Predigt zum DEKT - Eröffnungsgottesdienst im Frankfurter Dom (Psalm 31,9b)

Manfred Kock

"Du stellst meine Füße auf weiten Raum."

Ein wundervolles Wort. Diese Kirchentagslosung tröstet schon in dem Augenblick, in dem man ihre Worte in den Mund nimmt. Im stillen Gebet, im lauten Lesen spürt man es geradzu körperlich: Ein Gedanke, der mich aufatmen läßt. Das Wort selbst ist ein weiter Raum, In ihm finden wir alle Platz. Auch Enge und Not, Angst und Verzeiflung werden aufgehoben in diesem Wort. 

Der ganze 31. Psalm, aus dem die Losung stammt, ist ein weiter Raum. Er nimmt uns auf mit unseren Fragen und Zweifeln. Wo menschlich gesehen alles am Ende scheint, da zeigt er Auswege, da ruft er ins Leben. Der Psalm öffnet Zugang zum Wesentlichen. Er tröstet ohne zu vertrösten. Er schenkt Weite und Geborgenheit zugleich.

So will dieser ganze Gottesdienst uns in die Weite holen - wie unterschiedlich die Lebensumstände auch sind, aus denen wir kommen. Dem einen spricht das Psalmwort aus der Seele: "Der Herr hat Großes an uns getan, des sind wir fröhlich." Gott hat sie aus der Enge ins Weite geführt. Anderen ist das Herz schwer. Sie konnten erst richtig einstimmen, als das Kyrie gesungen und als gebetet wurde: "Hilf mir heraus, Gott, und reiß das Netz entzwei, in dem ich mich verfangen habe. Zeig mir den weiten Raum, den du für mich geschaffen hast."

In dieser Kirchentagslosung können wir uns alle unterbringen, denn sie umspannt verschiedene Zeitebenen und darum auch verschiedene Erfahrungen.

1. Vergangenheit - Gott hat meine Füße immer wieder auf weiten Raum gestellt:

Das ist zunächst dankbare Erinnerung. Solche Erinnerung tut wohl. Wir sind gern nachtragend und lassen unsere Erinnerung nicht los an Verluste, die wir erlitten haben, und an Kränkungen, die uns zugefügt worden sind. Was hindert uns, dass wir uns genauso hartnäckig an Wohltaten erinnern, die uns zuteil geworden sind, - etwa die Bewahrung vor Unfällen, die Überwindung von Krankheiten, die Befreiung aus Ängsten? Der Psalm jedenfalls spricht es uns vor: „Gelobt sei Gott, denn er hat seine wunderbare Güte erwiesen... Du hörtest meine Stimme, als ich zu Dir schrie.“ Diese Erinnerung an das Gute, das uns widerfahren ist, an Befreiung, die wir erlebt haben, bedeutet kein verklärendes, rückwärtsgewandtes Gefühl. Diese Erinnerung will vielmehr Zuversicht schenken für Zeiten der Enge und der Angst: So wie Gott uns zuvor beigestanden hat, so wird er uns wieder beistehen!

Es ist kaum mehr als ein Jahrzehnt her, dass sich die politischen Verhältnisse in Europa und der Welt grundlegend verändert haben. Der Ost-West-Konflikt und die mit ihr verbundene nukleare Konfrontation haben uns manchmal vor Angst das Herz abgeschnürt. Und dann fiel vor mehr als einem Jahrzehnt der Eiserne Vorhang. Gott hat unsre Füße auf weiten Raum gestellt. Freilich, es ist unübersehbar, wie groß die ökonomischen Unterschiede noch sind. Es gibt auch Entfremdung, die nicht überwunden ist; ethnische Spannungen führen zu schrecklichen Bürgerkriegen. Man hat gelegentlich das Gefühl, in der Friedenspolitik machten sich wieder Ratlosigkeit und Verzagtheit breit. Haben wir so schnell vergessen, dass uns Gott aus einem schier unlösbaren Dilemma befreit hat? Die demokratischen Staaten müssen zusammenstehen, sie könnten den Waffenhandel unterbinden, inbesondere den massenhaften Handel mit Kleinwaffen, die man Kindern in die Hand zwingt und mit denen die vielen kleinen schmutzigen Kriege überwiegend geführt werden. Die Wende von 1989 hat weiten Raum eröffnet, hier müssen gerade die europäischen Demokratien, durch konsequente Politik die Konfliktparteien zur Versöhnung bringen!

