Predigt zum Semestereröffnungsgottesdienst in Heidelberg

Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

Es gilt das gesprochene Wort

Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch. Bleibt in meiner Liebe! Wenn ihr meine Gebote haltet, bleibt ihr in meiner Liebe, so wie ich meines Vaters Gebote gehalten habe und bleibe in seiner Liebe. Das habe ich euch gesagt, auf dass meine Freude in euch sei und eure Freude vollkommen werde. Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, wie ich euch liebe. Joh 15,9-12

Liebe Gemeinde,

ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen als in ein neues Semester mit Worten über die Liebe zu gehen. Auch wenn ich selbst jetzt nur noch ehrenhalber an einer Universität tätig bin, weiß ich noch sehr genau, wie sich das anfühlte, wenn ich hier in Heidelberg oder dann später an anderen Universitätsstandorten in ein neues Semester gegangen bin. Nicht immer war es ein Gefühl des Ausgeruhtseins nach langen Semesterferien, das mein Gefühl dabei geprägt hat. Dass diese Zeit präziser „vorlesungsfreie Zeit“ heißt, habe ich angesichts all der Verpflichtungen, die in dieser Zeit abzuarbeiten waren, oft sehr deutlich gespürt. Und trotzdem war es jedes Mal ein Aufbruch, wenn das neue Semester losging. Wie viele und welche Studierende würden die Lehrveranstaltungen besuchen? Wie würde sich der – etwa durch unterschiedliche Lehrveranstaltungszeiten – jedes Mal wieder andere Semesteralltag einpendeln? Und dann war es einfach immer schön, viele Menschen wiederzusehen, zu hören, wie sie den Sommer verbracht hatten, was sie aus den vielen Aktivitäten, wie etwa Konferenzen in aller Welt – mit zurück in den Unialltag brachten.

Und ich erinnere mich an mein erstes Semester als Student hier in Heidelberg. Die gespannte Vorfreude auf all das Neue, was mich hier erwartete. Die Erleichterung, dass ich eine Wohnung gefunden hatte. Und natürlich die Hoffnung, viele neue Mitstudierende kennen zu lernen, aus denen vielleicht sogar Freundschaften fürs Leben wachsen könnten.

Es ist gut, dass wir all die Erwartungen und Hoffnungen an dieses neue Semester, aber auch die Sorgen und Zweifel angesichts der hohen Anforderungen im Studium und Unwägbarkeiten in unseren sozialen Beziehungen, heute vor Gott bringen dürfen, mit Gott ins Gespräch bringen dürfen, in Gottes Hand legen dürfen. Und noch besser ist es, dass wir es mit einem Wort über die Liebe tun dürfen.

Wir können in dieses Semester gehen, mit der tiefen Gewissheit, dass Gott der Schöpfer ist, dass er jeden einzelnen von uns mit Liebe geschaffen hat und wir mit Ps 139,14 sagen können: ich danke Dir, Gott, dass ich wunderbar gemacht bin. Wir dürfen in dieses Semester gehen mit der Gewissheit, dass weder Tod noch Leben, weder Hohes noch Tiefes, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Mächte noch Gewalten, dass uns nichts trennen kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist unserem Herrn. Wir dürfen in dieses Semester gehen mit dem Rückenwind des Heiligen Geistes, der uns diese Liebe – jenseits aller Worte – immer wieder auch im Herzen spüren lässt, uns Mut gibt, uns froh macht. Nichts weniger als das, liebe Gemeinde, bekommen wir heute mit auf den Weg in das neue Semester. 

Niemand sage, dass all diese Worte über die Liebe nur frommes Gesäusel seien. Niemand behaupte, dass das Beschwören der Liebe am Ende nur ein Ausdruck von Hilflosigkeit sei, ein Ausdruck naiver Realitätsverkennung angesichts einer Welt, in der Hass und Gewalt für alle sichtbar Triumphe feiern.

