Predigt am Buß- und Bettag in der St. Marien-Kirche zu Berlin (Offenbarung 3,14 - 22)

Wolfgang Huber

"An den Engel der Gemeinde in Laodicea schreibe: So spricht Er, der ‚Amen' heißt, der treue und zuverlässige Zeuge, der Anfang der Schöpfung Gottes: Ich kenne deine Werke. Du bist weder kalt noch heiß. Wärest du doch kalt oder heiß! Weil du aber lau bist, weder heiß noch kalt, will ich dich aus meinem Mund ausspeien. Du behauptest: Ich bin reich und wohlhabend, und nichts fehlt mir. Du weißt aber nicht, dass gerade du elend und erbärmlich bist, arm, blind und nackt. Darum rate ich dir: Kaufe von mir Gold, das im Feuer geläutert ist, damit du reich wirst; und kaufe von mir weiße Kleider, und zieh sie an, damit du nicht nackt dastehst und dich schämen musst; und kaufe Salbe für deine Augen, damit du sehen kannst. Wen ich liebe, den weise ich zurecht und nehme ihn in Zucht. Mach also Ernst, und kehr um! Ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wer meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich eintreten, und wir werden Mahl halten, ich mit ihm und er mit mir. Wer sieht, der darf mit mir auf meinem Thron sitzen, so wie auch ich gesiegt habe und mich mit meinem Vater auf seinen Thron gesetzt habe. Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt."
(Offenbarung 3,14-22)

I.
Wir haben Jesus nicht hinter uns, sondern vor uns. Das ist die Botschaft des Buß- und Bettags. Jesus kommt jetzt zu uns: "Ich stehe vor der Tür und klopfe an." Unser Leben rückt er in das Licht seiner Gegenwart: "Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, einer unter diesen meinen geringsten Schwestern, das habt ihr mir getan." Um dieser Botschaft willen ist der Buß- und Bettag ein notwendiger Tag, sei er staatlich abgesichert oder nicht. Wir brauchen ihn.

"Ich stehe vor der Tür und klopfe an." Das ist die Botschaft in dem Sendschreiben an die christliche Gemeinde in Laodicea, in dem siebten und letzten Sendschreiben, das die Offenbarung des Johannes enthält. Eine schneidende Bußpredigt ist dieser Brief, eine Abfuhr sondergleichen: "Du bist weder kalt noch heiß. Wärest du doch kalt oder heiß! Weil du aber lau bist, weder heiß noch kalt, will ich dich aus meinem Mund ausspeien." An wen richtet sich dieses vernichtende Urteil? Wer ist diese Gemeinde, an die so geschrieben wird, gegen Ende des ersten christlichen Jahrhunderts?

Ein kurzer Steckbrief könnte ungefähr so heißen: Laodicea, eine im dritten Jahrhundert vor Christi Geburt gegründete Stadt, ist im kleinasiatischen Phrygien gelegen. Mehrere wichtige Handelsstraßen treffen hier zusammen; unter römischer Herrschaft wird Laodicea zur Provinzhauptstadt. Banken, Textilindustrie und pharmazeutische Industrie lassen sich hier nieder. Bekannt ist die Stadt vor allem für schwarze Wollteppiche und eine hervorragende Augensalbe, die hier hergestellt wird. Im Jahr 60 nach Christi Geburt sucht ein Erdbeben die Stadt heim. Die Nachricht erreicht auch die Hauptstadt Rom. Von dort bietet man finanzielle Hilfe an. Doch stolz und kühl antworten die Stadtväter von Laodicea: Wir sind reich und wohlhabend, uns fehlt nichts.

Genau diese abweisende Antwort nach der Erdbebenkatastrophe des Jahres 60 nach Christi Geburt wird in dem Sendschreiben an die Gemeinde in Laodicea zitiert: "Du behauptest: Ich bin reich und wohlhabend, und nichts fehlt mir. Du weißt aber nicht, dass gerade du elend und erbärmlich bist, arm, blind und nackt." Die unbedachte Äußerung der Stadtväter, dieser Ausdruck hochfahrenden Stolzes gilt nun als charakteristisch für die Stadt im Ganzen, auch für die christliche Gemeinde in ihren Mauern. Ironisch wird aufgegriffen, was die Laodicener für ihre Stärke halten: die Textilindustrie, die doch nicht verhindern kann, dass sie nackt dastehen, die berühmte Augensalbe, die ihnen doch nicht sehen hilft. "Gerade du bist elend und erbärmlich, arm, blind und nackt." Und so wird es bleiben, bis sie von ihrem hohen Ross heruntersteigen und zugeben: Textilindustrie und pharmazeutische Industrie nützen uns nichts. Gottes weiße Kleider bewahren allein davor, nackt dazustehen. Weine Salbe erst öffnet uns die Augen, dass wir sehen können. Nur wer Halt im Letzten sucht, findet klare Orientierung. Wer sich auf die Antworten im Vorletzten verlässt, geht in die Irre.