2. Gegenwart - Gott stellt meine Füße auch heute auf weiten Raum:

Die Losung erinnert nicht nur an Befreiungserfahrungen in der Vergangenheit, sie öffnet auch die Augen für den weiten Raum, der uns in der Gegenwart offen steht.

Wir alle kennen das als Alltagserfahrung: Es gibt tagtäglich Situationen, da fühlen wir uns eingeengt und eingeschnürt. Wir starren auf ein Problem, unser Blickfeld verengt sich und wir merken gar nicht, wie viel freier Raum sich vor uns auftut. Wir täuschen uns über unsere Lage, wir bejammern sie, wir sind geradezu verliebt in die Klage über Beengung und Begrenzung. Dann brauchen wir den anderen Blickwinkel, den befreienden Hinweis: Gott stellt unsere Füße auch heute auf weiten Raum. Der Glaube schafft die neue Perspektive, weil er uns Distanz zu uns selber schenkt. Im Gebet, im Hören auf die Heilige Schrift, im Genuß der Sakramente finden wir den Raum zum Gotteslob. Wir öffnen uns für das, was schon ist, bevor menschliche Kraft hinzukommt.

Du stellst unsere Füße auf weiten Raum“ - Es ist Gott, der hier handelt. Wir besinnen uns auf die Stärke, die nicht unsere eigene ist. Unsere Stärke ist die von Gott geschenkte Kraft. Damit bekommen wir Spielraum, die eigenen Kräfte realistisch einzuschätzen und unsere Grenzen zu bedenken.

Unser Selbstverständnis als Menschen steht auf dem Spiel, nicht nur die eigenen Identität, sondern allgemein. Was ist der Mensch? Wer sind wir mit unseren Möglichkeiten, über das menschliche Leben und sein Erbgut zu verfügen? Derzeit wird in unserem Land eine heftige Debatte über die künftigen Entwicklungsmöglichkeiten der medizinischen und biologischen Forschung geführt. Nicht wenige Stimmen drängen darauf, bisher geltende Grenzen zu überschreiten und die jetzt noch angelegten Fesseln zu lockern. Das ist nicht von vorneherein ein leichtfertiges Unterfangen. Die Chancen der neuen Erkenntnisse sind groß. Aber menschliches Leben soll verwendet werden, um Heilerfolge bei schweren Krankheiten zu erzielen. Dabei werden uns die Hoffnungen rosig gemalt, und die Risiken werden verschwiegen. Der Bundespräsident hat in seiner eindrucksvollen und wegweisenden Berliner Rede gesagt: "Ich bin fest davon überzeugt, dass wir unendlich viel Gutes erreichen können, ohne dass Forschung und Wissenschaft sich auf ethisch bedenkliche Felder begeben müssen. Es gibt viel Raum diesseits des Rubikon."

3. Zukunft: Gott wird meine Füße auf weiten Raum stellen.

Weiter Raum, das bedeutet Freiheit, aber auch Risiko. Niemand sollte sich etwas vormachen, niemand sollte sich in Sicherheit wiegen: Der weite Raum, in dem wir uns heute bewegen, kann schon morgen ganz eng werden. Das Leben ist kein Fortschreiten von einem weiten Raum zum nächsten. Niemandem bleibt die Erfahrung der Enge und Angst erspart.

Und wir alle wirken an unseren Fesseln mit. Andere Götter locken uns in ihren Bann: Gott Mammon zum Beispiel. Mit unseren Bilder, wie wir Gott gern hätten, drohen wir Gott zu fesseln. Das Geschenk des Ruhetags droht zu verkommen. Doch der Sonntag ist mehr als bloß tariflich garantierte Freizeit, denn er schenkt einen Freiraum den man nicht mit Geld bezahlen kann. Unsere Freiheit wird verspielt, wenn wir uns aus den Bindungen des Generationenvertrags lösen. Auch der Schutz von Leben, Ehe und Ehre ist in unserem Zusammenleben immer wieder durch unser menschliches Tun gefährdet.