Nein – der Mann, von dem die Worte über die Liebe im Johannesevangelium überliefert sind, weiß genau, wovon er spricht. Es sind die Abschiedsreden Jesu, aus denen diese Worte kommen. Jesus weiß, dass er von einem seiner eigenen Leute verraten werden wird. Jesus weiß, dass er den Mächtigen ausgeliefert werden wird. Jesus weiß, dass er als Folteropfer am Kreuz sterben wird.

Und trotzdem spricht er in einer so kraftvollen Weise über die Liebe: „Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch. Bleibt in meiner Liebe! … Das habe ich euch gesagt, auf dass meine Freude in euch sei und eure Freude vollkommen werde. Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, wie ich euch liebe.“

In einer Welt, in der Intoleranz, Hass, Gewalt und die pauschale Abwertung ganzer Menschengruppen zur Normalität geworden sind, in einer Welt, in der weltweit viele Menschen wegen ihres Glaubens verfolgt werden, gerade auch Christen, in einer solchen Welt sind die Worte Jesu heute Ausdruck einer trotzigen Hoffnung: Hass und Gewalt werden am Ende nicht siegen, sondern die Liebe. Es mag viele Argumente für das Gegenteil geben. Sie können auch uns Christen vielleicht immer wieder anfechten. Überzeugen können sie uns nicht!

Denn wir wissen tief in der Seele. Christus, der als Opfer der Gewalt der Menschen am Kreuz gestorben ist, ist auferstanden! Und niemand kann das mehr rückgängig machen! Niemand kann mehr so tun, als ob Gott den Menschen Jesus in dem dunklen Loch des Todes gelassen hätte, ihn in dem dunklen Loch des Todes verlassen hätte, sondern er hat ihn auferweckt und uns damit das große Versprechen gegeben, dass die Todesmächte, die uns und so viele andere Menschen auf dieser Welt manchmal so sehr zur Verzweiflung bringen, überwunden sind. Und dass die Zukunft dieser Welt nicht ein dunkles Loch ist, sondern der neue Himmel und die neue Erde, in der kein Schmerz, kein Leid, kein Geschrei mehr sein wird und alle Tränen abgewischt sind. Und weil wir Christen das wissen, deswegen leben wir jetzt schon so, dass wir diese Hoffnung und die Liebe, die dahintersteckt, selbst ausstrahlen.

So zu leben, liebe Gemeinde, ist das bessere Leben. „Bleibt in meiner Liebe! … Das habe ich euch gesagt, auf dass meine Freude in euch sei und eure Freude vollkommen werde.“ Ganz offensichtlich gibt es eine geheimnisvolle Verabredung zwischen der Liebe und der Freude, dass sie am liebsten gemeinsam auftreten. Um zu verstehen, dass es so ist, muss man sich nur einen Moment lang klarmachen, wie freudlos der Hass ist. Mich jedenfalls beschleicht jedes Mal ein tiefes Gefühl der Beklommenheit, wenn ich die die rechtsradikalen Parolen höre und Menschen mit Gesichtern, die gewollte Härte ausstrahlen, marschieren sehe. Und wenn es linksradikale Gruppen mit den Feindbildern in die andere Richtung sind, empfinde ich diese Beklommenheit ebenso.

Ganz anders war es am vergangenen Wochenende in Berlin, als 240 000 Menschen zu einer großen Demonstration zusammenkamen, um gegen Rassismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit und für ein weltoffenes Deutschland zu demonstrieren. Nach den Berichten in den Medien war es eine friedliche und fröhliche Demonstration, die auch durch kein dummes Plakat, wie es sie immer gibt bei solchen Demonstrationen, in ihrem Charakter beeinträchtigt werden konnte. Was diese Demonstration neben den völlig unerwartet hohen Teilnehmerzahlen so ausstrahlungsstark machte, war genau dieser friedliche und fröhliche Charakter. Und wahrscheinlich hat dieser friedliche und fröhliche Charakter viel mehr Menschen bewegt und vielleicht auch gewonnen als wütende Parolen gegen rechts es vermocht hätten.

