Predigt zum Römerbrief, Kapitel 2

"Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet?"

Römer 2, 4

Gnade sei mit euch und Friede…

Als Predigtwort bedenken wir einen Vers aus dem eben gehörten Abschnitt aus dem Brief des Paulus an die Römer. Paulus schreibt: „Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet?“

Liebe Schwestern und Brüder,

am Abend des 11. September 2001 füllten sich die Kirchen. Die Bilder von den einstürzenden Zwillingstürmen in New York, die am Nachmittag wieder und wieder im Fernsehen gezeigt worden waren, hatten auch uns in Europa und in Deutschland zutiefst erschüttert. Die verletzten, flüchtenden, schreienden Menschen – wir empfanden Erschrecken und Mitleid und spürten zugleich: Auch wir waren gemeint. Auch wir hätten unter den Opfern sein können. All das ließ uns in den Kirchen Trost suchen…

14 Jahre später versammelten sich eine große Gemeinde im Kölner Dom und unzählige Menschen vor ihren Fernsehgeräten zu einem Trauergottesdienst. Wenige Tage zuvor, am 24. März 2015, war ein Flugzeug der Lufthansa-Tochter Germanwings in den französischen Alpen zerschellt. 150 Menschen starben, darunter eine Schulklasse aus Haltern in Nordrhein-Westfalen. Der Co-Pilot hatte die Maschine absichtlich zum Absturz gebracht. Entsetzen, Mitleid, Angst, Ratlosigkeit – all das kam im Gottesdienst in Worten, Liedern und Gebeten zum Ausdruck…

Täglich geraten Menschen in Not, und täglich werden Menschen von der Not anderer zutiefst berührt. Gut, wenn dann die Kirchen nicht nur ihre Türen öffnen, sondern auch aus dem Schatz ihrer Traditionen schöpfen. Wenn alte Lieder wie der Choral „Aus tiefer Not schrei ich zu dir!“ der Angst und dem Erschrecken Ausdruck verleihen. Wenn Bibelverse sehr unmittelbar ihre tröstende Wirkung entfalten, zum Beispiel das Psalmwort: „Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn.“

Gut ist es auch, wenn die Kirchen nicht nur nach großen Katastrophen mit vielen Toten und Verletzten für Menschen in Not geöffnet sind. Wie wichtig das für trauernde und ängstliche Menschen ist, davon zeugen als stehen gelassene Gebete ungezählte brennende Kerzen. Und davon erzählen Bücher, denen Menschen ihre Bitten und Fürbitten anvertrauten: „Lieber Gott, lass meinen Mann nicht sterben! Mach mein Kind gesund! Lass meine Mutter endlich Frieden finden!“

Der Volksmund hat für all das ein Sprichwort: „Not lehrt beten.“ Ja, das stimmt. Not lehrt beten. Wir, die wir regelmäßig die Hände zum Gebet falten, sollten diesen Satz aber nicht mit herablassendem oder gar tadelndem Unterton sagen. Wir sollten uns davor hüten, auf jene, die nur bei Gelegenheit oder nur in der Not beten, herabzusehen. An wen sollen Menschen sich denn wenden in ihrer Not, wenn nicht an den, der alle Not wenden kann?!

Not lehrt beten. Wenn Menschen keinen Ausweg mehr sehen, erinnern sie sich an Gott, kehren um zu ihm, flehen ihn um Hilfe an. Da drängt sich die verstörende Frage auf: Ist das etwa Gottes Plan und Strategie? Fügt Gott uns Schmerzen zu, damit wir Buße tun? Damit wir zu ihm umkehren und ihn um Heilung anflehen? Lässt er uns in Not geraten, damit wir uns ihm zuwenden und ihn um Rettung anrufen? Was wäre das für ein Gott! Ein Zyniker! Ein Sadist!

In dem Predigtwort für den heutigen Buß- und Bettag hören wir das genaue Gegenteil: „Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet?“

Gott möchte, dass wir zu ihm umkehren. Gott will, dass wir uns ihm zuwenden. Er will das, weil er uns liebt. Weil er mit uns zu tun haben will – jeden Tag neu. Und weil er uns liebt, setzt Gott nicht auf fragwürdige und zynische pädagogische Maßnahmen, sondern auf Güte. Sie soll uns zur Buße, zur Umkehr führen. „Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet?“ Am Buß- und Bettag muss es deshalb zunächst um Gottes Güte gehen…

Eines der wohl schönsten Lieder von der Güte Gottes ist Psalm 104. Der Mensch, dessen Gebet uns da überliefert ist, versucht, die Werke Gottes zu beschreiben. In vielen Versen erzählt er geradezu atemlos, was der Schöpfer getan hat und täglich neu tut: „Du breitest den Himmel aus wie ein Zelt; du baust deine Gemächer über den Wassern. (…) Der du das Erdreich gegründet hast auf festen Boden, dass es nicht wankt immer und ewiglich. (…) Du lässest Brunnen quellen in den Tälern, dass sie zwischen den Bergen dahinfließen, dass alle Tiere des Feldes trinken und die Wildesel ihren Durst löschen.  (…) Du lässest Gras wachsen für das Vieh und Saat zu Nutz den Menschen, dass du Brot aus der Erde hervorbringst, dass der Wein erfreue des Menschen Herz und sein Antlitz glänze vom Öl und das Brot des Menschen Herz stärke.“ Schließlich bekennt der Psalmist staunend: „Herr, wie sind deine Werke so groß und viel! Du hast sie alle weise geordnet und die Erde ist voll deiner Güter.“ Wer bis hierher gefolgt ist, kann kaum anders als in das Gotteslob einzustimmen.

