Predigt in St. Maria Martyrum in Berlin-Plötzensee (Jesaja 43, 1 - 3a)

Manfred Kock

Und nun spricht der Herr, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, daß dich die Ströme nicht ersäufen sollen; und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen.

Denn ich bin der Herr, dein Gott, der Heilige Israels, dein Heiland.

Liebe Schwestern und Brüder, liebe Gemeinde!

Wieviel klingt da an von der Gefährlichkeit des Lebens: durch Feuer und durchs Wasser gehen müssen - und wie unmittelbar geschieht die Zusage vom rettenden Handeln Gottes: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst.

Was Menschen widerfahren kann, was sie füreinander zu tun in der Lage sind, und das, was sie einander antun können, hält sich nicht immer die Waage. Das wird uns bewußt, wenn wir auf das zuendegegangene Jahrhundert zurückblicken.

Was wird der Menschheit im Gedächtnis bleiben von dem gerade zu Ende gegangenen 20. Jahrhundert?

Wie werden künftige Generationen diese Zeit beurteilen? Was steht im Vordergrund? Der industrielle Aufbruch, oder die Zeit des Wirtschaftswunders? Das Ende des Kolonialismus und des Ost-West-Gegen-satzes? Oder war das Prägende der technische Fortschritt, das ungeheure Wachsen der Mobilität, die Beschleunigung der weltumspannenden Kommunikation per Telefon und Internet?

Oder sind es die Hungerkatastropen von Biafra, Äthiopien und Somalia und der andauernde Skandal, dass 12 Millionen Kinder jährlich verhungern?

Oder ist es die Erinnerung an das Jahrhundert der Hochrüstung, der schrecklichen "totalen Kriege", der Vertreibungen, der Zwangsarbeit, der Folter? Oder steht im Vordergrund die unvorstellbare Menschenverachtung in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern mit ihrer bürokratischen Gründlichkeit und technischen Perfektion? Oder sind es Stalin und Mao, die ihre Herrschaftsbereiche mit grausamer Brutalität von ihren Gegnern "gesäubert" haben?

"Wenn du durch Wasser gehst, ... und wenn du ins Feuer gehst ..."

Die Menschen wurden in KZs wie Buchenwald oder Treblinka oder im Lagersystem des "Archipel Gulag" ihres Menschseins beraubt, bevor sie ins Feuer, ins Gas, ins Wasser oder in die Kälte gejagt wurden. Alles wurde ihnen weggenommen, der Name, die Würde, die Hoffnung. Die Hölle im 20. Jahrhundert ist ein gänzlich leerer Raum, so beschreibt der italienische Jude Primo Levi seine Grunderfahrung in Auschwitz. In den Lagern des Nationalsozialismus ebenso wie in denen des Stalinismus wurden Menschen ihrer Individualität und Personalität beraubt und zur bloßen Nummer gemacht.

Schon mit dem Eintritt ins Lager sollte ihr Menschsein völlig ausgelöscht werden. "Mein Name ist 174 517; wir wurden getauft, und unser Leben lang werden wir das tätowierte Mal auf dem linken Arm tragen." schreibt Primo Levi. Ein endgültiger Sieg der Barbarei? Das 20. Jahrhundert - ein Jahrhundert der Gottvergessenen?

Gebe Gott, dass die Klage darüber nie verstummt. Denn die Klage ist der erste Schritt ins Vertrauen auf Gott, der sich an sein Geschöpf erinnert und an das Volk seiner Wahl. Dem gab er Namen und Identität und hat es ausgeweitet auf uns, gibt uns einen Namen, schenkt uns unsere Identität und verleiht uns unverlierbare Würde. Er lässt die namenlos Gemachten, die Geschändeten und Unterdrückten nicht ins Vergessen versinken. Sie werden nicht in der Einsamkeit ihrer Zelle, in der vollkommenen Leere eines Lagers verkümmern zu einem Nichts. Gott gewährt eine letzte Geborgenheit, rettet den Sinn eines im Wasser verlöschenden Lebens oder einer Existenz, deren Spur sich im Feuer verliert. Er hebt die Menschen auf in seinem Gedächtnis.

Nicht wenige, die die Hölle der Lager überlebt haben, konnten dies nur, weil ihnen solche Gewissheit blieb, weil sie sich daran festklammerten oder weil sie ihnen geschenkt wurde durch das Glaubenszeugnis ihrer Mitgefangenen.

