Predigt über die Jahreslosung am Neujahrstag 2019 im Berliner Dom

Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland

Psalm 34,15: Suche Frieden und jage ihm nach!

Liebe Gemeinde,

was war es, was Sie sich heute Nacht, als der Zeiger auf Mitternacht vorgerückt ist, für das neue Jahr vorgenommen haben? War es etwas Bestimmtes, was Sie in diesem Jahr schaffen, was Sie zustande kriegen wollen? Oder war es das Umgekehrte? Der Wille, das Leben ruhiger anzugehen und sich mehr Pausen zu gönnen, sich weniger treiben zu lassen von all dem, was jeden Tag auf uns einströmt? Oder war es eine bestimmte Einstellung den Mitmenschen gegenüber, die Sie sich vorgenommen haben? Mehr Geduld? Mehr Aufmerksamkeit, mehr Wertschätzung, die Sie anderen zeigen wollen?

Die Jahreslosung für dieses neue Jahr 2019 ist vielleicht genau deswegen so stark, weil sie das alles aufnimmt. Weil sie von etwas spricht, was unser ganzes Leben betrifft und zugleich im Alltag ganz konkret ist. 

Suchet den Frieden und jaget ihm nach! Im hebräischen Originaltext steht ein Wort, das Eingang in unsere Gesangbuchlieder gefunden hat und als Gruß manchmal auch unter Deutschen gebraucht wird: „Schalom“! Ich wünsche Dir Frieden! Was bedeutet Schalom genau? Wenn ein Mensch sagen kann: Es geht mir rundum gut, an Leib und Seele und Geist. Und nicht nur mir allein, sondern auch allen Lebewesen in der Nähe und in der Ferne – da ist Schalom. Schalom ist viel mehr als die Abwesenheit von Krieg oder auch nur die Abwesenheit von Streit. Schalom ist die große Vision eines Zusammenlebens, in dem alle Gewalt überwunden ist, in dem alle Ungerechtigkeit aufhört, in dem alle unsere Beziehungen heil werden, in dem alle menschliche Aktivität mit der Ruhe des Sabbats in Balance kommt.

Die Bibel ist voll davon. Wenn der Epheserbrief sagt: „Christus ist unser Friede“ (Eph 2,14), dann öffnet er ein Fenster hin zu diesem Schalom, zu dieser versöhnten Realität, die sich auftut, wenn wir auf das Kind in der Krippe schauen, das in diesen Weihnachtstagen wieder seine so faszinierende Kraft entfaltet hat. „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens“ (Lk 2,14) – so singen die Engel bei der Geburt Jesu. Und der erwachsene Jesus zieht umher und spricht: „Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Kinder Gottes heißen“ (Mat 5,9).

Und doch fällt uns Menschen das Friedenstiften so schwer. Von einem russischen Dichter wird erzählt, dass er eines Tages auf der Straße den Kindern beim Spielen zusah. „Was spielt ihr?“ fragte er schließlich. „Wir spielen Krieg“, antworteten sie. „Findet ihr das ein gutes Spiel? Ist es richtig, wenn ihr einander im Spiel verletzt oder gar tötet, wenn ihr zerstört und vernichtet? Warum spielt ihr nicht einmal Frieden?“ Die Kinder waren begeistert. „ O ja, das wollen wir spielen!“ riefen sie durcheinander. Der Dichter ging zufrieden weiter aber nur bis zur nächsten Straßenecke. Dort holten ihn die Kinder mit einer wichtigen Frage wieder ein: „Väterchen, sage uns doch, wie man Frieden spielt!“

Das Wort „Suchen“ passt, wenn es um den Frieden geht. Das gilt schon für den Frieden in unseren Alltagsbeziehungen. Mit der Ehefrau und dem Partner. Mit den Kindern. Mit der Arbeitskollegin, mit dem Nachbarn. Manchmal kommt sie auf ganz leisen Sohlen, die Zwietracht, manchmal bricht sie wie ein Vulkan aus. Meistens stellt sich Zwietracht ungeplant ein. Es fällt ein falsches Wort. Jemand ist verletzt. Macht den Anderen Vorwürfe. Oder schlägt mit heftigen Worten zurück. Der Konflikt beginnt zu eskalieren. Die Gefühle werden immer stärker. Wunden werden geschlagen, manchmal tiefe Wunden; und um sie zu heilen, braucht es viel Beziehungsarbeit und viel Vertrauensaufbau. Und manchmal gelingt die Heilung nicht. Wir suchen den Frieden aber wir finden ihn nicht mehr!

