Predigt am Reformationstag in der Herrenhäuser Kirche zu Hannover (Jesaja 62,6-7+10-12)

Hermann Barth

O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den Herrn erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden!

Zieht hin, zieht hin durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker! Siehe, der Herr lässt es hören bis an die Enden der Erde: Saget der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her! Man wird sie nennen "Heiliges Volk", "Erlöste des Herrn", und dich wird man nennen "Gesuchte" und "Nicht mehr verlassene Stadt".

Liebe Gemeinde!

I.

Die Zeiten, in denen in Städten und Burgen und manchen Dörfern Wächter postiert waren, auf den Mauern, an den Toren, in den Türmen - diese Zeiten sind längst vorbei. Mit ihrer Funktion ist weithin auch das Wort "Wächter" verschwunden. Wo es überlebt hat wie im Falle der Bezeichnung "Nachtwächter", ist es mutiert, um nicht zu sagen: abgesunken, zum Schimpfwort. Dabei waren die Wächter - übrigens auch die Nachtwächter - einst wichtige, ja unter bestimmten Bedingungen sogar überlebenswichtige Personen. Wir kennen das aber nur noch aus historischen Darstellungen, auch aus Romanen oder Opern. Wissen Sie, erinnern Sie sich, in welcher Situation auf der Bühne das folgende Signal erklingt?

[Orgel spielt das Trompetensignal aus "Fidelio" Nr. 14.
"Herr Ehlbeck, da capo, bitte. Auch auf der Bühne wird das Signal wiederholt. Und die Regieanweisung lautet: 'Man hört die Trompete stärker.'"]

Ich bin nicht Jörg Pilawa, und der Gottesdienst ist keine Quizsendung. Außerdem habe ich den Eindruck, viele kennen schon die Antwort: Ja, "Fidelio" von Ludwig van Beethoven, die Szene, in der das Trompetensignal vom Turm des Staatsgefängnisses das Kommen des Ministers ankündigt: für Don Pizarro, den Gouverneur des Gefängnisses, das Zeichen, dass seine brutale Herrschaft zu Ende geht und seine finsteren Machenschaften aufgedeckt werden, für Florestan, der schon seinen Tod vor Augen hatte, für seine Gattin Leonore und für all die anderen Opfer der Gewaltherrschaft das Zeichen der Befreiung, der Rettung, der Erlösung.

Im heutigen Predigttext erklingt von den Mauern Jerusalems zwar kein Trompetensignal, jedenfalls ist nicht davon die Rede. Aber es liegt nahe, dass die Kunde, die auf Gottes Geheiß unter den Bewohnern Jerusalems verbreitet wird, von den Wächtern ausgeht oder zumindest auch von ihnen ausgerufen wird:

Siehe, dein Heil kommt! Was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her.

An einer anderen Stelle des Jesajabuchs, die dem Predigttext, angefangen von der Anrede Jerusalems, erkennbar nahesteht, werden die Wächter denn auch ausdrücklich genannt:

Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße der Freudenboten, die da Frieden verkündigen, Gutes predigen ..., die da sagen zu Zion: Dein Gott ist König! Deine Wächter rufen mit lauter Stimme ...; alle Augen werden es sehen, wenn der Herr nach Zion zurückkehrt. Seid fröhlich ..., ihr Trümmer Jerusalems; denn der Herr hat sein Volk getröstet und Jerusalem erlöst. (52,7-9)

Nicht nur in "Fidelio", auch hier im Jesajabuch geht es um Befreiung, Rettung, Erlösung. Gott bringt die nach Babylon Verschleppten wieder heim, er bringt das verwüstete, in Trümmern liegende Jerusalem wieder zu Ehren.

