Seidenpapier über dem Altar

Chemnitz ist 2025 Europas Kulturhauptstadt. Schon jetzt gibt es dazu etliche Kunstaktionen in der Region. Eine davon haben die Kirchen in der diesjährigen Fastenzeit gestartet.

Seidenpapiervorhang vor dem Altar

Das Fastentuch mit dem Titel "Ecce Homo - Siehe, der Mensch!" des Künstlers Michael Morgner hängt im Dom St. Marien in Freiberg, Sachsen (Foto vom 31.03.2023). Chemnitz wird 2025 Europas Kulturhauptstadt sein. Schon jetzt gibt es etliche Kunstaktionen. Eine davon haben die Kirchen in der diesjährigen Fastenzeit gestartet. Dutzende Rechtecke aus hauchdünnem Seidenpapier hat Michael Morgner zusammengeklebt. Mit Druckplatten brachte der renommierte Chemnitzer Künstler erdige Farben auf - helle und dunkle Toene - von Ocker bis Braun. Entstanden ist ein etwa fünf mal neun Meter großes Werk, ein sogenanntes Fastentuch. 

Freiberg/Chemnitz (epd). Dutzende Rechtecke aus hauchdünnem Seidenpapier hat Michael Morgner zusammengeklebt. Mit Druckplatten brachte der renommierte Chemnitzer Künstler erdige Farben auf - helle und dunkle Töne - von Ocker bis Braun. Entstanden ist ein etwa fünf mal neun Meter großes Werk, ein sogenanntes Fastentuch.

Derzeit hängt das schimmernde Riesenpapier im Freiberger Dom über dem Altar, knapp 40 Kilometer von Chemnitz entfernt. Wenn der Wind durch die spätgotische Hallenkirche weht, knistert es leise. Fastentücher gehen vermutlich auf den Vorhang des jüdischen Tempels in Jerusalem zurück. In der Passionszeit verhüllen sie traditionell in Kirchen den Altarraum und verbergen bildliche Darstellungen von Jesus Christus.

Während der 40 Tage von Aschermittwoch bis zum frühen Ostersonntag soll damit auch im Visuellen gefastet werden. Der Brauch der Altarverhüllung während der christlichen Fastenzeit ist schon seit mehr als 1.000 Jahren bekannt. Im Mittelalter hatte er seine Blütezeit. Mancherorts wird er noch heute gepflegt.

Morgners seidiges Werk ist Teil des Kunstprojektes „Passion“ im Rahmen des sogenannten „Purple Path“, ein Skulpturen- und Kunstweg der europäischen Kulturhauptstadt Chemnitz 2025. Zum Start in diesem Jahr gibt es außer in Freiberg auch in Chemnitz eine Altarverhüllung. Die Berliner Künstlerin Sabine Herrmann schuf dazu für die katholische Propsteikirche St. Johannes Nepomuk ein Fastentuch mit dem Titel „Zeuginnen ohne Text“.

2024 und 2025 soll es weitere Aktionen in der Passions- und Fastenzeit geben. Derzeit würden Kirchen in Chemnitz und im Umland ausgesucht, sagt Kulturhauptstadt-Pfarrer Holger Bartsch. Im nächsten Jahr sollen es maximal fünf Orte werden. Insgesamt seien etwa zwölf Fastentücher geplant - gestaltet mit den Mitteln der Malerei, Zeichnung, Fotografie oder als Installation.

„Wir wollen regionale, aber auch überregional bekannte Künstler ansprechen“, sagt Bartsch. Mit der Altarverhüllung werde ein sensibler und zugleich zentraler Raum eines Kirchengebäudes gewürdigt. Die Kunstwerke lenkten auf besondere Weise die Aufmerksamkeit auf diese Mitte. Es gebe keine Vorgaben für die Gestaltung der Werke, sagt Bartsch. Der religiöse Begriff „Passion“ schließe auch die künstlerische Leidenschaft mit ein.

Morgner hatte sein Fastentuch schon vor einigen Jahren fertiggestellt. Damals habe er noch nicht einmal gewusst, ob und wo es hängen wird, sagt der heute 80-jährige Künstler. Er habe „so ein Werk einfach mal machen“ wollen. Danach habe es bei ihm auf dem Schrank gelegen. Umso mehr freue er sich, dass es jetzt im Freiberger Dom öffentlich zu sehen ist - über dem Altar von 1560 und neben der berühmten Tulpenkanzel aus dem frühen 16. Jahrhundert. An so einem prominenten Ort ausstellen zu dürfen, sei eine große Ehre.

Über die Präsentation mit dem Titel „Ecce Homo - Siehe, der Mensch!“ freut sich Morgner. Auch Besucherinnen und Besuchern gefällt es offenbar. Sie hätten ihm schon viele positive Rückmeldungen gegeben, erzählt der Chemnitzer. Das sei keinesfalls selbstverständlich für einen Künstler.

Für das Fastentuch habe er das dünnste Seidenpapier verwendet, das es gebe. Das gesamte Werk wiegt nur etwa ein Kilogramm. Die Knitterfalten der Seidenblätter sollen Narben des Lebens symbolisieren. Der Farbverlauf führt vom Dunkel unten ins Helle nach oben - ein Synonym für die Auferstehung Jesu und die Weite des Himmels.

„In dieser einfachen Arbeit stecken alle Erfindungen meines Lebens“, sagt Morgner. Bekannt ist er für Darstellungen von gebeugten und geschundenen, aber auch von aufrechten und stolzen Menschen. Seine Figuren stehen für Leidensfähigkeit und Widerstand, für die Kraft des Menschen. Dafür hat der 1942 in Chemnitz geborene Künstler markante und abstrahierte Formen gefunden, die in vielen seiner Werke auftauchen. Zu seinem Markenzeichen ist das Motiv des „Schreitenden“ geworden, das er über Jahre weiterentwickelte.

Noch bis zum frühen Ostermorgen verhüllt Morgners Fastentuch den Altar im Freiberger Dom. In der Osternachtfeier soll es abgenommen werden.

Von Katharina Rögner (epd)