Bericht des Mitgliedes des Betroffenenrates beim UBSKM

Kerstin Claus auf der 6. Tagung der 12. Synode der EKD

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Sehr geehrte Damen und Herren!

Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass ich heute hier vor Ihnen stehe. Ich möchte Ihnen ganz ausdrücklich dafür danken, dass Sie mich hierher eingeladen haben, und auch nicht verhehlen, dass es trotz allem Miteinander, das wir schon in den letzten Monaten immer versucht und auch gelebt haben, kein leichter Schritt ist, hier zu sein. Aber Ihre Einladung zeugt von Mut und auch Offenheit. Das ist gut für den wichtigen Weg, den wir immer öfter auch gemeinsam gehen sollten.

Zuvorderst aber stehe ich hier, weil so viele Betroffene in den letzten Jahren und Jahrzehnten gekämpft haben. Sie haben darum gekämpft, endlich gehört zu werden. So oft wurde das Schweigen gebrochen – so selten wurde zugehört.

Erst der kontinuierliche Druck ab 2010 hat es ermöglicht, dass wir zwar immer noch viel zu selten miteinander sprechen – Betroffene und Kirche –, aber doch immer öfter Betroffenen auch zugehört wird, die sexualisierte Gewalt in dieser Kirche erlebt haben. Nun stehe ich hier stellvertretend für die vielen Betroffenen, die mit ihren individuellen Anliegen, mit ihrer Kritik, ihrer Wut und auch ihrem Schweigen heute nicht sichtbar sind, um Ihnen zu vermitteln, welch unglaubliche Kraft es braucht, sich den Verfahren auszusetzen und damit dieser Vergangenheit Raum zu geben, obwohl jeder Instinkt sagt: „Alles, bloß das nicht!“, um zu zeigen, was es heißt, wenn im Verfahren immer wieder der eigenen Kontrollverlust für Betroffene neu erlebt wird, weil das Machtungleichgewicht dazu führt, dass sich Betroffene immer wieder neu ausgeliefert fühlen, und auch, um Ihnen die Notwendigkeit von Aufarbeitung zu vermitteln, weil es ohne Aufarbeitung das Durchbrechen von Täterstrategien – genau darum geht es hier und muss es gehen! – nicht gelingen kann. Ich habe das Beispiel der Aufarbeitung für diese Rede an dieser Stelle gewählt, weil sie exemplarisch sehr gut zeigen kann, was es bedeutet, wenn Betroffene und Kirche tatsächlich gemeinsam agieren können wollen.

Jemand, der Aufarbeitungsprozesse extern begleitet, hat vor Kurzem gesagt: Meine Maxime ist, dass Institutionen und Betroffene am Ende jeweils für sich feststellen können, dass es jetzt gut ist. – Ich habe dieses „dass es jetzt gut ist“ so verstanden, dass es jetzt so bleiben kann, dass ein Loslassen möglich wird.

Umgekehrt fragen Sie sich vielleicht, warum es denn noch immer „nicht gut ist“. Sie haben letztes Jahr diese eindrückliche, intensive und so wahre Rede von Bischöfin Fehrs nicht nur gehört: Sie haben sie ernst genommen. Ihre Synode hat gehandelt. Sie haben den Elf-Punkte-Plan verabschiedet. Sie haben gerade den Bericht Ihres Beauftragtenrates zu dem gehört, was in den letzten Monaten getan wurde.

Immer wieder habe ich allen voran Bischöfin Fehrs als unermüdliche Kämpferin erlebt, der es tatsächlich eine Herzensangelegenheit ist, ihre Kirche in diesem Thema besser, kompetenter und professioneller aufzustellen. Sie haben hier eine hervorragende Kämpferin. Stärken Sie sie!

