Die Bibel neu gelesen: Der Hirsch lechzt nicht mehr

Interview zur Revision der Lutherbibel

Mit seiner Bibelübersetzung hat Martin Luther Geschichte geschrieben. Ein bloßes Museumsstück wäre dieses Werk jedoch, hätte man den Wortlaut nicht immer wieder aktualisiert. Zum Reformationsjubiläum 2017 hat der Rat der EKD eine weitere Durchsicht der Lutherbibel beaufragt. Christoph Kähler leitet die wissenschaftlichen Arbeiten und verrät im Interview, was sich ändert.

Ein Hirsch von der Seite
In der neuen Lutherbibel lechzt der Hirsch nicht mehr nach Wasser, er schreit danach.

Herr Kähler, warum überprüfen Sie und viele Wissenschaftler zurzeit den Wortlaut der aktuellen Lutherbibel?

Christoph Kähler: Er muss schon deshalb immer wieder überprüft werden, um den neuesten Stand der Wissenschaft zu berücksichtigen. Das hat bereits Martin Luther gemeinsam mit seinen Wittenberger Mitarbeitern seit 1522 bis zu seinem Tod 1545 so gehalten. Es ging ihm dabei auch um die treffendere deutsche Wendung. Seit der letzten umfangreichen Neuausgabe von 1984 sind in der Bibelwissenschaft viele Erkenntnisse dazugekommen. Wir überprüfen diese Bibelübersetzung natürlich auf der Basis der griechischen und hebräischen Texte und tun dies besonders gründlich bei apokryphen Schriften wie den Büchern Judith, Jesus Sirach und Weisheit Salomos. Dort war die Textgrundlage der Lutherbibel schon immer unvollständig oder unsicher.

Welche Leserinnen, welche Leser haben Sie vor Augen, die Bibelgewohnten, die Einsteiger?

Kähler: Menschen, die sich ernsthaft mit der Bibel beschäftigen wollen oder sich schon ernsthaft mit ihr beschäftigt haben. Für Einsteiger empfehle ich eher die „Basisbibel“, die jetzt gerade für die Schriften des Alten Testaments vervollständigt wird, und die „Gute Nachricht“. Aber wer dort angefangen hat zu lesen, greift nach meiner Erfahrung später gern zu einer anderen, anspruchsvolleren Ausgabe. Wer länger in der Bibel liest, weiß, dass eine Übersetzung allein nicht reicht, und kommt früher oder später gewiss auch zur Übersetzung Martin Luthers. Sie hat die deutsche Kultur in erheblichem Maße geprägt und ist aus dem evangelischen Gottesdienst nicht wegzudenken. Stellen Sie sich einmal die Christvesper ohne Weihnachtsgeschichte nach Lukas vor! Wir verdanken dieser Bibel viele Sprichwörter und Redewendungen. Ganz unverzichtbar ist sie für die Suche nach Tauf- und Konfirmationssprüchen, Trausprüchen und für das, was am Grab gesagt und gebetet wird. Sie hat eine besondere theologische und poetische Tiefe, auch wenn sie nicht immer zum raschen Lesen geeignet scheint.

Stichwort Poesie: Wäre es nicht besser, wenn Sie sich weitgehend an die ursprüngliche Lutherübersetzung hielten?

Kähler: Nein und ja. Wenn wir bei der Lutherübersetzung von 1545 blieben, wäre sie ein Museumsstück für die Wissenschaft, kein Gebrauchsgegenstand für Gemeindeglieder. Allerdings gehen wir mit der jetzigen Überarbeitung in vielen Fällen zurück zu Luthers Text. In Psalm 42, Vers 2 zum Beispiel heißt es bislang: „Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir.“ Wir werden in Zukunft wieder Luthers Formulierung einsetzen: „Wie der Hirsch schreit nach Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir.“ Es steht im Hebräischen zwei Mal dasselbe Verb, das wir nicht unterschiedlich übersetzen sollten. Das Wort „schreien“ beschreibt sehr gut das elementare Verlangen der Menschen nach Gottes Zuwendung. Das „lechzen“ hingegen ist eine ungewöhnliche und etwas ästhetisierende Vokabel.

„Wenn wir bei der Lutherübersetzung von 1545 blieben, wäre sie ein Museumsstück.“

Christoph Kähler
Prof. Christoph Kähler Altbischof und Theologe

Gleichwohl wird das Wort „lechzen“ vermisst werden.

Kähler: Menschen, die mit diesem Wortlaut des Bibelverses vertraut sind, werden vielleicht irritiert sein. Wir versuchen, möglichst wenig zu verändern, merken jedoch, dass es in früheren Revisionen der Lutherbibel erhebliche Veränderungen am alten Luthertext gab, die nicht immer gerechtfertigt sind. Außerdem haben wir neue Erkenntnisse. Der Unterschied etwa zwischen den beiden Frauen Jakobs, Leah und Rahel, wurde bisher so beschrieben: Leah war hässlich und Rahel war schön, deshalb liebte Jakob Rahel besonders. Die Fachgelehrten sagen heute: Es geht nicht um hässlich oder schön. Man kann nicht mehr schreiben: Leahs Augen waren matt, oder – wie Luther drastischer formulierte: Leah hatte ein blödes Gesicht. Wir übersetzen heute: Leahs Augen waren sanft.

Was sind weitere bemerkenswerte neue Formulierungen?