II.
"Ich stehe vor der Tür und klopfe an." Von allen sieben Sendschreiben des Sehers Johannes trifft keines so unmittelbar in unsere eigene Situation wie dieses. Menschen sind hier angesprochen, die sich im Wohlstand eingerichtet haben, ja mehr noch: die Wohlstand und Glück verwechseln. Genau das macht sie blind. Der Reichtum an Verfügbarem macht sie blind für ihre Armut im Unverfügbaren. Die Behäbigkeit, mit der sie sich im Vorletzten einrichten, raubt ihnen die Unruhe für das Letzte - für das, was allein im Leben unbedingte Geltung haben kann. Auch uns trifft das scharfe Gerichtswort: "Du bist lau, weder heiß noch kalt." Du verwechselst Vorletztes und Letztes. Du verweigerst dich der Aufgabe, der Gnade den Weg zu bereiten. Du verstellst durch dein eigenes Leben anderen den Weg zum Glauben.

Ist unsere Zeit nicht weithin dadurch geprägt, dass sie das Vorletzte mit dem Letzten vertauscht und verwechselt? Sind wir nicht besessen von der Sucht nach dem Verfügbaren und machen dadurch das Unverfügbare unsichtbar? Und haben wir uns nicht auch als Gemeinde diesem Geist der Zeit weithin unterworfen? Glück, Selbstentfaltung und gelingendes Leben werden heute weithin gleichgesetzt mit dem Vergnügen, das sich mit Geld kaufen lässt, mit dem Genuss, für den bezahlt wird, mit der Anhäufung von Gütern und von Macht. Das öffentliche Ansehen einer Person beruht auf Haben statt auf Sein, auf Wissen statt auf Weisheit. Erleben tritt an die Stelle von Erfahrung, Spaß an die Stelle von Glück. Ich will alles jetzt - heißt die Parole, die sich ganz und gar im Vorletzten einrichtet und das Letzte verdrängt. In der Erlebnisgesellschaft sind wir in der Gefahr, uns ganz und gar im Jetzt einzurichten. Erinnerungslosigkeit ist die Folge. Hoffnungslosigkeit aber ist ihre Schwester.

III.
"Ich stehe vor der Tür und klopfe an." Jesus kommt jetzt zu uns und rückt unser ganzes Leben, unsere Vergangenheit und unsere Zukunft, in das Licht seiner Gegenwart: "Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, einer unter diesen meinen geringsten Schwestern, das habt ihr mir getan." Der Buß- und Bettag reißt uns heraus aus dem Sog der Erlebnisgesellschaft. Er will uns davor bewahren, dass wir die Vergangenheit verdrängen. So will er uns dabei helfen, der Zukunft standzuhalten und in der Gegenwart zu bestehen.

Aufmerksamkeit für die geringsten Brüder und Schwestern Jesu Christi ist das Thema dieses Tages. Dass wir das Schicksal derer ans Licht heben, die unter uns lebten und nicht wahrgenommen wurden, ist unsere Aufgabe. Denn nur dann werden wir in Zukunft auf die achten, die an den Rand gedrängt, ausgenutzt und missbraucht, ausgebeutet und gedemütigt werden. An Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter wollen wir uns heute erinnern, die hier in Berlin lebten und arbeiteten, darbten und starben. 55 Jahre liegt das zurück; und doch ist ihr Schicksal noch kaum gehoben, ihre Spur noch nicht aufgenommen, eine Wiedergutmachung noch nicht in Angriff genommen. Am Buß- und Bettag 2000 verpflichten wir uns dazu, ihrem Schicksal nachzugehen. Wir wollen damit nicht aufhören, bis die Überlebenden Wiedergutmachung erfahren. Wir sagen es zu uns selbst, aber wir sagen es auch in die Öffentlichkeit: Die Zeit drängt. An jedem Tag sterben ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Die Schuld daran, dass sie zur Arbeit gezwungen wurden, trugen unsere Väter und Mütter. Die Verantwortung dafür, das uns Mögliche zur Wiedergutmachung zu tun, liegt bei uns. Vor dieser Verantwortung versagen wir an jedem Tag, den die Wiedergutmachung weiter hinausgeschoben wird. Es gibt nicht nur eine erste, es gibt auch eine zweite Schuld.

