Predigt (Lukas 9, 62)
23. März 2003
„Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes“ (Lukas 9, 62). Dieses Wort aus dem Evangelium für den heutigen Sonntag will in die neue Woche mit uns gehen. Es ist ein Wort, das einem auch nachgehen kann. Ich kenne Menschen, die ein Leben lang von diesem Wort nicht losgekommen sind. Ich will es heute der neuen Oberin Gudrun Felling zurufen – als ein Wort, das ihr helfen kann, auf klarem Kurs zu bleiben. Wer eine Furche ziehen will, blickt nicht zurück; ein Zickzackkurs wäre die unweigerliche Folge. Wer eine Furche ziehen will, muss nach vorn schauen. Nur dann wird die Furche klar, gerade und fest. Auch Winfried Böttler will ich dieses Wort zurufen, der heute aus seinem Dienst als Direktor des Paul-Gerhardt-Stifts verabschiedet wird. Er hat in den Jahren seines Dienstes hier eine Furche gezogen; deutliche Spuren werden bleiben. Seine Liebe zur Diakonie hat sich gefestigt und vertieft; deshalb bleibt er auch der Diakonie unserer Kirche verbunden. Sie beide können Zuversicht gut brauchen; sie soll Ihnen zugesprochen sein: „Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.“
Wie viel kann man eigentlich an einem einzigen Tag in sich aufnehmen, liebe Gemeinde? Zu einem Festgottesdienst sind wir zusammen, wieder einmal in dieser schönen Kirche. Ein strahlender Sonntag umgibt uns; frühlingshaft ergehen sich die Menschen auf Straßen, an Seen und in Parks. Und zugleich fallen Bomben. Unerbittlich hat die Sprache der Waffen die Sprache der Vernunft verdrängt. Das Wort Jesu, das unser Nachdenken leitet, ist ein Ruf in die Nachfolge. Für das Reich Gottes sollen wir geschickt sein. Das Reich Gottes aber ist „Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist“, wie es beim Apostel Paulus heißt. Davon kann ich heute nicht absehen, an diesem vierten Tag des Kriegs im Irak: Von Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist. „Was würde Jesus dazu sagen?“ Dieser Frage, die Martin Niemöller zum ersten Mal in der Werkstatt eines Schusters im westfälischen Lippstadt gesehen hat, können auch wir heute nicht ausweichen. Welches Beten und Denken, Reden und Handeln entspricht dem Ruf in die Nachfolge? Die Frage lässt mich nicht los, sie lässt uns alle hoffentlich nicht los. Wie sieht das heute aus: Gerechtigkeit, Frieden, Freude im Heiligen Geist?
Was kann man an einem Tag alles in sich aufnehmen? Dieser Sonntag ist für unsere Kirche durch die Person und das Werk Jochen Kleppers bestimmt. Denn gestern jährte sich sein Geburtstag zum 100. Mal. In der Reihe der für unsere Kirche wichtigen hundertsten Geburtstage – Heinrich Vogel und Kurt Scharf haben uns im letzten Jahr beschäftigt, der 100. Geburtstag von Harald Poelchau steht noch in diesem Jahr bevor – tritt uns heute der Schriftsteller und Liederdichter Jochen Klepper mit seinem hundertsten Geburtstag entgegen.
Jochen Klepper ist einer der großen Kirchenliederdichter unserer Kirche. Nach Martin Luther und Paul Gerhardt erscheint er – wenn auch in gebührendem Abstand – unter den Dichtern am häufigsten in unserem Evangelischen Gesangbuch. Zwölf Mal ist er mit Liedtexten dort verzeichnet. Dreißig Kirchenlieder hat er insgesamt verfasst. Eines seiner Lieder haben wir gerade zu singen begonnen.
Auf den Lebensweg Jochen Kleppers will ich heute nur einen flüchtigen Blick werfen. Im Kreis Glogau in Schlesien wurde er geboren, in einem Ort namens Beuthen, den man im Unterschied zur oberschlesischen Industriestadt Beuthen auch „Kuhbeuthen“ nannte. In einer Pfarrfamilie wuchs er mit zwei Schwestern und zwei Brüdern auf. Das Pfarrhaus blieb seine Sehnsucht; weil er selbst dieser Sehnsucht nicht genügte, konnte seine Kritik am Pfarrerstand so scharf ausfallen, mit der er wohl auch den eigenen Vater traf. Dass er das Theologiestudium nicht zu Ende führte, weil er der leidenschaftlichen Neigung zum Schreiben folgen wollte, belastete die Beziehung zum Vater – und mehr noch, die Tatsache, dass er 1931 eine dreizehn Jahre ältere Frau heiratete, eine Jüdin zumal, die zwei Töchter mit in die Ehe brachte.