In der Politik ist es nicht anders. Am Reden vom Frieden fehlt es nicht. Am Handeln manchmal schon. Noch immer ist Deutschland der viertgrößte Waffenexporteur der Welt. 2017 sind in Deutschland Rüstungsexporte u.a. an 52 Staaten genehmigt worden, deren Menschenrechtssituation als sehr schlecht eingestuft wird, auch an Saudi-Arabien und damit die Jemen-Kriegs-Koalition.

Sie dienen nicht dazu, dem Frieden nachzujagen. Da, wo Waffen nicht national oder international zur polizeilichen Sicherung des Rechts verwendet werden, verbreiten sie vor allem Schrecken. Frieden kann aber nur entstehen, wo die Spirale der Gewalt durchbrochen wird.

Wie das geht, dafür geben die wenigen Worte der Losung wichtige Hinweise. Suchet den Frieden und jaget ihm nach. Vielleicht ist der Schlüssel ja genau diese Verbindung, dieses Beieinander von „Suchen“ und „Nachjagen“. Das Suchen ist die Besonnenheit. Und das Nachjagen ist die Leidenschaft.

Es braucht die Leidenschaft für den Frieden. Sie muss sich ausbreiten. Es braucht die tiefe Sehnsucht, dass der Kampf der einen gegen die anderen, die Geißel des Krieges, die am Ende nur Verlierer produziert, endlich aufhört. Die Sehnsucht ist Ausdruck von viel mehr als irgendeinem Harmoniebedürfnis, das dem Streit um jeden Preis aus dem Weg geht. Sie ist angetrieben durch die von viel Lebenserfahrung getränkte nüchterne Erkenntnis der destruktiven Kraft, die Unfriede entwickeln kann. Wir jagen dem Frieden nach, weil wir wollen, dass all das unnötige Leid, das mit Behinderung, Einschränkung oder gar Zerstörung des Lebens durch solchen Unfrieden verbunden ist, endlich überwunden wird. Das ist kein fauler Friede. Es ist ein Friede, der geprägt ist von Gerechtigkeit. Gerechtigkeit und Friede küssen sich, heißt es in der Bibel.

Um für einen gerechten Frieden einzutreten, braucht es Leidenschaft. Und es braucht die Besonnenheit, damit die Leidenschaft nicht in den Fanatismus abgleitet. Auch das „Suchen“ nach dem Frieden ist nötig, also das besonnene Nachdenken und Abwägen.

In den Kirchen – um nur ein Beispiel zu nennen - geben wir ein klares Zeugnis für den Vorrang der Gewaltfreiheit ab. Die Anwendung von militärischer Gewalt ist immer eine Niederlage. Waffen dürfen nie gesegnet werden. Gleichzeitig ringen wir mit der Frage, ob es Fälle gibt in denen die Anwendung von Gewalt das kleinere Übel ist. Der Völkermord in Ruanda, dem innerhalb von 100 Tagen fast eine Million Menschen zum Opfer fielen, hätte verhindert werden können, wenn die anwesenden UNO-Blauhelmtruppen die Erlaubnis gehabt hätten, von ihren Waffen Gebrauch zu machen und damit das Recht zu schützen. Den Frieden suchen und ihm nachjagen, das kann auch heißen, Menschen vor massenhafter Ermordung wirksam zu schützen, wenn nicht anders möglich, auch mit Waffengewalt. Ich sage diesen Satz mit Zaudern. Denn ich weiß: für manche in unserer Kirche ist die Anwendung von Gewalt immer falsch und im Gegensatz zum Christuszeugnis. Auch solches Fragen, Diskutieren und Abwägen ist Teil der Suche nach dem Frieden. Wer auf der Suche ist, lernt dazu.

