„Räume der Begegnung – Religion und Kultur in evangelischer Perspektive“

Statement von Bischof Prof. Dr. Wolfgang Huber, Vorsitzender der ad-hoc-Kommission „Protestantismus und Kultur“ auf der Pressekonferenz in Berlin

Vorstellung der gemeinsamen Denkschrift von Evangelischer Kirche in Deutschland (EKD) und Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF)

„Weltkulturerbe Glaube, Liebe, Hoffnung“ – so heißt die, vielleicht überraschende, Perspektive, unter der in unserer Denkschrift der christliche Glaube in den Blick kommt. Die Kerngehalte des Christentums haben sich prägend auf die europäische Kultur wie auch auf die Kultur in anderen Kontinenten ausgewirkt. Und ebenso lässt sich der christliche Glaube nur in konkreter und damit kulturell bestimmter Gestalt leben. Er ist also schon immer ein Teil der Kultur. Aber er umschließt eine eigene und unverwechselbare Sicht auf alle kulturellen Deutungen der Welt und des Menschen selbst. Für die Kultur ist er gerade deshalb unverzichtbar, weil er in sich eine Kraft der Unterscheidung enthält.

Religion und Glaube gehören der Kultur an, unterscheiden sich aber zugleich von ihr. Der Glaube ist auf kulturelle Gestaltungsformen angewiesen, tritt ihnen aber auch kritisch gegenüber. Dieses spannungsvolle Verhältnis ist im vergangenen Jahrhundert von der evangelischen Kirche nur selten und auch nur am Rand ausdrücklich thematisiert worden. Mit der Denkschrift „Räume der Begegnung – Religion und Kultur in evangelischer Perspektive“ werden nun Grundlagen und Eckpunkte einer evangelischen Kulturhermeneutik beschrieben. Eine Rückkehr zum Kulturprotestantismus vergangener Zeiten ist damit nicht gemeint. Sondern beabsichtigt ist eine auf die Herausforderungen unserer Zeit bezogene, aber am bleibenden Auftrag der Kirche orientierte Bestimmung des Verhältnisses zwischen Glauben und Kultur.

An drei Merkmalen der gegenwärtigen Diskussionslage will ich die Richtung unserer Überlegungen beschreiben.

Erstens: Heute wird verstärkt über Kultur nachgedacht. Der Tendenz zu einer Ökonomisierung des Denkens tritt ein verstärkter Kulturdiskurs entgegen. Die Wendung zur Kultur (cultural turn) zeigt sich in vielen Gebieten des Wissens. Seinen tieferen Grund hat dieser Kulturdiskurs im Verlust bisheriger Selbstverständlichkeiten. Bisher vertraute Deutungen der Welt und des Menschen verstehen sich nicht mehr von selbst. Solche Deutungen müssen vielmehr neu gewonnen werden. Angesichts der Vielzahl von Sinnangeboten muss der Einzelnen wählen. Er muss sich im Eigenen neu beheimaten; dazu muss er aber die Erfahrungen der Fremdheit im Eigenen wie im Anderen verarbeiten. Darin liegt eine große Herausforderung dazu, die Erzähl-, Symbol- und Bildwelten des christlichen Glaubens in diesen Diskurs einzubringen, das Bekenntnis zu Gott als dem Schöpfer, dem Versöhner und dem Erlöser neu zur Sprache zu bringen und mit dem „Weltkulturerbe“ von Glaube, Liebe und Hoffnung selbstbewusst umzugehen.

Zweitens: Kultur gibt es immer nur im Plural. Kulturelle Festlegungen werden immer wieder überschritten; Wandelbarkeit und Offenheit gehören zur Kultur. Aber diese Pluralität wird uns heute in besonderer Weise bewusst. Auch das Reden von Gott hat am Wandel der kulturellen Ausdrucksformen teil. Die Vielfalt der Glaubensformen ist deshalb nicht nur eine Herausforderung, sondern vor allem eine Chance. Angesichts von kultureller Vielfalt sucht evangelisches Glaubensverständnis einen Weg, der weder durch Abschottung noch durch Beliebigkeit geprägt ist. Die Suche nach der Wahrheit in der Pluralität der Stimmen ist der evangelische Weg. Das prägt auch die Auseinandersetzung mit kulturellen Erscheinungen der Gegenwart. Unsere Denkschrift veranschaulicht das in Erörterungen über das Triviale wie über das Avancierte in der Kultur. Dieselbe Grundhaltung prägt auch den Blick auf das Zusammenleben in der multireligiösen Gesellschaft der Gegenwart. Beheimatung im Eigenen bei gleichzeitigem Respekt vor dem Anderen ist das Ziel. Statt eines Kampfes der Kulturen geht es aus evangelischer Perspektive, wenn man schon bei dieser Terminologie bleiben will, um einen Kampf um Kultur. Die Denkschrift tritt für eine Kultur der Differenzen und der Anerkennung ein. Wahrheitsbewusstsein und Toleranz schließen einander nicht aus, sondern gehören zusammen. Unser Text vertritt einen selbstbewussten Protestantismus; gerade deshalb wirbt er für kritische Dialogbereitschaft.

Drittens: Worin bestehen die Prioritäten kirchlichen Handelns in einer Zeit zunehmender kultureller Pluralität? Aus evangelischer Perspektive werden Folgerungen für eine Reihe von Handlungsfeldern gezogen. Nicht ein kulturelles Überlegenheitsbewusstsein, sondern die Bereitschaft zu kultureller Kommunikation ist dabei leitend. Gerade sie befähigt die Kirche dazu, ihrem Missionsauftrag in einer Situation kultureller Pluralität gerecht zu werden. Oft sind es kulturell geprägte Ereignisse, die Menschen, die der Kirche fern stehen, erste und oft intensive Begegnungen mit dem christlichen Glauben ermöglichen. Erforderlich ist in diesem Zusammenhang allerdings eine Verstärkung der kulturellen Kompetenz in der kirchlichen Mitarbeiterschaft. Zu wünschen ist ebenso eine verstärkte Bereitschaft der Gemeinden und kirchlichen Einrichtungen, Gastgeber und Auftraggeber für Kultur und Kunst zu sein. In dieser Hinsicht hat die evangelische Kirche von ihrer Tradition her eine besondere Nähe zur Musik. Aber auch im Blick auf die bildende Kunst eignen Kirchenräume sich schon immer in hervorgehobener Weise als „Räume der Begegnung“. Das zu verstärken, ist eine wichtige Zielsetzung unserer Denkschrift.

Die Veröffentlichung dieser Denkschrift ist aus unserer Sicht kein Abschluss, sondern ein Auftakt. Die Aufmerksamkeit für das Thema, die durch den Konsultationsprozess der letzten Jahre gewachsen ist, gilt es zu nutzen. Hier in Berlin beispielsweise wird gemeinsam mit der Evangelischen Akademie eine neue Veranstaltungsreihe zum Thema vorbereitet. Erste Planungen haben schon begonnen.

Aber auch über solche besonderen Veranstaltungen hinaus wird es darum gehen, die Grundaussagen dieser Denkschrift im Alltag unserer Kirchen und Gemeinden, in den Städten und Dörfern mit Leben zu erfüllen – damit unsere Kirchen Räume der Begegnung werden.  

Berlin/Hannover, den 2. September 2002
Pressestelle der EKD