Doch der 31. Psalm reißt aus diesen Verstrickungen heraus. Er bekennt Gott als den, der erniedrigt und erhöht: er nimmt den Atem und er macht wieder lebendig, er führt zu den Toten hinab und er holt wieder herauf, so beten die Psalmen.

Im weiten Raum des Lebens gibt es eine Zeit der Klage und eine Zeit des Lobes, eine Zeit des Verzweifelns und eine Zeit des Hoffens, eine Zeit der Ungewissheit und eine Zeit des Vertrauens. Darum sollen wir uns keinen frommen Heroismus abverlangen. Gott hat Geduld mit uns, auch mit unserer Klage, sogar mit unserem Unglauben.

Vor allem aber: Gott stellt uns nicht nur in die Freiheit hinein, sondern er begleitet uns, hört unsere Klage, unseren Schrei aus der Not. Wer Gott um Hilfe anruft, hat den Glauben noch nicht vollends verloren. Auch in den Wüsten unseres Lebens ist er Hoffnung und Halt, Quelle und Brot. In einer Zeit, die nicht umsonst als eine Zeit der Gottesfinsternis beschrieben worden ist, sind Psalmen wie dieser 31. eine wunderbare Sprachschule der Freiheit. Sie helfen uns aus der Sprachlosigkeit heraus und pflanzen den Keim des Vertrauens: Gott wird meine Füße wieder auf weiten Raum stellen.

Wieviele Menschen erleben dies als tröstliche Gewissheit in den Extremsituationen des Lebens? Die Kirchen haben diese Einladung des Glaubens weiterzugeben, wo alle anderen schweigen. An den Särgen der Opfer von Unfällen und Katastrophen, wenn der Tod nicht nur eine Familie, sondern eine Stadt oder eine ganze Region erschüttert, dann suchen nicht nur die unmittelbar Betroffenen, sondern auch ihre Nachbarn und Freunde, ja eine ganze Gesellschaft nach festem Grund. Es gibt Situationen, in denen auch die säkularisierten Zeitgenossen dankbar sind, dass es so etwas gibt wie festen Halt im freien Raum, denn auch sie erleben kollektive Ratlosigkeit als einen freien Fall ins Bodenlose. Dann hat auch die fremdgewordene Botschaft der Bibel plötzlich eine Kraft, dass Menschen wieder Boden unter den Füssen spüren. Wie gut, wenn wir auf die alten, bewährten Erfahrungen zurückgreifen können, die die biblischen Texte uns anbieten. Sie geben uns die Kraft und den Mut, den Mund aufzumachen und von Sinn mitten in der Sinnlosigkeit zu sprechen.

4. Auf dich, Gott, hoffe ich:

Der Psalm, aus dem die diesjährige Kirchentagslosung genommen wurde, ist durchzogen von Vertrauenserklärungen für Gott und auf Gott: "Gott, auf dich traue ich ... In deine Hände befehle ich meinen Geist ... Auf dich, Gott, hoffe ich und spreche:  Du bist mein Gott! Meine Zeit steht in deinen Händen."

Wer diesen Psalm betet, sieht mehr als die äußere Wirklichkeit, sieht hinter die Fassaden, hört das Sterbegebet des gekruzigten Jesus: "In deine Hände befehle ich meinen Geist".
Damit ist der ganze Psalm mit hineingenommen in das, was zu unserer Erlösung am Kreuz geschehen ist.

Lasst uns mit Herzen, Augen und Ohren bitten, die mehr wahrnehmen, als was vor Augen ist:
In dem Gekreuzigten den Lebendigen erkennen,
der uns Raum schafft im Himmel und auf Erden .
Er hilft uns,
hinter der unzulänglichen Gestalt unserer Kirche ihre Gottesnähe zu sehen;
hinter dem Lachen und Weinen der Menschen,
hinter dem Seufzen aller Kreatur Gottes Ja zum Menschen zu hören;
hinter all unserem Wahrnehmen das erkennen, was unserem Leben Hoffnung gibt -
*damit der Geist nicht müde wird,
die Augen nicht trübe werden,
die Füße nicht schlapp.
Amen.