Wir befinden uns mit dem Predigttext etwa im Jahr 500 vor Christus. Die ersten Deportationen nach Babylon liegen ungefähr ein Jahrhundert zurück. Bald drei Generationen ist es auch schon wieder her, dass das Unfassliche geschah: Nicht nur wurde Jerusalem verwüstet und die Mauer geschleift, der Tempel, den König Salomo gebaut hatte, der Ort, den Gott auf Erden als seine Wohnung erwählt hatte - ein Trümmerhaufen. Wir können uns heute nicht mehr vorstellen, welche tiefen Furchen das in der Seele der Menschen zog: Eine Welt brach zusammen, der Boden unter den Füßen gab nach, die Verheißungen Gottes - zum Land, zum davidischen Königtum, zum Berg Zion - waren pulverisiert. Jahrzehnte gingen ins Land. Ein namenloser Prophet - wir nennen ihn Deuterojesaja, den Zweiten Jesaja - beschwor die Deportierten, an die Treue Gottes zu glauben. Und siehe da: Die neubabylonische Herrschaft verfiel, die Perser waren jetzt die Weltmacht, und sie erlaubten den Exilierten die Rückkehr - wenn sie wollten. Die Rückkehrergruppen bekamen sogar die Unterstützung der persischen Regierung, sie betrieben Aufbauarbeit: an den Trümmern aus Steinen, aber auch an den Trümmern der rechtlichen Ordnung. Die Erfolge blieben bescheiden: Sollte es das schon gewesen sein? Die Erwartungen, die der Zweite Jesaja und prophetische Stimmen seinesgleichen ausgelöst hatten, gingen viel weiter.

II.

Und das ist in etwa die Situation, in der ein anderer namenloser Prophet die Fackel der Zuversicht aufs neue entzündete:

Bereitet dem Volk den Weg. Soll heißen: Die Nachfahren der nach Babylon Verschleppten werden sich auch auf den Weg machen und heimkehren ins Land der Verheißung. Machet Bahn, räumt die Steine hinweg. Das Heil der Tochter Zion, der Heilige selbst, geleitet sie.

Diesen Ton hat der namenlose Prophet vom Zweiten Jesaja gelernt. Er orientiert sich an großen Vorbildern. Das tun wir auch - und lassen uns von der Annahme leiten: Je biblischer unsre Sprache ist und je intensiver an den großen Liederdichtern geschult, desto richtiger - das mag ja noch zutreffen - und desto besser - spätestens hier geht die Rechnung nicht ganz auf. Wer sprachfähig sein will in Glaubensdingen, der muss es wagen, neue Wege zu gehen. Der namenlose Prophet, von dem der Predigttext stammt, hat das gewusst. Er redet zwar auch von den Wächtern auf den Mauern, aber mit einer überraschenden inhaltlichen und sprachlichen Neuausrichtung:

O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den Herrn erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte!

Die Wächter bekommen eine völlig neue Aufgabe. Aber welche? Jedenfalls ist sie für Wächter völlig untypisch, ja man muss sagen: völlig ungeeignet. Was soll man von Wächtern halten, "die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen"? Die sind doch reif für eine Abmahnung!

Entscheidend für das Verständnis ihrer Aufgabe ist der Satz: "Ihr sollt den Herrn erinnern". Doch was bedeutet er? Ich muss hier eine Nebenbemerkung zu den Unterschieden zwischen norddeutschem Deutsch und süddeutschem Deutsch einflechten. Das Norddeutsche geht mit dem Wort "erinnern" sehr freizügig um. Nehmen wir den Satz: "Ich erinnere den Präsidenten". Das hat, wie das Süddeutsche korrekt bewahrt hat, eigentlich nur die eine Bedeutung: Ich helfe dem Gedächtnis des Präsidenten auf - falls das nötig ist. Nach norddeutschem Verständnis kann der Satz aber auch bedeuten: Ich erinnere mich an den Präsidenten. Und: Ich bringe den Präsidenten in Erinnerung. Das Ergebnis dieser kurzen Sprachlektion lautet: Wenn die Wächter Gott erinnern sollen, heißt das nicht etwa, sie sollen die Menschen an Gott erinnern, sie sollen der Gottvergessenheit wehren (so schön und wichtig dieser Gedanke grundsätzlich auch ist), sondern: Sie sollen dem Gedächtnis Gottes aufhelfen, sie sollen sich darum kümmern, dass Gott Jerusalem nicht vergisst, noch etwas anders gewendet: Sie sollen Gott mit der Erinnerung an Jerusalem nerven.