Dennoch stehe ich hier und bin eine von denen, die auch öffentlich immer wieder sagt: Nein, es ist nicht gut, weil es diese Kirche ist, die mich ebenso wie viele andere immer wieder neu belastet, weil sie nicht handelt, nicht angemessen Taten und täterschützende Strukturen aufdeckt und bis heute kaum gemeinsame Prozesse mit uns Betroffenen gestaltet, weil so oft noch immer die Kirche bestimmt, um was es gerade geht und gehen soll, weil sie einseitig festlegt, wann „es gut ist“, erneut die Deutungshoheit übernimmt und eben nicht fragt, was es braucht, damit es auch für uns Betroffene „gut sein“ kann.

Institutionelle Aufarbeitung kann nur im klaren Miteinander errungen werden. Da muss gestritten werden, da müssen Lösungen gefunden, verworfen und neu gefunden werden. Da müssen Betroffene immer wieder so gestellt werden, dass sie einen solchen Prozess auch individuell schaffen, aushalten und leisten können. Aufarbeitung braucht gemeinsam gestaltete Strukturen, die sicherstellen, dass Betroffene über jeden einzelnen Schritt dieses gemeinsamen Weges mit entscheiden können, damit es dann tatsächlich „gut werden“ kann.

Neben diesem grundlegenden kooperativen Ansatz, ohne den es nicht geht, möchte ich drei weitere Elemente für Aufarbeitung nennen, die aus Betroffenensicht wesentlicher Teil von jedem Aufarbeitungsprozess und damit eben auch wesentlich für den Umgang mit Betroffenen in diesem Prozess sein müssen:

Erstens. Institutionelle Aufarbeitung muss Taten und deren Ermöglichungsstrukturen offenlegen. Taten und ihre Kontexte müssen aufgedeckt und auch öffentlich benannt werden, egal, ob sie in einer evangelischen Einrichtung oder in einer Gemeinde geschehen sind. Wer wusste damals Bescheid? Wer hätte hinhören oder hinschauen müssen? Wer hätte hinschauen können? Welche Strukturen haben den Missbrauch damals begünstigt? Aber auch: Wer übernimmt heute Verantwortung, und zwar in genau dieser Einrichtung, in genau dieser Gemeinde?

Was muss heute also dort ausgesprochen werden können, wo Kinder und Jugendliche sexualisiert Gewalt erlebt und erlitten haben?

Und schlussendlich braucht es eine Erinnerungskultur, die die Auseinandersetzung mit den Taten heute und auch in Zukunft ermöglicht und damit eine Voraussetzung dafür schafft, damit künftig ganz konkret auch an diesen jeweiligen Orten Kinder besser geschützt werden. Denn über den Aufarbeitungsprozess wurde auch gelernt, dass es professionelle Strukturen braucht, damit alle besser hinsehen und besser hinhören können, damit es nicht wieder passiert. Institutionelle Aufarbeitung muss also Taten und ihre Ermöglichungsstrukturen offenlegen.

Zweitens. Die Bedürfnisse Betroffener müssen im Mittelpunkt von Aufarbeitung stehen. Immer dort, wo Betroffene Taten und Täter anzeigen, entsteht zunächst so etwas wie eine krisenhafte Verstrickung. Reflexhaft wird seitens der Kirche der Fokus dann auf Taten und Täter gerichtet. Der Kirche geht es um Beweise, damit sie sich in den engen Grenzen ihrer Disziplinargesetze verhalten kann. Da passiert es dann, dass Betroffene immer wieder auf den Zeugenstatus reduziert werden, dass ein Apparat die Regie übernimmt, in dem ich als Betroffene, meine Bedürfnisse, meine Gründe, warum ich dieses Risiko des Sprechens eingegangen bin, weit in den Hintergrund gedrängt werden. Damit geht es plötzlich nicht mehr um mich, um meine Bedürfnisse, sondern darum, wie ich nützlich der Kirche für ihre Verfahren bin.