Das Ausmaß, in dem in Deutschland Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter eingesetzt worden sind, wurde lange verdrängt. Nationalistische Vorurteile gegenüber den sogenannten "Ostarbeitern" haben das Unrechtsbewusstsein von Anfang an weithin ausgeschaltet. Der Antikommunismus im Westen Deutschlands und die antifaschistische Freizeichnung von aller konkreten Verantwortung im Osten Deutschlands haben nach 1945 einer intensiven Aufarbeitung der Zwangsarbeit während der Kriegsjahre im Wege gestanden.

Auch für die Kirchen gilt das. Evangelische wie katholische Kirche haben in der NS-Zeit Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter beschäftigt. Moralische Skrupel gab es offenbar nicht. Objektive Notwendigkeiten - beispielsweise in der Landwirtschaft oder auf Friedhöfen - ließen bereitwillig zu diesem Mittel greifen. Seelsorgerliche Perspektiven kamen am ehesten in den Blick, wenn es sich um Angehörige der eigenen Kirche handelte. Das war der Fall im Verhältnis der katholischen Kirche zu polnischen Zwangsarbeitern; in der evangelischen Kirche war es beispielsweise der Fall bei niederländischen Zwangsarbeitern, die der reformierten Kirche angehörten. Bei den "Ostarbeitern", die den größten Teil der Zwangsarbeiter stellten und unter ihnen besonders gedemütigt wurden, war Vergleichbares kaum der Fall.

Es hat mich erschüttert, als ich zum ersten Mal ein Dokument in der Hand hielt, das die Namen von 47 "Ostarbeitern" verzeichnet. Sie gehören zu den Zwangsarbeitern, die hier in Berlin in einem eigenen kirchlichen Arbeitslager untergebracht waren. An der Hermannstraße war es gelegen, auf dem Gelände der Jerusalems- und Neuen Gemeinde. Insgesamt 26 evangelische und zwei katholische Gemeinden waren an diesem Lager beteiligt. Von dort bezogen sie die Friedhofsarbeiter, die in der Zeit zwischen 1943 und 1945 Gräber aushoben und wieder schlossen, eine durch die Bombennächte wachsende Zahl von Gräbern. Das Lager war für ungefähr hundert Zwangsarbeiter eingerichtet.

Ein kirchliches Zwangsarbeiterlager - ausgerechnet auf einem Friedhof. Erschreckend ist das - und nachvollziehbar zugleich. Die Männer waren an der Front, die Frauen zu "kriegswichtigen" Arbeiten eingezogen. Das Ausheben von Gräbern gehörte dazu nicht, obwohl es der Krieg war, der auch die Zahl der Toten anschwellen ließ.. Also waren es die sogenannten "Ostarbeiter", die Bombenopfer und andere Tote unter die Erde brachten. Man kann nachvollziehen, warum sich daran so viele Gemeinden beteiligten. Die Verantwortung für die Kirchhöfe nahm ihnen niemand ab. Aber entschuldigen kann man es nicht. Denn es bleibt eine Beteiligung an dem Gewaltsystem, das der Nationalsozialismus geschaffen hatte. Der Krieg zog seine grausame Spur bis auf die Friedhöfe.

Unsere Kirche bekennt sich dazu, in diese Schuld verflochten zu sein. Es ist für uns das wichtigste Thema an diesem Buß- und Bettag 2000. Wir bekennen unsere Schuld an denen, die ausgebeutet und gedemütigt wurden, die hungerten und ohne Wiedergutmachung blieben, die starben und in Vergessenheit gerieten. Spät ist es; aber wir stellen uns diesem Teil unserer Vergangenheit. Und wir bitten Gott, dass aus diesem Gedenken Hoffnung erwächst. Wir wollen die nicht wieder allein lassen, die von Ausbeutung und Demütigung bedroht sind, die hungern und sterben. Sie bleiben nicht im Dunkel. Sie rücken ins Licht. Denn Jesus steht vor der Tür und klopft an: "Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, einer von diesen meinen geringsten Schwestern, das habt ihr mir getan."

Amen