Predigt zum 30. Jahrestag der Friedlichen Revolution

Gabriele Metzner, Lutherstadt Wittenberg

Predigttext:

Die Verleugnung des Petrus
Markus 14,66-72

Und Petrus war unten im Hof. Da kam eine von den Mägden des Hohenpriesters; und als sie Petrus sah, wie er sich wärmte, schaute sie ihn an und sprach: Und du warst auch mit dem Jesus von Nazareth.

Er leugnete aber und sprach: Ich weiß nicht und verstehe nicht, was du sagst. Und er ging hinaus in den Vorhof, und der Hahn krähte. Und die Magd sah ihn und fing abermals an, denen zu sagen, die dabeistanden: Dieser ist einer von denen. Und er leugnete abermals.

Und nach einer kleinen Weile sprachen die, die dabeistanden, abermals zu Petrus: Wahrhaftig, du bist einer von denen; denn du bist auch ein Galiläer. Er aber fing an, sich zu verfluchen und zu schwören: Ich kenne den Menschen nicht, von dem ihr redet.

Und alsbald krähte der Hahn zum zweiten Mal. Da gedachte Petrus an das Wort, das Jesus zu ihm gesagt hatte: Ehe der Hahn zweimal kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Und er fing an zu weinen.

Predigt

In meiner Erinnerung raschelt der Sand unter den Füßen, ein kurzes Geräusch nur. Auch das Gefühl dieses Augenblicks ist mir heute, 38 Jahre später, nah und der Gedanke: „Hier setze ich keinen Fuß mehr hin. Bloß weg!“ Heute glaube ich, dass der Gedanke das Geräusch machte, das sich in meine Erinnerung eingeschlichen hat. Ein kurzes Innehalten, mit dem ich den Hof vor der Schule verließ. Sie gehörte zu den vielen „Polytechnischen Oberschulen“ in der ehemaligen DDR. Von der ersten bis zur zehnten Klasse lernte man nicht nur Lesen und Schreiben, sondern auch, wie man zu einer sozialistischen Persönlichkeit wird. Wer nicht den Kinder- und Jugendorganisationen angehörte und an der Jugendweihe teilnahm, wurde auf seinem Bildungsweg behindert. So wollte ich die zehn Jahre, die ich dort verbrachte, einfach abschütteln und möglichst nicht mehr erinnert werden an das taube Empfinden, mit dem ich manchmal dort saß. Dieses Gefühl hatten zu jener Zeit viele Menschen im Osten Deutschlands. Es war das Gefühl, fremd zu sein im eigenen Land. Es trieb Menschen in die Flucht, innerlich und äußerlich.

Die Szene mit Petrus und der Magd erinnert mich daran: Bloß weg! Petrus wird bedrängt, erst von der Magd im Hof des Hohepriesters: „Du warst auch mit dem Jesus von Nazareth.“ Da sind beide noch im Zwiegespräch. Dann nimmt die Szene Fahrt auf. Petrus läuft in den dunkleren Vorhof des Palastes. Der Sand unter seinen Füßen knirscht, während er sich wegdreht. Ein kurzer Moment, dann kräht der Hahn zum ersten Mal. Die Magd bleibt ihm auf den Fersen und erzählt den Leuten, die sich dort aufhalten, wen sie vor sich haben. Der Höhepunkt ist fast erreicht, als auch diejenigen, die dabeistehen, Petrus als „einen von denen“ erkennen wollen. Galiläer, so sagen sie, erkennen wir am Dialekt. Sie sorgen für Aufruhr, so wie dieser Jesus. Zu denen gehört Petrus doch. Sollte man ihn nicht auch wegsperren? Da kräht der Hahn zum zweiten Mal. Seine Geschichte mit Jesus holt ihn wieder ein. Jesus hatte ihm, als er am vollmundigsten seine Treue schwor, Schwäche vorhergesagt.