Wird also dieser Umgang mit Betroffenen, werden diese vom Disziplinarrecht geprägten Strukturen den Betroffenen gerecht, und wer kann das beurteilen? Nicht sie, die Kirche, kann feststellen: Jetzt ist es gut. – Nein, ich muss es spüren. Ich muss es in meinem Alltag spüren, dass es vielleicht nicht gut, aber besser geworden ist, dass die Last Schritt für Schritt weniger erdrückend geworden ist oder mich nicht wenigstens wie aus dem Nichts immer wieder überfällt.

Es sind einzig die Betroffenen, die für den Bereich ihrer individuellen Aufarbeitung feststellen können, wann es gut ist. Deswegen brauchen Betroffene neben diesen Disziplinarverfahren Raum für ihre individuelle Aufarbeitung. Und individuelle Aufarbeitung – und das möchte ich an dieser Stelle auch in klarer Abgrenzung zu dem sagen, was Sie, Frau Fehrs und Herr Dr. Blum, gesagt haben – ist zuvorderst privat. Es ist meine Aufarbeitung. Und es ist ein Privileg, das Betroffene Kirche gewähren, wenn sie Kirche einladen, sie auf diesem Weg zu unterstützen und zu begleiten. Aber individuelle Aufarbeitung ist etwas höchst Privates, und deswegen kann man diese Dinge nicht vermischen, kann man weder Anerkennungsleistungen noch Entschädigung noch sonst etwas mit dieser individuellen Aufarbeitung vermischen. Das wäre verkehrt.

Betroffene erleben diese Verfahren – auch das muss man sich vor Augen führen – ein erstes und ein einziges Mal. Sie kennen die kirchlichen Strukturen nicht. Sie wissen nicht, was sie erwartet, und auch die eigenen Ziele, wenn man am Anfang eines solchen Prozesses steht, werden sich schrittweise immer wieder verändern. Deswegen ist die unabhängige Begleitung von Betroffenen so wichtig. Deswegen gibt es heute zwei Workshops zu dem Thema der guten, gelingenden Begleitung von Betroffenen auf solchen Wegen.

Das bringt mich zu meinem dritten Punkt: Wie kann institutionelle Aufarbeitung gelingen, wenn Fälle von sexualisierter Gewalt bekannt geworden sind? Zuvorderst – Sie haben das heute auch schon gesagt – braucht sie Zeit, egal, wie konsequent und gut sie vorangebracht wird. Aufarbeitung ist kein Sprint. Aufarbeitung ist kein 100-Meter-Lauf. Aufarbeitung ist ein Marathon. Und wer sich dies nicht schon zu Beginn klarmacht, dem geht die Puste aus, der wirft hin oder gibt sich vorschnell mit Ergebnissen zufrieden, die nicht Aufarbeitung sind.

Es geht gerade nicht darum, einen Haken zu setzen: Fertig, erledigt, abgehakt. – Der Kirche muss klar sein, Aufarbeitung ist ein Prozess, ein Weg, auf dem es nicht immer gerade vorangeht, ein Prozess mit Rückschlägen und Neuanfängen, weil die Lösungen gerade nicht auf der Hand liegen, sondern immer wieder neu gemeinsam, also mit den Betroffenen, erarbeitet werden müssen.

Und neben Zeit braucht institutionelle Aufarbeitung externe Fachlichkeit. Sie können es nicht alleine leisten. Sie sind Teil des Prozesses. Es braucht Personen, die den Prozess fachlich steuern, die keine eigenen Interessen in diesem Prozess haben. Aber diese Personen müssen von der Kirche mit den für ihren Auftrag notwendigen Befugnissen ausgestattet werden. Sie müssen unabhängig agieren und entscheiden können, was der Aufarbeitungsprozess wann braucht und wie er erfolgreich abgeschlossen werden kann.

Das heißt auch, Aufarbeitung muss finanziert werden. Aufträge nach außen, Gutachten, Superversion, möglicherweise Mediation müssen bezahlt werden. Die Begleitung und auch die Vernetzung von Betroffenen – das ist ein ganz wesentlicher Punkt in diesem Prozess – kosten Geld.