Der Vater bricht die Beziehung zum Sohn ab. Umso mehr prägen Vaterbeziehungen sein literarisches Schaffen. Schon in dem weithin unbekannten Roman „Der Kahn der fröhlichen Leute“ ist das so, noch vor dem Beginn der Nazizeit entstanden. Und mehr noch gilt das für den Roman über den Soldatenkönig, der einfach den Titel trägt „Der Vater“. Das schwierige Verhältnis zwischen Friedrich Wilhelm I. und Friedrich dem Großen ist das Thema. Obwohl Klepper schon bald nach dem Erscheinen des Romans aus der Reichschrifttumskammer ausgeschlossen wurde, entwickelte sich sein Buch zum Bestseller. Zwischen 1937 und 1942 wurde es mehr als hunderttausendmal verkauft. Der letzte Versuch, Heimat zu finden, in Nikolassee im eigenen Haus, er war auch dem „Vater“ zu verdanken; aber er machte der Heimatlosigkeit kein Ende.
Es sind nicht so sehr die Romane, es sind vor allem andere Texte, in denen Jochen Kleppers eigenes Gottesverhältnis, sein Suchen und Finden, sein Fragen und Vertrauen Ausdruck finden. Die Tagebuchaufzeichnungen sind zu nennen, denen das Wort aus dem 57. Psalm vorangestellt ist, den wir vorhin miteinander gebetet haben: „Sei mir gnädig, Gott, sei mir gnädig, denn auf dich traut meine Seele, und unter dem Schatten deiner Flügel habe ich Zuflucht, bis das Unglück vorübergehe.“ Und dann sind es vor allem die Lieder, die im Zusammenhang zuerst 1938 unter dem Titel „Kyrie“ veröffentlicht wurden. Sie sind ein ergreifendes Glaubenszeugnis; sie lassen aber auch erkennen, wie das Gottvertrauen aus dem Leiden wachsen muss, das im Fall von Jochen Klepper nicht eine allgemeine Einsicht, sondern konkrete Lebenserfahrung ist.
Der Tageslauf und das Kirchenjahr bestimmen die Sammlung von Liedern, die in „Kyrie“ zusammengefasst sind. Manche von ihnen kennen wir heute gut; sie haben in unser Liedgut Eingang gefunden. Der Lauf des Tages wird eröffnet durch das Morgenlied „Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr; Gott hält sich nicht verborgen, führt mir den Tag empor.“ Der Bogen des Tageslaufs wölbt sich zum Mittag – mit dem schönen Lied: „Der Tag ist seiner Höhe nah. Nun blick zum Höchsten auf, der schützend auf dich niedersah in jedes Tages Lauf.“ Und der Tag neigt sich mit dem Abendlied: „Ich liege, Herr, in deiner Hut und schlafe ganz in Frieden. Dem, der in deinen Armen ruht, ist wahre Rast beschieden.“
Daneben tritt der Bogen des Kirchenjahrs: Da ist zuallererst das Weihnachtslied zu nennen, das unser Gesangbuch – zu Unrecht – dem Advent zuordnet: „Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern. So sei nun Lob gesungen dem hellen Morgenstern! Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein. Der Morgenstern bescheinet auch deine Angst und Pein.“ Es ist überhaupt der Weihnachtsfestkreis, dem Klepper sich am intensivsten zugewandt hat. Vergleichsweise wenige Lieder gelten den anderen Festen des Kirchenjahrs; die meisten dieser Lieder sind unbekannt geblieben.
Aber an diesen Durchgang durch den Tageslauf und den Lauf des Kirchenjahrs schließen sich im „Kyrie“ noch einige Lieder außer der Reihe an. Sie gelten dem Jahreswechsel und dem Geburtstag, also dem Wechsel des Lebensjahrs. Das Silvesterlied – „Ja, ich will euch tragen bis zum Alter hin. Und ihr sollt einst sagen, dass ich gnädig bin“ – und das Neujahrslied – „Der du die Zeit in Händen hast, Herr, nimm auch dieses Jahres Last und wandle sie in Segen“ – haben vielen Menschen Zuversicht vermittelt. Jochen Klepper brauchte diese Lieder selber: „Nach neuen Kirchenliedern ist immer wieder der Friede, der im Herzen immer herrscht, auch in den Sinnen und Nerven.“ So notiert er an Pfingsten 1938 in sein Tagebuch.
