Wenn aus Fremden Nachbarn werden

Eirene-Projekt „Starke Nachbar_innen“ baut Brücken für ein besseres Miteinander – Evangelischer Friedenspreis 2018

Iyad Asfour und Bilal Al Masri unter dem Schild der internationalen Geschäftsstelle von Eirene in Neuwied

Iyad Asfour und Bilal Al Masri vom Projekt „Starke Nachbar_innen“ vor der internationalen Geschäftsstelle von Eirene in Neuwied.

„Guten Tag, ich heiße Sperling.“ Iyad schmunzelt. Der Syrer heißt mit Nachnamen Asfour – arabisch für Sperling. Stellt der 47-Jährige sich Deutschen als „Herr Sperling“ vor, sind die Reaktionen oft erst überrascht, dann heiter. Humor schafft Brücken, das Fremde wirkt vertrauter, sagt Iyad Asfour: „Die Leute können sich so auch meinen Namen leichter merken.“ Seine Erfahrung: „Oft helfen Kleinigkeiten, damit sich Menschen besser verstehen – Sprache ist der Schlüssel.“

Iyad Asfour ist ein Glücksfall, sagen sie bei Eirene. Beim Internationalen Christlichen Friedensdienst in Neuwied arbeitet Asfour ehrenamtlich für das Projekt „Starke Nachbar_innen“. „Ohne Iyad wären wir mit unserem Team nicht an dem Punkt, wo wir heute stehen“, sagt Projektleiterin Sina Theiler. Ziel von „Starke Nachbar_innen“ ist es, ein friedliches Zusammenleben zwischen Geflüchteten und Einheimischen zu fördern. In Neuwied am Rhein und in Altenkirchen im Westerwald baut Eirene seit September 2017 Brücken zwischen Menschen verschiedener Kulturen. Es ist das erste Projekt des internationalen Friedensdienstes in Deutschland überhaupt.

Wie andere internationale Projekte arbeitet „Starke Nachbar_innen“ mit Methoden der zivilen Konfliktbearbeitung: Zunächst geht es darum, Konflikte zu verstehen, Wissen und Beziehungen aufzubauen, um dann im nächsten Schritt, in Konflikten vermitteln zu können. „Perspektivisch bauen wir Strukturen auf, die ein friedliches Zusammenleben fördern“, erklärt Theiler. Die Gruppe möchte Geflüchtete und Ehrenamtliche als Multiplikatoren gewinnen, die dann im Konfliktfall andere darin bestärken, gewaltfreie Lösungen zu finden.

„Von Geflüchteten für Geflüchtete und Einheimische“

Damit unterscheidet sich das Eirene-Friedensprojekt grundlegend von den gängigen Angeboten der Flüchtlingshilfe. Es geht nicht um praktische Hilfe im Alltag – etwa ums Helfen beim Ausfüllen des Asylantrags oder darum, ein Fahrrad zu organisieren. „Wir sind kein Projekt für Geflüchtete“, betont Theiler: „Sondern ein Projekt von Geflüchteten für Geflüchtete und Einheimische.“

Das spiegelt auch das Eirene-Team wider. Sie alle haben selbst Erfahrungen mit Flucht und Migration gemacht. Teamchefin Theiler kommt ursprünglich aus der Schweiz und lebte berufsbedingt für ein Jahr in Kolumbien. Ihre Mitarbeiter Bilal Al Masri und Olyana Zenaldin flüchteten vor dem Bürgerkrieg nach Deutschland. Al Masri ist von Beruf Lehrer, Zenaldin Rechtsanwältin. Die beiden machen bei Eirene einen Bundesfreiwilligendienst (BFD).

Um mit Geflüchteten ins Gespräch über Konflikte zu kommen, ist das Herstellen einer Vertrauensbasis wichtig. „Da hilft es, wenn Bilal, Olyana oder Iyad von ihren eigenen Erlebnissen erzählen und viele Probleme aus eigenem Erleben kennen“, sagt Theiler. „Uns geht es darum, Brücken zu schlagen, um ein friedliches Zusammenleben zwischen unterschiedlichen Nachbarschaften zu stärken.“ Als Brückenbauer ist Iyad Asfour eine große Stütze für das Team. „Iyad ist sehr engagiert, kennt in Neuwied viele geflüchtete Menschen“, sagt Sina Theiler. Mit seinen Erfahrungen und seinem engagierten Auftreten, ist er für andere Geflüchtete ein überzeugendes Vorbild.