Aber neben dieser externen Fachlichkeit, die herangezogen und bezahlt werden muss, muss Kirche auch in ihre eigenen personellen Strukturen investieren, und zwar in jeder einzelnen Landeskirche, aber auch auf Ebene der EKD. Denn Aufarbeitung braucht qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – Mitarbeiter, die zum Beispiel die Gemeinden oder Einrichtungen fachlich beraten und unterstützen, die verhindern helfen, dass reflexhaft eine Wagenburg der Verteidigung oder falsch verstandene Loyalität jeden Aufarbeitungsprozess polarisieren, ja torpedieren. Es braucht also finanzielle Ressourcen auch innerhalb Ihrer Kirche auf allen Ebenen, um Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen für solche Aufgaben zu qualifizieren, die entsprechenden Stellen, die notwendig sind, zu schaffen und gegebenenfalls Mitarbeiter auch für diese Aufgaben im Akutfall freizustellen, solange sie dafür freigestellt werden müssen.

Ich fasse zusammen: Aufarbeitungsprozesse müssen Taten, involvierte Täterstrategien und täterschützende Strukturen in den Blick nehmen und offenlegen. Aufarbeitungsprozesse müssen Betroffenen gleichberechtigte Zugänge zur Aufarbeitung außerhalb vom Disziplinarrecht ermöglichen, müssen den Fokus auf die Belange von Betroffenen und deren Rechte in diesen Prozessen legen, und alle für den Prozess notwendigen Ressourcen müssen zur Verfügung gestellt werden, zeitlich, finanziell und personell.

Und ich sage Ihnen gleich: Dennoch, selbst wenn das alles geschehen ist, kann es kein klar definiertes Ende von Aufarbeitungsprozessen geben. Es sind Kapitel, die abgeschlossen werden können. Immer wenn es zu neuen Entwicklungen, neuen Meldungen von Betroffenen, zu Konflikten in Gemeinden oder Ähnlichem kommt, wird es auch immer wieder neue Fragen geben, die neu adressiert werden müssen. So wie die Taten und die Kontexte für Betroffene nie vorbei sind, immer bleiben, so gibt es auch kein klar definiertes Ende von Aufarbeitung. Aber es gibt gute Kapitelabschlüsse.

Sie, Herr Bedford-Strohm, haben vor einem Jahr auf der Synode gesagt: Null Toleranz mit Tätern und Mitwissern! – Endlich haben Sie das für Ihre Kirche so klar und deutlich gesagt. Wir Betroffenen mussten auf diesen Satz lange warten. Er fiel nicht 2010 zu diesem ersten Höhepunkt der Missbrauchskrise. Er fiel nicht, als Bischöfin Jepsen wegen der Missbrauchsfälle in Ahrensburg zurückgetreten ist, nicht, als die vielen Betroffenen in Korntal immer lauter Konsequenzen und auch Aufarbeitung forderten, nicht, als die gesellschaftliche Debatte immer mehr auch von der evangelischen Kirche Rechenschaft forderte. Mit dem Auftakt der letzten Synode aber haben Sie klar und deutlich gesagt, dass in dieser Kirche, für die Sie, für die Sie alle hier als Repräsentanten sitzen, gelten muss: Null Toleranz mit Tätern und Mitwissern!

Das ist ein fast selbstverständlich klingender Satz, und doch haben Sie, Herr Bedford-Strohm, haben Sie alle in Ihren Landeskirchen bisher nicht die Mittel und, ich würde auch sagen, nicht den Mut gefunden, diesen Satz auch in der Realität einzulösen.

Kritik, aber auch klare Forderungen, die mich von vielen anderen Betroffenen im Kontext der evangelischen Kirche erreichen, sind: Täter dürfen nicht weiter im Verkündigungsdienst der Kirche stehen.