Viele der Männern und Frauen, derer wir heute gedenken, konfrontierten auch ihre Richter, ihre Bewacher und schließlich ihre Henker mit ihrem Bekenntnis zu Gott. Sie hatten Jesus Christus als ihren einzigen Trost vor Augen, glaubten, dass der Tod wohl das Ende ihres Lebens, aber nicht das Ende der Treue Gottes sein würde. Dietrich Bonhoeffers letzte Worte: "Das ist das Ende, - für mich der Beginn des Lebens", haben viele Märtyrer der 2. Hälfte dieses Jahrhunderts begleitet in den Folterkellern der Militärdiktatoren Südamerikas, in den Gefängnissen des südafrikanischen Apartheidsregimes, in den Verliesen der Stasi und des KGB.

"Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!" Wie wir in das Klagen einstimmen können, so dürfen wir auch auf diese tröstlichen Zusage bauen.

Wenn wir heute der Menschen gedenken, die der Lüge widersprochen haben, die sich eingemischt haben, die den aufrechten Gang gegen die Unterdrücker gewagt haben, wird deutlich, was von diesem 20. Jahrhundert bleiben wird: Neben den Namen der Täter, deren Gräueltaten nicht vergessen werden dürfen, sind es die Namen der Opfer. Mit deren Namen verbindet sich die Erinnerung auch an die vielen Namenlosen, die Widerstand geleistet oder sich dem Mitmachen verweigert haben und dies mit ihrem Leben bezahlen mussten. Kaum jemand kennt den Namen von Matthias Domaschk, Mitglied der Jungen Gemeinde in Jena, der im April 1981 bei Verhören des Ministeriums für Staatssicherheit zu Tode kam.

In unseren Tagen werden Menschen als Fremde ausgegrenzt, wird Asylsuchenden die Menschenwürde abgesprochen, werden People of Color und Schwarze durch die Straßen gejagt und zu Tode gehetzt. Darum müssen die Lebensentscheidungen gerade der Frauen und Männer weitererzählt werden, die unter der rechtlosen Willkür gelitten und dagegen Widerstand geleistet haben. Sie dürfen nicht vergessen werden, darum müssen die Schicksale derer erzählt werden, die das Martyrium erlitten haben.

Zum Verstehen dieses Jahrhunderts gehören gerade die Schicksale der Menschen, die der Gewalt widerstanden haben. Es ist wichtig für uns, über ihr Leben, ihre Motive, über ihren Glauben, ihre Hoffnungen und Zweifel und über die Auseinandersetzungen zu erfahren, an denen sie zerbrochen sind.

Kein Mensch wird zum Märtyrer geboren, kein Mensch kann sich selbst zum Märtyrer machen. Es geht bei den Glaubenszeugen aller Jahrhunderte gerade nicht um ein selbsternanntes Heldentum.

Was ist das für eine Zeit, die solche Helden nötig hat?

Es ist die Treue zur Wahrheit, die Gewissheit und das Vertrauen auf die Verlässlichkeit Gottes, die diesen Menschen Kraft gibt, dem Terror und dem Unrecht zu widerstehen. In den letzten 24 Stunden vor seiner Hinrichtung schrieb Helmuth James von Moltke an seine Frau: "Wie gnädig ist der Herr mit mir gewesen! ... Er hat mich zwei Tage so fest und klar geführt: der ganze Saal hätte brüllen können, wie der Herr Freisler, und sämtliche Wände hätten wackeln können, und es hätte mir gar nichts gemacht; es war wahrlich so, wie es Jesaja 43, 2 heißt: Denn so du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht sollen ersäufen; und so du durch Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen."

Dieses feste Vertrauen zu Gott bestimmte das Leben der Frauen und Männer, derer wir in diesem Gottesdienst gedenken. Allein in der Gewissheit des Glaubens geborgen war es ihnen möglich, sich mit ihrer ganzen Existenz für ihre Mitmenschen, für das Aufrichten des Rechts öffentlich einzusetzen. Den Mut dieser Menschen, nicht wegzuschauen, wenn anderen Unrecht widerfährt, sich einzumischen und auch ihre Zerrissenheit müssen wir den nachfolgenden Generationen weitererzählen. Die Sehnsucht dieser Menschen nach Gerechtigkeit und ihr Einsatz für die Menschenwürde gehören genauso zum Gesicht des 20. Jahrhunderts wie die Verbrechen, gegen die sie sich mit ihrer ganzen Person zur Wehr setzten.

Es sind einmalige Lebensgeschichten. Jedes dieser Leben ist und bleibt unverwechselbar, hat einen Namen, jeweils aufgehoben in der Treue und Güte Gottes: "Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!"

Amen