Zu diesen Liedern gehört auch das Geburtstagslied, das wir vor der Predigt gesungen haben.
Ja, sie haben richtig gehört. Das Lied, das in unserem Gesangbuch unter „Angst und Vertrauen“ eingeordnet ist, ist nach dem Willen seines Autors ein Geburtstagslied. Unter den Liedern von Klepper, die unser Gesangbuch enthält, war es mir bisher das fremdeste, vielleicht auch, weil es gar nicht an der ihm gemäßen Stelle steht. Wie wäre es, wenn wir dieses Lied zu Geburtstagen singen würden – beispielsweise statt des vertrauten: „Lobet den Herren, den mächtigen König der Ehren“? Und was könnte man zu Jochen Kleppers 100. Geburtstag Besseres tun als sein Geburtstagslied zu singen? Unter seinen dreißig Kirchenliedern ist es wohl das kühnste.
Außer dem Ambrosianischen Morgengesang, einer Nachdichtung, hat Klepper jedem seiner Lieder ein biblisches Zitat vorangestellt. Er lebte aus der Bibel; jedem Tagebucheintrag stellte er die biblische Losung für den Tag voran. So entstanden auch seine Lieder nicht aus seinen Einfällen, sondern aus dem Bedenken der biblischen Botschaft. Im Geburtstagslied allerdings verknüpfte er in kühner Weise zwei biblische Aussagen aus unterschiedlichen Welten – aus dem 1. Timotheusbrief und aus der Apostelgeschichte, aus einem dem Paulus zugeschriebenen Wort, das von Gottes unzugänglichem Licht spricht, einerseits und andererseits aus dem Bericht der Apostelgeschichte über die Predigt des Paulus auf dem Areopag in Athen, in der gerade Gottes Nähe bekannt wird: er ist nicht ferne von einem jeglichen unter uns. Die Verknüpfung der beiden biblischen Zitate erzeugt eine ganz eigentümliche Spannung. Sie heißt so: „Der Selige und allein Gewaltige, der König aller Könige und Herr aller Herren, der allein Unsterblichkeit hat, der da wohnt in einem Lichte, da niemand zukommen kann, welchen kein Mensch gesehen hat noch sehen kann – fürwahr, er ist nicht ferne von einem jeglichen unter uns. Denn in ihm leben, weben und sind wir.“
Ganz offenkundig war es genau diese Spannung, in der Jochen Klepper sein eigenes Leben erfuhr. Und er war davon überzeugt, dass darin die Grundspannung jedes Christenlebens zum Ausdruck kommt. Gottes Unnahbarkeit und seine Nähe gehören zusammen. Unnahbar ist er, weil unsere Sünde uns von seiner Majestät entfernt. Nah ist er, weil ihn seine eigene Liebe zu uns Menschen treibt.
Ich weiß kaum eine andere Dichtung, die beides so nah miteinander verbindet. Betrachten Sie noch einmal die beiden ersten Strophen, die Unnahbarkeit und Nähe so dicht miteinander zusammensprechen:
„Gott wohnt in einem Lichte, / dem keiner nahen kann. / Von seinem Angesichte / trennt uns der Sünde Bann. / Unsterblich und gewaltig / ist unser Gott allein, / will König tausendfältig, / Herr aller Herren sein. // Und doch bleibt er nicht ferne, / ist jedem von uns nah. / Ob er gleich Mond und Sterne / Und Sonnen werden sah, / mag er dich doch nicht missen / in der Geschöpfe Schar, / will stündlich von dir wissen / und zählt dir Tag und Jahr.“
Ganz schlicht ist die Form dieses Gedicht. Achtzeilig sind die Strophen im jambischen Versmaß, weiblicher und männlicher Versausgang wechseln sich ab. So klassisch ist das Versmaß, dass wir das Lied ohne Mühe auf eine der barocken Melodien singen können, zum Beispiel auf die Melodie, die uns von Paul Gerhardts Lied „Befiehl du deine Wege“ vertraut ist.