„Suchet den Frieden und jagt ihm nach.“ Es braucht das Suchen, das wechselseitige Hinhören, die Besonnenheit. Und es braucht das Nachjagen, die Leidenschaft, das Eintreten für die als richtig erkannten Überzeugungen, wenn wir uns diesen Ruf aus dem Psalm 34 zu Herzen gehen lassen.

Eines brauchen wir noch ganz bestimmt beim Suchen und Nachjagen: Den Humor.

Humor entwaffnet. Mir ist das bei einer Aktion bewusstgeworden, bei der es nicht um militärische Gewalt ging, sondern um etwas, was fast schon traurige Routine geworden war. In Wunsiedel wurde von Rechtsradikalen eine Demonstration zum Volkstrauertag angekündigt. Das Übliche wie viele Jahre schon: Ein Fackelzug durch die Stadt zum sogenannten „Heldengedenken“. Wunsiedel – die Stadt in der Rudolf Hess begraben war und die daher viele Neonazis und Rechtsextreme angezogen hat.

2014 geschah etwas Neues: Ohne dass es vorher bekannt wurde, haben die Menschen in Wunsiedel diesen Marsch zu einem Spendenlauf umfunktioniert:  Für jeden Meter, den ein rechtsextremer Marschteilnehmer gelaufen ist, hatten sich Sponsoren gefunden, die dafür je 10 € an das Aussteigerprogramm EXIT spendeten. Exit – das ist eine Gesellschaft, die Aussteiger aus der Neonazi-Szene unterstützt. Die braunen Demonstranten waren ziemlich überrascht: Um sie rum plötzlich: Plakate, die sie anfeuern: Marschiert noch weiter. Jeder Meter bringt Geld! Auf anderen Bannern war zu lesen: "Flink wie Windhunde, zäh wie Leder - und großzügig wie nie!" oder „Endspurt statt Endsieg“. Es wurden sogar  Verpflegungsstationen mit Bananen eingerichtet - Stichwort „Mein Mampf“. 10 000 € kamen am Ende zusammen, mit denen Menschen aus der rechtsradikalen Szene nun beim Ausstieg begleitet werden können.

„Suchet den Frieden und jaget ihm nach…“ Ja, das kann auch Spaß machen. Wer für den Frieden eintritt, der tritt für das Leben ein. Macht sich immer wieder von Neuem klar, wie kostbar das Leben ist. Und deswegen beginnt die Friedensarbeit in jedem einzelnen Herzen.

Dafür ist für mich der wichtigste Ort das Gebet. Es können 5 Minuten sein oder eine halbe Stunde. Das Gebet ist das größte Kraftzentrum für den Frieden. Im Gebet kann ich meinen Unfrieden vor Gott bringen. Kann meine Unruhe bei Gott abladen. Leer werden. Und kann dann die Erfahrung machen, dass sich der Friede in meinem Herzen ausbreitet. Nicht immer geschieht das. Der Heilige Geist weht, wo er will. Aber das Gebet öffnet die Tür dafür, dass der Schalom einströmen kann, dass sich eine innere Ruhe, ein Friede einstellt, der die Keimzelle ist für den Frieden in meinen Beziehungen und für mein Engagement für den Frieden in der Welt.

Ich kann erfahren, was das meint: „Christus ist unser Friede.“ Kann mich von Christus seligpreisen lassen und es wirklich in meine Seele hereinlassen.

Und dann spüren, wie ich Ja sage zu mir selbst. Wie ich Ja sage zu meinem Mitmenschen. Wie ich Ja sage zu Gott. Und wahrnehme, welches Geschenk mein Leben ist, das ich jeden Tag aus Gottes Hand bekomme. Wie ich aus Dankbarkeit für das eigene Leben auch das Leben der Anderen achte, wertschätze, fördere und gnädig mit den anderen werde. Wie ich mich im persönlichen wie im öffentlichen Leben dafür einsetze, dass alles überwunden wird, was das Leben missachtet, behindert oder zerstört.

2019 – ein Jahr des Friedens – Für Sie alle, für mich selbst und hoffentlich auch für die Welt. Das ist eine wahrhaft vielversprechende Aussicht am ersten Tag dieses neuen Jahres. Woher die Kraft dazu kommt, sagt ein Satz, der am Ende jeder Predigt steht, der aber heute einen besonderen zukunftsöffnenden Sinn hat:

Der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

AMEN