regeln und Konventionen?“

Im 6. Kapitel seines ersten Korintherbriefes setzt Paulus, der Gründer der Gemeinde in Korinth, sich damit auseinander. Auch er proklamiert die Freiheit - und setzt ihr zugleich Grenzen. Konkret spielt Paulus das an der im antiken Korinth verbreiteten Prostitution durch: Dürfen Männer die Dienste einer Prostituierten in Anspruch nehmen oder nicht? Paulus antwortet mit einem klaren Nein.

Interessant ist aber nun weniger diese Antwort des Apostels als seine grundsätzliche Position zu jenem vollmundigen „Alles ist mir erlaubt!“ Gestatten Sie mir deshalb, dass ich jetzt nicht den gesamten für heute vorgeschlagenen Predigttext zum Thema Prostitution vorlese – er ist im Übrigen recht kompliziert formuliert und schwer zu verstehen - sondern mich auf die grundsätzlichen Bemerkungen des Apostels konzentriere. Paulus setzt der Freiheit drei Grenzen

Die erste Grenze der Freiheit wird sichtbar, wenn Paulus feststellt: „Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten.“

„Alles ist mir erlaubt! schreibt Paulus und zitiert damit zunächst einmal zustimmend die Freiheitsfanatiker in der Gemeinde von Korinth. Auch für Paulus ist die Taufe der befreiende Neuanfang. Unmittelbar zuvor schreibt er: „Ihr seid reingewaschen, ihr seid geheiligt, ihr seid gerecht geworden durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes. Er hätte auch schreiben können: „Durch eure Taufe seid ihr freie Menschen geworden! Jesus Christus hat euch erlöst. Gottes Geist hat euch frei gemacht. Ihr seid allein Gott verpflichtet und niemandem sonst.“ Frohe Botschaft für die Korinther und für uns.

Doch dann schränkt Paulus ein: „… aber nicht alles dient zum Guten.“  Diese Einschränkung verdankt sich genau genommen einer Erweiterung der Perspektive. Paulus verharrt nicht bei dem selbstbezogenen „Alles ist mir erlaubt!“ sondern er fragt: Wenn ich alles tue, was mir erlaubt ist - was bedeutet das eigentlich für die anderen Menschen? Nützt ihnen mein Tun oder schadet es ihnen? Dient mein Handeln zum Guten oder wirkt es sich nachteilig aus?

Die Erweiterung der Perspektive, wie Paulus sie vornimmt, ist auch heute alles andere als selbstverständlich. Vor drei Jahren hat der Deutsche Bundestag darüber debattiert, ob Ärzte Patienten, die vor lauter Schmerzen und Schwäche nicht mehr leben können und wollen, beim Sterben helfen dürfen. Die Befürworter sagten: „Es ist die Freiheit eines jeden Menschen, leben oder sterben zu wollen. Niemand darf diese Freiheit einschränken, schon gar nicht der Staat.“  Die beiden großen Kirchen, die auch an der Diskussion beteiligt waren, haben mit dem Apostel Paulus die Perspektive erweitert und gefragt: „Dient es zum Guten, wenn Menschen von ihrer Freiheit, nicht mehr leben zu wollen, Gebrauch machen und sich von Ärzten dabei helfen lassen? Wie wirkt das auf andere Menschen? Wird die Selbsttötung womöglich „gesellschaftsfähig“? Und sehen sich dann schwer kranke und sterbende Menschen genötigt, ihr Sterben zu beschleunigen, um die Kräfte und die Finanzen der Angehörigen nicht weiter zu strapazieren? Ich bin sehr dankbar dafür, dass auch der Gesetzgeber letztlich diese weite Perspektive eingenommen und daraus Konsequenzen gezogen hat. Am Ende hat der Bundestag per Gesetz verboten, dass Ärzte regelmäßig Patienten helfen, sich das Leben zu nehmen und stattdessen die ambulante und stationäre Begleitung sterbender Menschen gestärkt.

Die zweite Grenze, die Paulus der Freiheit setzt, ist diese: Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll Macht haben über mich.“ Bei der ersten Grenze ging es um die Frage: Nützt oder schadet es anderen Menschen, wenn ich von meiner Freiheit Gebrauch mache? Jetzt gibt Paulus zu bedenken, ob es mir selbst zuträglich ist, alles zu tun, was mir erlaubt ist. Er scheint daran erhebliche Zweifel zu haben. Offenbar ist ihm bewusst, dass hemmungslos genutzte Freiheit in Zwang umschlagen kann. Vielleicht kennt Paulus Menschen, von denen wir heute sagen würden, dass sie suchtkrank sind. Menschen, die verkünden: „Alles ist mir erlaubt! Auch Alkohol zu trinken. Auch Drogen zu konsumieren. Auch mich an Glücksspielen zu beteiligen “ Und die irgendwann die Kontrolle über ihr Tun verloren haben, so dass sie gar nicht mehr anders können, als Alkohol zu trinken, Drogen zu nehmen oder zu spielen. Davor warnt der Apostel. Er ist davon überzeugt, dass so die Freiheit, die Gott uns Christen in der Taufe geschenkt hat, verspielt wird.

„Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll Macht haben über mich.“ Diese Warnung des Paulus scheint mir in einer Zeit, da schon Kinder von morgens bis abends im Netz unterwegs sind, besonders dringlich. Neulich habe ich gehört, dass viele Teenager, insbesondere Mädchen, sich morgens zurechtmachen, dann ein Selfie ins Netz stellen und das Haus nicht verlassen – zu verlassen wagen – bevor eine bestimmte Anzahl anerkennender Kommentare eingegangen ist. Viele Menschen – nicht nur Kinder und Jugendliche – halten es ohne Smartphone überhaupt nicht mehr aus. Abends gilt ihm er letzte und morgens der erste Blick und wehe, der Akku ist leer und keine Steckdose in der Nähe.

Dass wir uns richtig verstehen. Ich rede nicht einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber moderner Technik oder gar einer Technikfeindlichkeit das Wort. Dazu weiß auch ich viel zu gut, dass wir den Herausforderungen durch die Digitalisierung nur gewachsen sein werden, wenn wir den Umgang mit der digitalen Technik beherrschen. Aber eben: beherrschen. Wir müssen die Technik beherrschen und nicht die Technik uns! Wenn Paulus sich heute zur Sache äußern würde – und ich bin überzeugt, er würde nicht schweigen – dann würde er vermutlich hohe Investitionen in die digitale Bildung vor allem von Kindern und Jugendlichen fordern. Und die Überschrift über alle diese Bildungsanstrengungen würde lauten: „Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll Macht haben über mich.“

Die dritte Grenze, die Paulus der Freiheit setzt, kleidet er in die Form einer Frage: „Wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch ist und den ihr von Gott habt, und dass ihr nicht euch selbst gehört?“

Bei den beiden ersten Grenzen ging es darum, dass, wer ungehemmt von seiner Freiheit Gebrauch macht, möglicherweise anderen Menschen und sich selbst schadet. Jetzt setzt Paulus die menschliche Freiheit in Beziehung zu Gott. Er erinnert die Korinther und uns an einen Sachverhalt, der uns immer wieder mal aus dem Blick gerät: „Ihr gehört doch Gott“, schreibt er, „und Gottes Geist wohnt in euch. Euer Leib ist also kostbar. Er ist nicht weniger als Gottes Wohnort. Da könnt ihr doch mit eurem Leib nicht machen, was ihr wollt und mit ihm umgehen, wie es euch gerade passt!“

Paulus nennt den Leib einen „Tempel des Heiligen Geistes“. So will er die Korinther davon abhalten, die Dienste von Prostituierten in Anspruch zu nehmen.  Diesen Gedanken wird man als Christ auch heute nicht von der Hand weisen können. Aber auch jenseits von Prostitution ist die Erinnerung des Paulus von Bedeutung: „Euer Leib ist kostbar! Er ist Gottes Wohnort! Geht nicht rücksichtslos mit ihm um!“ Diese Mahnung mögen jene hören und zu Herzen nehmen, die täglich Raubbau an ihrer Gesundheit treiben. Die mitten in der Nacht dienstliche Mails schreiben. Die keinen Dienstschluss und kein Wochenende kennen. Die es selbst im Urlaub nicht schaffen, abzuschalten und sich zu erholen. Auch ihnen redet Paulus ins Gewissen: „Wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch ist und den ihr von Gott habt, und dass ihr nicht euch selbst gehört?“

Ist uns alles erlaubt? Ja, antwortet Paulus. Ihr sei ja getauft und gehört allein Gott. Ihr seid frei. Und dann zieht der Apostel unserer Freiheit Grenzen – allerdings nicht mit einem kategorischen „Das tut man nicht!“, sondern mit drei Argumenten:

„Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten.“

„Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll Macht haben über mich.“ Und:

„Wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch ist und den ihr von Gott habt, und dass ihr nicht euch selbst gehört?

Paulus zieht diese Grenzen nicht, um uns zu gängeln oder zu bevormunden, sondern damit wir freie Menschen bleiben.

Der heutige Predigtabschnitt schließt mit den Worten: „Ihr seid teuer erkauft; darum preist Gott mit eurem Leibe.“ Im darauffolgenden Kapitel  heißt es ganz ähnlich: „Ihr seid teuer erkauft; werdet nicht der Menschen Knechte.“ Daraus spricht die brennende Sorge des Apostels Paulus um unsere Freiheit. Und sage niemand, diese Sorge sei heute unbegründet.