„Herr, wie sind deine Werke so groß und viel! Du hast sie alle weise geordnet und die Erde ist voll deiner Güter.“ Gerade dieses staunende Gotteslob ist es aber auch, dass uns nachdenklich werden lässt…

“Herr, wie sind deine Werke so groß und viel.“ Unzählige Arten von Tieren und Pflanzen, von Säugetieren, Fischen, Vögeln, Reptilien, von Blumen, Sträuchern, Bäumen und Farnen hat Gott ins Leben gerufen. Wir genießen diese Vielfalt, wo immer wir können: Der weite Blick über Uferlandschaften im Urlaub, die Freude am blühenden Rosenstock im Garten, an Eichhörnchen in den Bäumen und Fröschen am Teich…

Was haben wir daraus gemacht?

Wir haben die Vielfalt eingeschränkt. Rücksichtslos haben wir Gottes Schöpfung ausgebeutet und in Kauf genommen, dass Tier- und Pflanzenarten ausstarben. Viele Arten sind unwiederbringlich verloren, andere höchst bedroht. Umkehr tut not.  

„Herr, wie sind deine Werke so groß und viel!“ Das gilt ganz besonders auch für uns Menschen. Welches Wunder ist jeder einzelne Mensch! Und wie bunt und vielfältig die Menschheit ist! Wie unterschiedlich die Traditionen und Mentalitäten! Wie kostbar die vielen verschiedenen Lebensgeschichten und Erfahrungen einzelner Menschen und ganzer Völker! Wie spannend die Begegnungen zwischen ihnen! Und doch versuchen Menschen immer wieder - und verstärkt in unserer Zeit -, diese Vielfalt zu reduzieren, das eigene Volk auf Kosten anderer zu profilieren, fremde Menschen zu deklassieren. Dabei gebieten Gottes Werke, groß und viel, etwas ganz anderes.

„Herr, wie sind deine Werke so groß und viel! Du hast sie alle weise geordnet.“ Man muss kein Naturwissenschaftler sein, um zu erkennen, dass Gottes Werke weise geordnet sind. Alles hängt mit allem zusammen und ist aufeinander bezogen. Ist etwa das Klima im Gleichgewicht, so sind es auch die Weltmeere. Sind die Weltmeere gesund, so sind auch die Meerestiere und -pflanzen und nicht zuletzt die Menschen lebensfähig. Die weise Ordnung der Werke Gottes – sie ist seit längerer Zeit durch uns Menschen gestört. Darauf weisen Naturwissenschaftler hin, und Tausende junger Menschen werden nicht müde, Woche für Woche öffentlich daran zu erinnern und zur Umkehr zu rufen. Auch die Synode der EKD hat sich in der vergangenen Woche deutlich zu Wort gemeldet…

Unmittelbar vor dem staunenden Gotteslob heißt es im 104. Psalm: „Dann geht der Mensch hinaus an seine Arbeit und an sein Werk bis an den Abend.“ Auch das ist Ausdruck der Güte Gottes: Gott ist nicht der einzige, der Werke tut. Mit ihm soll der Mensch schaffen und wirken. Der Schöpfer beteiligt den Menschen an seinem schöpferischen Tun. Was für eine Auszeichnung! Eine Auszeichnung, die uns aber zugleich erkennen lässt, wo es der Umkehr bedarf: Wo Menschen arbeiten können und wollen, aber keine Gelegenheit dazu bekommen, entspricht das nicht dem Willen des Schöpfers. Und ganz sicher ist es Gott zuwider, wenn Menschen für ihre Arbeit einen Hungerlohn erhalten oder ihre Gesundheit ruinieren, damit andere billig Kaffee und T-Shirts kaufen können.

„Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet?“ Wir haben uns heute Morgen von Gottes Güte, wie sie in Psalm 104 besungen wird, leiten lassen. Dabei haben wir gesehen, wie Gottes Güte zur Buße leitet, zur Umkehr…

Wir können neben dem Psalm auch auf Geschichten hören, die von Gottes Güte erzählen. Auf Geschichten aus dem Alten und Neuen Testament. Geschichten von Menschen, denen die Schuld vergeben wurde. Geschichten von Kranken, die wieder zu Kräften kamen. Geschichten von Hungernden, die satt wurden. Oder wir zeichnen die Spuren der Güte Gottes in unserer eigenen Lebensgeschichte nach. Viele dieser Geschichten fordern uns heraus wie es Psalm 104 tut. Mögen sie uns zur Buße leiten, auf dass wir erfahren, was wir in den Klageliedern Jeremias lesen: „Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu und deine Treue ist groß.“ (Klgl. 3, 22)

Und der Friede Gottes…