Die Kühnheit liegt nicht in der Form, sie liegt im Inhalt; aber die Schlichtheit der Form verpflichtet in besonderer Weise dazu, dass jedes Wort stimmt. Doch kühn ist der Inhalt, für ein Geburtstagslied zumal. Wer wird schon eine Geburtstagsgratulation mit dem Hinweis beginnen wollen, dass unsere Sünde uns von Gott trennt? Das ist eine ungewohnte und nicht gerade galante Weise zu gratulieren. Aber es bleibt nicht bei den Cheruben, die mit einem Flammenschwert den Eingang zum Paradies bewachen. Denn Gott selbst, dem keiner von sich aus nahen kann, hat den Weg in unsere Nacht und unsere Nähe gefunden. Die Tür zu ihm öffnet sich von innen. Gerade weil die erste Strophe so abweisend beginnt, entwickelt sich daraus eines der tröstlichsten Lieder unseres Gesangbuchs überhaupt. Die tröstende Nähe zeigt sich auch in dem gleitenden Übergang von einem allgemeinen „wir“ – „Von seinem Angesichte trennt uns der Sünde Bann“ – zu einem „du“, das jeder und jedem einzelnen gilt, einem „du“, von dem sich das Geburtstagskind unmittelbar angesprochen wissen darf: „mag er dich doch nicht missen in der Geschöpfe Schar“; „auch deines Hauptes Haare sind wohl von ihm gezählt“.
Dieses tröstende Du spricht uns an und kann uns erreichen, weil hier in so deutlicher Weise von einem geredet wird, der leidgeprüft ist. Von der Nacht ist die Rede, von Erfahrungen, die angst und bange machen. Aber solche Erfahrungen werden hineingenommen in die Gewissheit, dass Gottes Schöpfermacht uns trägt. Die Gewissheit Jesu wird aufgeboten, nach der auch das Kleinste von Gott hoch geachtet wird, ja sogar jedes Haar ist von ihm gezählt.
Dass Gott in Jesus Mensch wurde, ist der tragende Grund für die Gewissheit, dass Gott aus dem Glanz seiner Ewigkeit in mein Leben gekommen ist, auch in seine dunkelsten Seiten und Stunden. Jochen Kleppers letzter Eintrag in sein Tagebuch, geschrieben kurz vor seinem Tod, lautet: „Über uns steht in den letzten Stunden das Bild des Segnenden Christus, der um uns ringt. In dessen Anblick endet unser Leben.“ Es war wohl der Blick auf diesen Christus, der Jochen Klepper dabei half, auch noch im Tod an die zu denken, die weiterleben sollten. So schrieb er noch rechtzeitig eine Notiz für die, die ihn, seine Frau und seine Tochter finden sollten: „Vorsicht, Gas!“
Das Geschenk, leben zu dürfen, wollte er nicht auslöschen. Er wollte es bewahren, auch über seinen eigenen Tod hinaus.
„Was würde Jesus dazu sagen?“ Die Antwort Jochen Kleppers weist uns die Richtung: Gottes Liebe zu jedem seiner Geschöpfe weist uns die Richtung. Für den Gott, der jedes Haar auf unserem Haupt zählt, ist jedes Menschenleben gleich wichtig, unabhängig von seiner Nationalität. Der Gott, der jeder und jedem Nahekommen will, will den Krieg nicht. Nein, er entspringt dem Willen von Menschen. Sie müssen ihn verantworten, ohne sich dafür auf Gott berufen zu können. Jeden Tag müssen sie verantworten, an dem er andauert. Wir alle haben an der Verpflichtung Anteil, dass er zu Ende kommt, so schnell das nur geht. Und wir müssen uns den Opfern zuwenden, die er hinterlässt, schon heute. Nicht zurückblicken müssen wir, sondern nach vorn: damit Menschen leben können, nicht nur bei uns, sondern auch im Irak.
Die letzte Strophe von Jochen Kleppers Geburtstagslieds weist uns die Richtung, gerade heute: „Nun darfst du in ihm leben / und bist nie mehr allein, / darfst in ihm atmen, weben / und immer bei ihm sein. / Den keiner je gesehen / noch künftig sehen kann, / will dir zur Seite gehen / und führt dich himmelan.“
379, 4+5.
„Wir wissen nicht den Sinn, das Ende. / Doch der Beginn ist offenbar. / Nichts ist, was nicht in deine Hände / am ersten Tag beschlossen war. / Und leben wir vom Ursprung her, / bedrückt uns keine Zukunft mehr. / In allen Ängsten unseres Handelns / siegt immer noch dein ewiger Plan. / In allen Wirren unseres Wandelns / ziehst du noch immer deine Bahn. / Und was wir leiden, was wir tun: / Wir können nichts als in dir ruhn.“
Vater unser im Himmel. ...
Segen.