Manche Gesichter sehen etwas ungläubig aus, und hinter der Stirn lese ich die Frage: Und das soll in der Bibel stehen? Wir sollen Gott nerven? Ja, genau so ist es gemeint - wie übrigens auch der parallele Ausdruck zeigt: "Lasst Gott keine Ruhe". Sich betend an Gott zu wenden, sein Herz vor ihm auszuschütten, ihn inständig anzuflehen - das darf alles ganz ungefiltert und unzensiert geschehen. Jesus hat ein Gleichnis zum Beten erzählt, dessen Pointe - in der kraftvollen Sprache Luthers - darauf hinausläuft, dass Gott den Bittenden "um seines unverschämten Geilens willen" erhört.

In einer Situation, in der die hochfliegenden Erwartungen von der kümmerlichen Wirklichkeit fortwährend enttäuscht wurden, hat der namenlose Prophet darauf verzichtet, die Verheißung noch um eine Umdrehung beschwörender auszurufen. Er schätzt die Situation anders ein: Die Zeit der kümmerlichen Verhältnisse ist noch nicht vorüber. Darum ist auch für die Wächter jetzt etwas anderes dran, als es wächtertypisch wäre. Sie sollen ein Vorbild geben im beharrlichen Beten. Die "Bibel in gerechter Sprache" hat es sprachlich gut getroffen: "Die ihr Gott erinnert, gönnt euch keine Ruhe! Gönnt Gott keine Ruhe, bis Gott Jerusalem zum Lobpreis ... macht."

III.

Die Worte des namenlosen Propheten, in die wir uns vertieft haben, sind der für den heutigen Reformationstag vorgesehene Predigttext. Ich finde: eine gute Wahl! Er drängt sich zwar dafür zunächst nicht auf. Die Bezüge zum Reformationstag werden aber je länger je mehr offenkundig. Vier davon will ich zum Schluss hervorheben:

Der Reformationstag richtet den Blick auf die Kirche, vornehmlich auf ihre Erneuerungsbedürftigkeit. Dieser Blick ist nicht immer erfreulich. Oder ungeschminkt gesagt: Dieser Blick kann schrecklich weh tun. Dann nämlich, wenn er Niedergang und Verfall und scheiternde Besserungsversuche zu sehen bekommt - und aushalten muss. Vor ein paar Tagen telefonierte ich mit einem Kollegen, und der sagte: "Ich schaue mir gerade die Zahlen der Landeskirche XY an. Das ist traurig, wie der Rückgang der Mitgliederzahl ungebremst fortschreitet. Lieber Herr Barth, trösten Sie mich." Spontan habe ich auf diese Bitte mehr schlecht als recht reagiert. Es ist eben auch erheblich schwieriger, eine Enttäuschungserfahrung zu überwinden als Mut für einen Neubeginn zu machen. Mit dem Predigttext im Rücken würde ich sagen: In dieser Situation lernen wir zwei Dinge, nicht auf uns und unser Krisenmanagement zu vertrauen und inständig zu beten. Das erste brauchen wir, damit wir nicht ständig mit dem Selbstvorwurf herumlaufen, wir hätten nicht, noch immer nicht genügend getan. Und das zweite ist so wichtig und hilfreich, weil sich daran alle beteiligen können, auch die, die keine großen Ideenproduzenten oder Redner oder Organisatoren sind, sogar die, die aus Gründen von Krankheit oder Alter oder anderen Verpflichtungen keine tätige Hilfestellung geben können. Inständig zu Gott beten, ihn betend bedrängen - das ist jedem gegeben. Und wem das noch nicht tröstlich genug ist, der soll den Verheißungen trauen, die Gott seiner Kirche mit auf den Weg gegeben hat, besonders der einen, wonach nicht einmal die Pforten der Hölle sie überwältigen werden (Matthäus 16,18). Man kann geradezu den letzten Vers des Predigttextes als Verheißung für die Kirche lesen: Man wird sie nennen "Heiliges Volk" und "Erlöste des Herrn", "Gesuchte" und "Nicht mehr Verlassene".