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Iyad Asfour ist ein Kumpeltyp. 1,85 Meter groß, zur blauen Jeans trägt er weiße Sportschuhe und ein kariertes Freizeithemd. Mit seinen lichten dunklen Haaren und dem freundlich-verbindlichen Blick strahlt Asfour väterliche Autorität aus. Die jungen Männer aus Syrien und Afghanistan hören ihm zu, wenn er in den Eirene-Workshops über seine Erfahrungen in Deutschland spricht. Asfour kennt ihre Schwierigkeiten. Den Frust über die unsichere Bleibe-Perspektive. All diese Fettnäpfchen und Probleme, die im Alltag lauern – ob es das Mülltrennen ist oder das Erleben von Rassismus.

Asfours Geschichte steht stellvertretend für das Schicksal vieler Menschen, die vor Krieg und Not Zuflucht in Neuwied, Altenkirchen oder sonst wo in Deutschland gefunden haben. „In Damaskus hatten wir ein glückliches Leben“, erzählt Asfour. Mit Frau und Sohn lebte er in einem Dorf nahe der Hauptstadt, nebenbei betrieb er eine kleine Landwirtschaft, züchtete Rosen. Bei Nestlé arbeitete Asfour als Sicherheitsexperte für Arbeitsschutz. 2013 wurde die Niederlassung im Bürgerkrieg zerstört. Kein Einkommen, die Versorgungslage in Syrien wurde schlechter, die Kämpfe rückten immer näher an die Familie heran. Im August 2015 flohen die Asfours in die Türkei.

Todesangst im Schlauchbot – „aber wir hatten Glück“

Sie litten Todesangst, als sie mit ihrem damals elfjährigen Jungen in einem der Schlauchboote saßen, das sie über das Mittelmeer nach Griechenland brachte. Dort schloss sich die Familie einer Gruppe an, die zu Fuß über Mazedonien, Serbien, Ungarn nach Österreich wanderte. Weiter ging es im Zug über München zur Erstaufnahmestelle nach Trier: Keine Privatsphäre, das Wenige was sie hatten, war vor Diebstahl nicht sicher. „Aber wir hatten Glück“, sagt Asfour.

Nach 40 Tagen konnte die Familie zunächst bei einem älteren Ehepaar nahe Koblenz wohnen und im Oktober 2017 nach Neuwied ziehen. Iyad Asfour zeigt ein Foto, das ihm ein Angehöriger kurz nach seiner Ankunft in Deutschland mailte. Es ist ein Bild vom Wohnzimmer: Wo das Fenster war, klafft ein Loch in der Wand. Wo Tisch und Sessel standen, liegen Trümmerteile. „Seid froh, dass Ihr in Deutschland in Sicherheit seid“, stand in der Mail.

In den Eirene-Workshops wird Asfour oft gefragt, warum er in so kurzer Zeit schon so gut Deutsch spricht. Wann immer er kann, motiviert er andere Geflüchtete, die Sprache zu lernen. „Deutsch ist sehr schwer“, weiß Asfour. Er schildert wie er bei einer Prüfung durchfiel, trotz allem nicht aufgab und sie im nächsten Anlauf schaffte. „In Sprachkursen lernst du Grammatik, das Reden im Kontakt mit Deutschen“, ist Asfour überzeugt. Geflüchteten gibt er alltagstaugliche Tipps, wie sie mit Einheimischen in Kontakt kommen können.

Zum Beispiel das „Café Asyl“ im Pfarrhaus Heilig Kreuz, wo man bei einer Tasse Tee oder Kaffee leicht ins Gespräch kommt. Asfour berichtet, wie er sich in zwei evangelischen Altenheimen engagiert: Er besucht Senioren, macht mit ihnen Spaziergänge und erzählt von Syrien. Von den Senioren lernt er im Gegenzug viel über Deutschland und verbessert ganz nebenbei sein Deutsch. Asfour ist sunnitischer Muslim, das Engagement in christlichen Einrichtungen ist für ihn kein Problem: „Unsere Religionen verbindet mehr als uns trennt.“

Asfours Credo: „Reden hilft“

In den Eirene-Workshops veranschaulicht Asfour, wie er Probleme im Alltag bewältigt. Da gab es zum Beispiel die Jungs aus der Nachbarschaft, die keine Lust hatten mit seinem Sohn zu kicken. Anstatt sich zurückzuziehen, suchte der Vater aktiv den Dialog mit Kindern und Eltern. Danach durfte sein Sohn mit den anderen Fußballspielen. Sein Credo: „Reden hilft und macht vieles leichter.“ Mit seinen Erfahrungen will Asfour andere Geflüchteten unterstützen, sich besser zu integrieren. „Du erreichst Menschen, wenn du von deinen Erlebnissen und Fehlern berichtest und erzählst, was du daraus gelernt hast“, sagt er. „Das ist viel überzeugender als ihnen von oben herab zu sagen, was sie zu tun oder zu lassen haben.“