Gemeinden müssen von Vorwürfen erfahren und dürfen über erwiesene Taten nicht im Unklaren gelassen werden – nicht für das Hier und Jetzt, aber auch nicht für die Vergangenheit. Tatbegünstigende Strukturen müssen offengelegt werden, und sollten sich Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Kirche täterschützend oder institutionenschützend zulasten von Betroffenen in Verfahren verhalten haben, so muss auch dies Konsequenzen haben.

Kirchliche Ermittlungen zu den Tätern erleben Betroffene oft als unzureichend, weil bei vielen Taten immer wieder zugunsten der Täter davon ausgegangen wird, dass es sich um Einzelfälle handelt. Es braucht aber offene Nachforschungen, damit sich potenzielle weitere Betroffene niedrigschwellig melden können. Die immer wieder von Betroffenen genannten Punkte spiegeln auch meine Erfahrungen wider:

Erstens. Obwohl der Pfarrer laut Protokoll des kirchlichen Verfahrens zugibt, dass es zu massiven sexuellen Übergriffen sowohl im Rahmen der Jugendarbeit, des schulischen Religionsunterrichts als auch im Privaten gekommen ist und er seine Aussage mit den Worten beendete – Zitat –: „Damals hätte mir bewusst sein müssen, dass ich mit einem Bein im Gefängnis stand“, ist dieser Pfarrer bis heute im Dienst der Landeskirche, derzeit eingesetzt als Vertretung auf einer vakanten Pfarrstelle, explizit zuständig, so konnte ich lesen, für die Bereiche Taufe und Seelsorge.

Zweitens. Im Tatzeitraum war er auch Dekanatsjugendpfarrer, hatte also vielfältigen Zugang zu Jugendlichen. Aber die Landeskirche hat auf Dekanatsebene nie versucht, weitere Betroffene ausfindig zu machen.

Drittens. Zwar hat sich die zuständige Landeskirche für Fehler im Disziplinarverfahren und auch im Umgang mit mir mehrfach entschuldigt, dienstrechtliche Konsequenzen haben diese Fehler und auch die bewusst getroffenen Entscheidungen, die zu meinen Lasten gingen, nämlich die Institution zu schützen und nicht auf mich zu achten, für die jeweiligen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen nicht gehabt.

„Keine Toleranz mit Tätern und Mitwissern“, dieser Satz steht für Verantwortungsübernahme. Es geht hier um Glaubwürdigkeit, vielleicht sogar auch um ein Stück Zukunftsfähigkeit von Kirche. Ich möchte Sie hier und heute stellvertretend für die große Zahl von Betroffenen bitten, ja auffordern, künftig tatsächlich nach dem Satz „keine Toleranz mit Tätern und Mitwissern“ zu handeln.

Dazu gehört unabdingbar, Haltung zu entwickeln. Denn jenseits aller Verfahren muss Täterschaft aussprechbar sein und darf nicht hinter Aktendeckeln versteckt werden.

Klar ist aber auch: Der Satz „keine Toleranz mit Tätern und Mitwissern“ nimmt allein die Täter und deren Taten in den Blick. Aber wo bleibt der Satz, der uns Betroffene in den Mittelpunkt stellt, der Satz, der voll und ganz die Haltung dieser Kirche uns Betroffenen gegenüber umfasst, den Opfern von sexualisierter Gewalt durch Mitarbeitende dieser Kirche? Ich unterstelle Ihnen hier und heute: Sie, Ihre Kirche, haben noch immer keine klare Haltung gefunden, was den Umgang mit uns Betroffenen angeht. Zu widerstreitend sind Ihre Interessen. Natürlich sind Sie heute hier und hören mir zu, aber Sie haben viele andere Interessen, und Sie finden den Weg nicht, uns in all den vielen Interessen auch gerecht zu werden.

