Ansprache im Gedenkgottesdienst im Berliner Dom

11. September 2002

Es gilt das gesprochene Wort!

1.
„Wir müssen lernen, die Leere zu ertragen und in ihrer Gegenwart zu leben“. Simone Weil, die Philosophin und Glaubenszeugin, hat so gesprochen. Void ist das englische Wort für diese Leere. Daniel Libeskind hat Voids, Hohlräume der Leere, in sein Jüdisches Museum eingefügt: Orte der Leere, in deren Gegenwart wir lernen müssen zu leben.

Leere bleibt, wo Gewalt gewütet hat. Der 11. September war ein Tag, der plötzlich Leere in unser Leben riss. Die Sinnlosigkeit am helllichten Tag steigt wieder in uns auf: Flugzeuge, die mutwillig und absichtsvoll in Häuser gelenkt wurden, in denen Menschen ihren Aufgaben nachgingen. Andere setzten sich bis zum äußersten ein, um sie zu retten, und fanden ebenfalls den Tod.

Zurück bleibt ein Gefühl der Leere. Absolut Sinnloses ist geschehen. Die Täter verstießen gegen alles, was den Namen „Sinn“ verdient. Amerikanerinnen und Amerikaner fielen dem zum Opfer, aber ebenso Menschen deutscher Herkunft. Angehörige von ihnen sind heute unter uns. Mit ihnen verneigen wir uns vor den Toten.

2.
Gibt es einen Weg aus diesem Abgrund der Leere hinaus, einen Weg zu einem Sinn, der die Leere überwindet?

„Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Söhne und Töchter Gottes genannt werden.“ So heißt es in der Bergpredigt Jesu.

Oft wird dieser Teil der Verkündigung Jesu als Aufforderung dazu gedeutet, Unrecht einfach nur hinzunehmen: Halte auch die linke Backe hin, geh auch die zweite Meile mit. Doch das ist ein Missverständnis. Es entlastet uns scheinbar von den Zumutungen der Bergpredigt. Aber deren Zielrichtung gerät dabei aus dem Blick. Sie lädt dazu ein, Möglichkeiten gewaltfreien Handelns zu erkunden. Es geht Jesus, dem Bergprediger, nicht darum, Gewalt und Unrecht passiv hinzunehmen. Beides zu überwinden, ist das Ziel.

Selig sind die Friedensstifter – nicht die Friedfertigen also, sondern die Friedensverfertiger. Das ist die entscheidende Botschaft der Bergpredigt.

Mit dem Frieden, um den es hier geht, ist gewiss mehr gemeint als die bloße Abwesenheit von Krieg – sonst wäre zum Seligpreisen kein Anlass. Und trotzdem gilt: Wer Frieden schaffen will, muss die Gewalt bändigen und überwinden.

Das tiefe Dilemma der Friedensstifter ist uns in den vergangenen zwölf Monaten neu vor Augen getreten. Wie antworte ich auf die Gewalt, mit Gewaltverzicht oder mit Gegengewalt? Wer der Gewalt mit Gewaltverzicht begegnet, läuft Gefahr, dass er die Gewalt, die er nicht stoppen kann, gewähren lässt. Wer aber der Gewalt mit Gegengewalt entgegentritt, läuft Gefahr, dass er den Teufelskreis des Todes weiter vorantreibt.

Einen leichten Ausweg aus diesem Dilemma gibt es nicht. Auf die eine wie auf die andere Weise kann man in die Zone der Schuld geführt werden. Aber in diesem Dilemma gibt die Bergpredigt die Richtung verantwortlichen Handelns vor. Diese Richtung ist durch den Vorrang gewaltfreien Handelns vor allen Mitteln der Gewalt bestimmt. Wer dieser Richtungsangabe treu bleiben will, muss Mittel suchen, die der Gewalt auf andere Weise entgegentreten als mit bloßer Gewalt. Wer das Böse nur mit Bösem vergelten will, verlängert die Herrschaft des Bösen. Und wer das Böse nur beim andern wahrnimmt und das Gute allein bei sich selbst, verstärkt das Böse, ob er das will oder nicht.

3.
Ein Jahr nach dem 11. September ist unserer Welt zu wünschen, dass es zu einer Achse des Friedens kommt. Denn auch der Frieden lässt sich in einer globalisierten Welt nur noch global sichern. Im globalen Dorf, hat Rowan Williams, der künftige Erzbischof von Canterbury, gesagt, kann das Feuer leicht und ohne Mühe von einem Dach aufs andere übergreifen. Alleingänge können darauf keine Antwort sein; eine Achse des Friedens ist nötig. Dass Gewalttäter vor ihren irdischen Richter kommen, ist dabei dringlich zu wünschen. Doch der gewaltsame Tod von Zivilisten ruft immer Ohnmacht und Leere hervor – bei dem Bauern, der in Afghanistan seine Angehörigen im Bombenhagel verlor, ebenso wie in New York.

Wer dem Recht zur Durchsetzung verhelfen will, muss die Herrschaft des Rechts auch für sich selbst gelten lassen. Die Regeln des Völkerrechts und die eigene Verfassungsordnung müssen sich gerade in dieser Hinsicht als Richtschnur für politische Entscheidungen  bewähren.

In den Kirchen gibt es breite Unterstützung für alle Versuche die Täter zu fassen und Wiederholungen unmöglich zu machen. Aber ebenso deutlich ist die Warnung vor weiteren militärischen Schritten, auch gegen den Iraq. Auch kirchliche Stimmen in den USA und in Großbritannien sprechen diese Warnung aus. Sicherer wird unsere Welt durch solche Schritte nicht. Auch die Sorge um die eigene Sicherheit wird auf jeder neuen Stufe des Konflikts wachsen. Von dieser Sorge befreit werden wir nur, wenn es gelingt, Vertrauen aufzubauen.

„Selig, die Frieden stiften“. Zu den tiefen Erschütterungen des 11. September gehört, dass für die tötende Gewalt dieses Tages die Autorität Gottes in Anspruch genommen wurde. Das ist nichts anderes als Gotteslästerung. Der darin liegenden Verführung zu einem Kampf der Religionen wollen wir nicht nachgeben. Der Neigung zur Gewalt wollen wir auch im eigenen Denken widerstehen. Heute erfahren wir wie vor einem Jahr: Trost im Leiden und Ausrichtung auf den Frieden gibt der Glaube an den Gott, der ein Liebhaber des Lebens ist. Mit ihm können wir neu beginnen, an jedem Tag neu. Amen.