Hassen und wirkliche Freude vertragen sich einfach nicht. Sie sind sich spinnefeind.

Die Liebe und die Freude aber, die gehören zusammen. Wir Christen jedenfalls wissen davon. Dass Glaube, Lust, Freiheit und Freude zusammengehören, hat niemand so schön in einem Satz zusammengefasst wie Martin Luther. Ich benutze daher jede Gelegenheit, die ich finde, um diesen Satz zu zitieren: „Sieh, so fließ aus dem Glauben die Liebe und die Lust zu Gott und aus der Liebe ein freies, williges, fröhliches Leben, dem Nächsten umsonst zu dienen.“

Ich finde das einen wunderbaren Satz. Er beschreibt ein Leben, in dem wir die radikale Liebe, die in Christus als Mensch sichtbar geworden ist, in unserer Seele erfahren und dann eben auch selbst ausstrahlen.

„Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch. Bleibt in meiner Liebe!“ – sagt Jesus. Wie macht man das – in der Liebe Jesu Christi bleiben? Wie kann die Wahrheit diese Sätze wirklich Eingang in die Seele finden?

Machen kann man es nicht, liebe Gemeinde. Es ist ein Werk des Heiligen Geistes. Und der lässt sich nicht herbeizitieren. Aber helfen kann man ihm schon, dem Heiligen Geist. Die Tür kann man aufmachen. Es sind viele Wege, die der Heilige Geist liebt, wenn er zu uns kommt. Die Musik zum Beispiel. Wunderbare Musik zu hören, wie wir sie heute wieder hören, dadurch das Herz geöffnet zu bekommen, so dass wir auch die erlösenden Worte hören und in der Seele verstehen – das ist ein kraftvoller Weg. 

Und es ist ein kraftvoller Weg, mit den biblischen Texten zu leben, die Psalmen zu meditieren, sie in die Seele hineinzulassen, am Morgen oder am Abend oder auch in einer schlaflosen Nacht. Sich von den Psalmen Sprache geben zu lassen für Traurigkeit, für Zweifel, für Freude, für Dankbarkeit. Die Geschichten von Jesus zu den eigenen Geschichten werden zu lassen, sich von ihm seligpreisen zu lassen, die Gleichnisse des Reiches Gottes zu den Gleichnissen des eigenen Lebens werden zu lassen.

Und es ist ein kraftvoller Weg, die eigenen Erfahrungen des Alltags im Lichte der Gegenwart Gottes zu deuten. Den Menschen, den ich bei einem Fest am Abend kennen gelernt habe, als Menschen zu sehen, zu dem Gott mich geführt hat. In jemandem, der mich in einer Situation des Abgrundes gerettet hat, einen Engel Gottes zu sehen. Das, was ich jeden Tag so selbstverständlich nehme, Essen und Trinken oder ein Dach über dem Kopf, als Geschenk Gottes zu sehen – und dankbar dafür sein.

Das alles erschließt sich mir in der praxis pietatis, in dem, was man mit diesem so altmodisch klingenden Wort „Frömmigkeit“ bezeichnet. Aber Frömmigkeit ist nichts Altmodisches. Frömmigkeit ist kein Auslaufmodell, sondern Frömmigkeit ist ein Zukunftsmodell!

Das neue Semester, liebe Gemeinde, liegt vor uns – mit allem, was es für uns bereithält: im Forschen und Studieren neue intellektuelle Horizonte erschließen. Neue Menschen kennenlernen und sich von ihnen bereichern lassen. Den Glauben neu entdecken. Und die Liebe, die ihn begleitet, aufnehmen und sie selbst ausstrahlen.

Mit Gottes Hilfe wird es ein gutes Semester werden!

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. AMEN