Kähler: Zum Beispiel diese: In der Offenbarung des Johannes (2,9 und 3,9) ist von der „Synagoge des Satans“ die Rede. Diese Formulierung wurde erst 1956 eingeführt. Der Seher Johannes spricht an dieser Stelle von Menschen, die sich zwar Juden nennen, aber keine sind. Wir wollen in der Neufassung der Lutherbibel das antijüdische, vielleicht sogar antisemitische Missverständnis vermeiden, zu dem die Wendung verleiten kann. Darum wählen wir eine andere Übersetzung: „Versammlung des Satans“. Luther selbst sprach noch von der „Schule des Satans“, das trifft es aber im Deutschen nicht mehr so gut.

Wie viel Aufwand treiben Sie und die anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei der Durchsicht der Lutherbibel?

Kähler: Der Aufwand ist sehr hoch. Fünfzig Kolleginnen und Kollegen beteiligen sich ehrenamtlich. Zunächst gehen die Fachleute einzeln an eine Schriftengruppe heran und schauen, wo der Text nach ihrer Auffassung verändert werden sollte. Ihre Einschätzung und ihre Vorschläge werden von einer Fachgruppe gebilligt, verändert oder verworfen. Danach berät der Lenkungsausschuss alle Veränderungsvorschläge und entscheidet darüber. Er soll dafür sorgen, dass in allen biblischen Schriften eine Linie erkennbar bleibt, die möglichst viel von Luthers Sprache und Theologie erhält. Anschließend haben die Fachfrau oder der Fachmann, die für die einzelne Schrift verantwortlich waren, Gelegenheit zu einer kritischen Stellungnahme. Aufgrund dieser Kritik prüft der Lenkungsausschuss, ob und wie er seine Beschlüsse ändern muss.

Hat auch der Rat der EKD einen Einfluss auf das Ergebnis?

Kähler: Mit ganz wichtigen Fragen, die auch eine gewisse politische Bedeutung haben, wenden wir uns an den Rat der EKD, der ja den Auftrag zur Durchsicht der Bibel erteilt hat. Da geht es zum Beispiel um die Frage: Was machen wir, wenn in den Briefen des Neuen Testaments eine ganze Gemeinde mit den Worten „liebe Brüder“ angesprochen wird? Früher hörte man in dieser Formulierung die Schwestern mit. Aber so ist das heute nicht mehr. Wir formulieren deshalb „Liebe Brüder und Schwestern“, auch wenn die Schwestern im griechischen Original nicht erwähnt sind. – Der Aufwand, die Bibel Vers für Vers durchzugehen, ist insgesamt sehr hoch, weil sie aus lauter einzelnen Büchern besteht und einen Umfang von 1337 Kapiteln hat. Ich kenne keinen Bibelübersetzer, der eine solche Aufgabe für einfach und endgültig lösbar hielte.

Haben Sie auch Worte wiederentdeckt, die zwischenzeitlich verschwunden waren?

Kähler: Oh ja. Wir werden zum Beispiel dort, wo Männer zu Huren gehen, wie in Offenbarung 21,8, wieder von Hurern reden. Das ist sicherlich kein modernes Deutsch. Aber das Wort ist einleuchtend, jedem wird sofort klar, wer damit gemeint ist.

Es gab in den 70er Jahren eine übertrieben moderne Übersetzung, die dann wieder zurückgezogen wurde. Was haben Sie daraus gelernt?

Kähler: Die Verantwortlichen sind in der Revision von 1975 sehr strikt mit Luthers Bibeltext verfahren und haben ihn erheblich verändert. Luther hatte eine kostbare poetische Sprache geformt, auf die er zu Recht stolz war. Er achtete etwa sehr auf den sinngemäßen Satzbau und auf parallele Formulierungen. Man hat in den 70ern versucht, ein modernes Standarddeutsch mit Regeln durchzusetzen, die angeblich in der deutschen Sprache herrschen. Zum Beispiel: Es gebe nur eine feste Satzform im Deutschen, in der am Ende des Satzes stets das Verb steht. Das war und ist falsch. Wir müssen heute bestimmte Satzstellungen, die Luther um der Wirkung willen gewählt hat, wiederherstellen, um den Ton, den geistlichen Inhalt, besser hörbar zu machen.

Ist die stärkere Betonung von Luthers Sprache ein Problem für die Ökumene?

Kähler: Eher nicht. Auch die geplante Revision der katholischen Einheitsübersetzung wird nicht mehr so glatt und leicht lesbar sein wie die früheren Ausgaben. Es gibt auch hier eine Wiederentdeckung und Hochschätzung der genaueren und damit umständlicheren Übersetzung. Ähnlich steht es mit der dritten kirchenamtlichen Übersetzung, der reformierten Zürcher Bibel von 2007, die ebenfalls den Urtext deutlicher als bisher nachbildet. Wir muten den Bibellesern also kon-fessionsüberschreitend mehr sperrige Worte und Formulierungen zu. Aber es ist immer gut, mehrere Bibelübersetzungen nebeneinander zu legen; das hilft, den Reichtum der hebräischen und griechischen Texte zu entdecken.

Wann erscheint die neue Lutherbibel?

Kähler: Im Oktober 2016, rechtzeitig zum Reformationsjubiläum 2017. Die neue Lutherbibel soll ein kostbarer Besitz aus diesem Jahr werden, der lange von Nutzen sein kann und zugleich eine bleibende Erinnerung.

Das Interview führte Eduard Kopp (chrismon)