Dass der Predigttext das inständige Gebet gerade den Wächtern zuweist, ist eine wichtige Korrektur an der Vorstellung vom Wächteramt der Kirche. Diese Vorstellung hat ihren festen biblischen Ankerpunkt in einem an den Propheten Hesekiel (3,17) gerichteten Gotteswort: "Du Menschenkind, ich habe dich zum Wächter gesetzt über das Haus Israel. Du wirst aus meinem Munde das Wort hören und sollst sie in meinem Namen warnen." Vom Wächteramt der Kirche wird aber manchmal sehr vollmundig geredet. Das ärgert viele, denn es entsteht der Eindruck, die Kirche beanspruche, ganz genau zu wissen, was diejenigen, die in Politik oder Wirtschaft oder Wissenschaft Verantwortung tragen, jetzt gerade zu tun haben. Was für ein anderes Wächteramt ist es, wenn die Kirche mindestens so kräftig betet, wie sie sich öffentlich einmischt!

Reformation und Reform sind nicht nur sprachlich verwandt, sie haben auch inhaltliche Berührungspunkte, denn Reformation, die Erneuerung der Kirche aus Gottes Wort, führt zwingend zu Reformen. Darum ist es eine naheliegende und vernünftige Idee, den Reformationstag auch als Reformtag zu verstehen, also den 31. Oktober jedes Jahres zu nutzen, die nötigen Reformen in den Veranstaltungen zu thematisieren und auf diese Weise ins kirchliche Schaufenster zu stellen. Das sachliche Gefälle geht allerdings immer von der Reformation zur Reform. Die Durchführung von Reformen - und mögen sie durch noch so viel good practice empfohlen sein - bringt für sich allein keine Reformation der Kirche zustande. Der namenlose Prophet, dem wir am heutigen Reformationstag im Predigttext begegnen, hat im Blick auf sein Thema, die Erneuerung Israels nach dem Exil, die dabei auftretenden Schwierigkeiten nicht zum Anlass genommen, das Tempo der Reorganisation zu forcieren, sondern auf die Kraft des Gebets und damit die wirksame Gegenwart Gottes zu vertrauen.

Jemand Steine in den Weg zu legen - in dem Sinne: den andern zu behindern oder ihm Schwierigkeiten zu machen - ist uns als sprachliche Redensart wie als reale Erfahrung wohlvertraut. Das genaue Gegenteil geschieht bei der Vorbereitung auf das Kommen der Exilanten: "Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, [und jetzt kommt der entscheidende Ausdruck:] räumt die Steine hinweg." Wie oft und wie rechthaberisch verbauen wir uns in scheinbar geistlichem Eifer den Weg zueinander! Immer dann, wenn wir reformatorisches Selbstbewusstsein mit unangefochtener Selbstsicherheit verwechseln oder wenn wir unter Berufung auf das notwendige eigene Profil uns nur noch gegen andere profilieren, legen wir anderen Steine in den Weg. Am Reformationstag ist es gut, wenn wir den Kontrast vor Augen gestellt  bekommen: nicht Steine in den Weg legen, Steine aus dem Weg räumen.

Ich schließe mit einem Vers aus dem Jesajabuch, der sich in unmittelbarer Nachbarschaft des Predigttextes findet (61,1) und in dem vermutlich eben der namenlose Prophet zu Wort kommt, dem wir den Predigttext verdanken:

Der Geist Gottes des Herrn ist auf mir ... Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen.

Reformatorischer kann man unser aller Auftrag nicht beschreiben! In der 6. These der Barmer Theologischen Erklärung ist dies zu einem neuzeitlichen Bekenntnissatz geworden: "Der Auftrag der Kirche, in welchem ihre Freiheit gründet, - also der Auftrag der Kirche der Freiheit - besteht darin, ... die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk."

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus.

Weiter, liebe Schwestern und Brüder: Was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht, was rein, was liebenswert, was einen guten Ruf hat, sei es eine Tugend, sei es ein Lob - darauf seid bedacht.

Amen.