Das Neuwieder Camp für Geflüchtete ist einer der Orte, die Sina Theiler meint, wenn sie von „Nachbarschaften“ spricht. Es sind Treffpunkte, wo Menschen einander begegnen, wo Geflüchtete und Einheimische miteinander ins Gespräch kommen können – und nicht zuletzt das Eirene-Team kennenlernen. Über Konflikte wird nicht gerne gesprochen, weiß Theiler aus Erfahrung. „Wir müssen erst Vertrauen aufbauen, damit die Leute sich öffnen und dann auch über Probleme des Zusammenlebens sprechen können.“

Weitere Nachbarschaften in Neuwied sind etwa das „Café Asyl“, wo das Team von „Starke Nachbar_innen“ im Sommer vor 50 Gästen „Erfolgsgeschichten“ von Geflüchteten erzählte. Schon doppelt so viele Leute kamen Ende September in die Volkshochschule, als Eirene gemeinsam mit Amnesty International eine Rassismus-kritische Lesung mit Tupoka Ogette veranstaltete.

Schritt für Schritt erschließt sich das Team neue Nachbarschaften

Derzeit laufen Gespräche über eine Zusammenarbeit mit dem Jugendzentrum „Big House“. Schritt für Schritt erschließt sich das Team um Sina Theiler neue Nachbarschaften. In Neuwied, aber auch im Westerwald wo Eirene mit der Diakonie Altenkirchen, der Caritas und der katholischen Kirche zusammenarbeitet und einen Stammtisch mit Ehrenamtlichen der Tafelläden in der Region moderiert.

Es ist ein sonniger Freitagnachmittag. Das Team von „Starke Nachbar_innen“ ist in einem Opel Astra zwei Stunden von Neuwied durch den Westerwald gefahren, um im Evangelischen Gemeindehaus von Daaden „Erfolgsgeschichten“ zu erzählen. Der „Große Saal“ ist herbstlich geschmückt. Rote Servietten mit kleinen Kürbissen und Tannenzäpfchen zieren die Tischgruppen, um die sich rund 20 Personen versammelt haben: einheimische Senioren sowie Familien mit Kindern und eine Hand voll junger Männer mit Migrationserfahrung. Sie lauschen gebannt den Geschichten von Olyanda Zenaldin.

Wie die des syrischen Apothekers, der sich durch Deutsch-Sprachkurse quälte und darunter litt, seinen Beruf nicht ausüben zu können. Und über seine Freude, dass er über ein Praktikum, zunächst in Teilzeit und mittlerweile sogar Vollzeit, in seinem Ausbildungsberuf arbeiten kann. Seine Geduld und Hartnäckigkeit zahlten sich aus. Oder die Geschichte von der 28-jährigen Syrerin und ihrem Traum vom Ingenieur-Studium. Nach vielen Rückschlägen ergatterte sie an der Uni Koblenz einen Studienplatz für Informationstechnik.

„Es gibt so viel Gutes zu berichten“

„Es gibt so viel Gutes zu berichten“, sagt Olyana Zenaldin später. „Leider sind solche Berichte für die großen Schlagzeilen nicht spektakulär genug.“ Für Geflüchtete und Einheimische sind diese „Erfolgsgeschichten“ jedoch enorm wichtig: Sie machen Mut und zeigen, dass  Integration sehr wohl gelingen kann. Nicht zuletzt sind solche Biografien ein Signal an Unternehmen und Ausbildungsbetriebe: Unter Geflüchteten können sie kompetente und motivierte Mitarbeitende finden.

Im ersten Jahr hat das Projekt schon viel erreicht. Mitte November startet der erste Weiterbildungskurs als Konfliktvermittler/in. Zehn Geflüchtete und zwei deutsche Ehrenamtliche werden an dem kostenlosen Lehrgang teilnehmen, die das Team mit der engagierten Unterstützung von Iyad Asfour in den verschiedenen Nachbarschaften gewonnen hat. Der Kurs vermittelt Methoden der zivilen Konfliktbearbeitung. Wer alle Kurse besucht, erhält im Juni 2019 ein Zertifikat und kann fortan bei Konflikten moderieren. 

Im Herbst 2019 soll ein weiterer Kurs starten. Sina Theiler und ihr Team arbeiten daran, neue Nachbarschaften zu erschließen. Und weitere Geflüchtete und Einheimische dafür zu gewinnen, sich für ein friedliches Miteinander einzusetzen. Ende 2019 läuft das Projekt aus. Was dann kommt ist offen. „Das hängt auch stark davon ab, wie sich die Multiplikatioren später engagieren wollen“, sagt Theiler. Sie ist sicher: Mit den „Starken Nachbar_innen“ wird es weitergehen – egal wie. Es ist ein offener Prozess, der Zeit braucht. Aber eine Wirkung entfaltet, wie der Stein in dem Kirchenlied, der ins Wasser fällt und immer weitere Kreise zieht.

Timon Müller (für evangelisch.de)