Als „Insel im roten Meer“ hat eine Journalistin in einem Zeitungsartikel das Kirchliche Oberseminar in Potsdam-Hermannswerder beschrieben. Dort konnte ich ab 1981 von Lehrerinnen und Lehrern lernen, die selbst unter der Bildungspolitik der DDR gelitten hatten und aufgrund ihres Widerstands von den Schulen entfernt worden waren. Einer dieser Lehrer ließ uns über ein Zitat von Christa Wolf einen Aufsatz schreiben: „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“

Es war die Zeit des atomaren Wettrüstens, als die Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ verboten wurden und der Wehrkundeunterricht in den Schulen schon etabliert war. Innenstädte bröckelten vor sich hin und ganze Landstriche ächzten unter giftigem Abwasser und schlechter Luft. Das Vergangene war nicht vorbei, es behielt seine Macht und breitete sich in mir und in einem Land aus, das von ein paar alten, nicht demokratisch gewählten Männern regiert wurde.

Es war aber auch die Zeit der Friedensgebete, der Umweltgruppen und der Kirchentage. Viele Menschen drehten sich gerade nicht weg oder emigrierten innerlich, sondern waren dabei, das „fremde Land“ zurückzuerobern.

Auf dem Höhepunkt der biblischen Geschichte, beim zweiten Hahnenschrei, beginnt Petrus zu weinen. Matthäus und Lukas fügen dem noch ein „bitterlich“ hinzu. Das Vergangene ist nicht tot. Die Geschichte holt Petrus ein. Jeder Versuch, sich von Jesus abzuwenden, muss scheitern. Weil Jesus ihm das Liebste ist, was er hat. Weil Jesus ihn über Wasser hielt, als er zu versinken drohte. Darum die Tränen. Er bereut seine Abkehr und seine Furcht. Aus seinem großen Ja wurde ein dreifaches Nein. Wie soll ein Mensch das aushalten?

Am 9. November erinnern wir uns auch daran, wie Menschen wegschauten, als die Geschäfte und Synagogen brannten. „Damit haben wir nichts zu tun“ sagten damals zu viele Menschen, drehten sich weg und verleugneten ihre jüdischen Nachbarn, Kollegen und Freunde. Heute erleben wir an vielen Orten, wie uns diese Geschichte wieder einholt. Haben wir zu wenig geweint oder gar nicht? Sind wir einfach darüber hinweggegangen und erklären uns heute als „nicht mehr schuldig“?

Die Tränen des Petrus sind mir wichtig, die aufrichtige Reue eines Menschen, der mit großer Klarheit seine erbärmliche Situation sieht. Er wird noch einstimmen in die Freude, er wird die Auferstehung Jesu von den Toten predigen und den Sieg des Lebens über Mächte, die Menschen die Freiheit und die Luft zum Atmen nehmen. Der Auferstandene wird ihn beauftragen: „Weide meine Schafe!“ Doch zuvor fließen Tränen, müssen Tränen fließen, um den Blick für ein aufrichtiges Leben mit Gott frei zu bekommen.

Wenn wir uns in diesem Herbst an die Friedliche Revolution vor 30 Jahren erinnern, dann fallen uns unsere ersten Tränen in jener Zeit ein. Die Bilder nach der Öffnung der Mauer werden im Gedächtnis bleiben. Doch ich denke auch an die schmerzvollen Erinnerungen nach dem 7. und 8. Oktober 1989 in Berlin, als Demonstranten gewaltsam verhaftet und ihre Protokolle in den Gemeinden verlesen wurden. Als dann am 9. Oktober in Leipzig die Kerzen in den Händen über die Waffen siegten, war das für viele das Zeichen eines Neubeginns. Meine ersten Tränen nach dem Mauerfall waren traurige Freudentränen. Ich stieg aus dem Zug in einer westdeutschen Stadt und wurde von einer Freundin empfangen, die mich bis dahin jedes Jahr besucht hatte. Jetzt war ich bei ihr, so froh und doch so traurig, dass ich auf diesen Moment so lange warten musste.

30 Jahre, so sagt man, sind eine Generation. Und manche fragen heute schon nach dem Sinn des Erinnerns. Da denke ich an diesen kurzen Moment, damals auf dem Platz vor der Schule und noch viel früher auf dem Hof des Hohepriesters. Diese Abwende-Spuren im Sand entdecke ich doch heute auch noch. Sie entstehen dort, wo Menschen sich abgedrängt und ausgeschlossen fühlen, so wie ich damals auf dem Schulhof. Ich höre sie aber auch dort, wo Menschen sich ihrer Sache ganz sicher fühlen und scheitern. Der Theologe Karl Barth hat in diesem Zusammenhang die Situation des Petrus als Grundsituation des Menschen vor Christus bezeichnet: „Wirkliche Christen (und Christinnen natürlich auch) sind immer von der sie umgebenden Welt her bedrückte Menschen.“ Petrus beteuerte Jesus mit Nachdruck, dass in keinem Fall (wenn doch die anderen ihn alle verlassen) er – er doch nicht! – von seiner Seite weicht. Wie kann Jesus nur so von ihm denken? Also auch Petrus, sogar Petrus, der Fels, auf den Christus seine Kirche bauen will. Die ersten Gemeinden, die diesen Text lasen, spürten angesichts ihrer Verfolgung den großen Trost, der aus dem Versagen des Petrus kommt.

Der Hahn kräht stolz und wie zum Hohn bei solchem Glauben. Er schmückt auch heute zahlreiche Kirchtürme und zeigt nicht nur die Windrichtung an. Er weist uns auf die Windigkeit als eine traurige Möglichkeit des Glaubens hin. Wenn der Glaube sein Fähnlein in den Wind des jeweils Opportunen hängt.

Es gibt noch vieles unter dem Hahn zu besprechen. Denn Tränen sah ich nicht nur als Freudentränen nach dem Fall der Mauer, sondern auch als Tränen nach dem Verlust des Arbeitsplatzes ziemlich schnell nach 1989. In den Dörfern, in denen ich Gemeindepfarrerin war, lebten die Menschen über Jahrzehnte von der Landwirtschaft. Von einem Tag auf den anderen waren die Arbeitsplätze weg. Das ist nun 30 Jahre her, eine ganze Generation. Die Kinder lebten in die neue Zeit hinein. Auch sie drehen sich manchmal weg, wenn die Alten erzählen.

Da denke ich an die Tränen des Petrus. Sie müssen geweint werden, wenn nicht damals, als die Zeiten sich so schnell wandelten, dann heute. In den Tränen des Petrus liegt die Chance, die Geschichte weiter zu erzählen und offen zu halten für Schuldeingeständnisse und heilende Gesten. Tränen bekommen dadurch rettende Kraft. Sie erzählen davon, dass es durch sie hindurch einen neuen Auftrag gibt, der unser Engagement und unsere Treue verlangt. Von diesem Auftrag erzählt uns Jesus. Er traut dem Leugner Petrus zu, seine Brüder und Schwestern im Glauben zu stärken. Die stark machen, die im Glauben schwächeln, wie er es selbst auch ‚bitterlich‘ erfahren musste, als er doch so stark sein wollte. Das heißt doch nichts anderes als mit denen im Gespräch zu bleiben, die sich abgehängt fühlen oder längst abgekehrt haben; nicht alles schön oder schlecht zu reden, sondern genau hinzusehen und zu warten und manchmal auch auszuhalten. Das Vergangene ist nicht tot. Es ist noch nicht einmal vergangen.

Pfarrerin Dr. Gabriele Metzner (*1964) ist seit 2007 Dozentin am Predigerseminar Wittenberg. Am 1. November 2019 tritt sie das Amt der Superintendentin des Evangelischen Kirchenkreises Wittenberg an.


Nachbemerkung:

In der Perikopenreihe wird der 9. November als „Tag des Gedenkens an die Novemberpogrome“ (Link: https://www.kirchenjahr-evangelisch.de/article.php#1176) geführt. Da sich der für den 9. November 2019 vorgesehene Predigttext der Perikopenreihe I auch für das Gedenken der Friedlichen Revolution eignet, wurde er für diesen Anlass beibehalten.