Ich bin aber sicher, dass Sie diese Haltung brauchen werden, wenn die anstehenden Prozesse gelingen sollen. Aus meiner Sicht gibt es einen Punkt, der ein wesentlicher Teil ist, diese Haltung zu finden, sie zu entdecken. Ich glaube, es wird Sie etwas kosten. Sie werden merken, dass Sie einen Wesenskern aufgeben müssen, der kirchliche Arbeit immer wieder prägt: Sie werden Ihre Deutungshoheit aufgeben müssen. Stattdessen werden Sie sich tatsächlich auf die vielfältigen Perspektiven Betroffener einlassen müssen. Erst dann, wenn Sie Ihre Deutungshoheit aufgeben, werden Sie zu dem kommen, was ich meine, wenn ich von Haltung gegenüber Betroffenen spreche.

Dazu müssen dann auch unbequeme Debatten geführt werden. Da geht es um transparente Verfahren, um die Möglichkeiten der Akteneinsicht, der wichtigen Vernetzungsstrukturen für Betroffene. Auch das Thema „Entschädigung“ darf nicht von vornherein ausgeklammert werden. Sicher, in den meisten Landeskirchen gibt es Systeme individueller Unterstützungs- und Anerkennungsleistungen. Sie nehmen auch und vor allem den akuten Bedarf, der jetzt, in diesem Moment für die nächste Zukunft nötig ist, in den Blick. Das ist gut und wichtig.

Aber zum einen sind die Verfahren nicht transparent. Betroffene, die stärker, besser für sich eintreten können, haben auch bessere Chancen, am Ende höhere Summen zu bekommen. Andere sind froh, dass sie überhaupt etwas bekommen.

All diese Leistungen, die Betroffenen zugesprochen werden, nehmen nicht in den Blick, was längst verloren wurde. Ich spreche von individuellen Entwicklungschancen, von einem Leben, das sich nicht so entwickeln konnte, wie es sich sonst entwickelt hätte. Das sind ganz reale, in vielen Studien erwiesene Folgen: versäumte Ausbildungswege, belastete, gescheiterte Beziehungen, psychische, aber auch körperliche, gesundheitliche Folgen, oft genug ein Leben lang. Da reicht es schlicht nicht, wie auch heute, festzustellen, dass das Leid, das Opfer erlitten haben, nicht entschädigt werden kann. Das ist eine Selbstverständlichkeit.

In meinen Augen, ich sage es ganz ehrlich, klingt das zynisch. Denn in Anbetracht der Lebensleistung, aber auch der Lebenslasten von Betroffenen braucht es ein aufrichtiges Bemühen, um Möglichkeiten und Perspektiven, den lebenslangen Folgen für die Betroffenen gerecht zu werden – nicht, um sich als Kirche freizukaufen, sondern in Anerkennung dessen, dass die Täter den Raum der Kirche für ihre Taten nutzen konnten. Kinder und Jugendliche wurden nicht nur nicht geschützt, sie waren den Tätern ausgeliefert – ausgeliefert, weil diese Kirche die Täter mit der Macht des Amtes ausgestattet hat. Wenn es jetzt um die Frage von Verantwortungsübernahme geht, dann muss in einem geeigneten Prozess auch über verbindliche, transparente und für alle Landeskirchen geltende Entschädigungsleistungen gerungen und gesprochen werden.

Damit komme ich zum letzten Punkt: Der Grund, warum ich zugesagt habe, diese Rede heute hier zu halten, ist, dass ich immer noch, trotz aller Rückschläge und trotz meiner Geschichte mit dieser Kirche, eine Vision von einer Kirche habe, die bei diesem Thema gesellschaftlich vorangeht; einer Kirche, die Sprechräume schafft, Tabus aufbricht, sexualisierte Gewalt zum selbstverständlichen Thema macht; einer Kirche, die die Strukturen schafft, Kinder und Jugendliche sprechfähig zu machen, und in der Kinder und Jugendliche sprechfähig sein können, weil sie Rechte haben und ihnen zugehört wird; einer Kirche, in der gleichzeitig Täter immer machtloser werden, weil sie nicht auf das Schweigen aller weiter vertrauen können, weil immer mehr Erwachsene in Kirche hören, zuhören und handlungsfähig sind; einer Kirche, die nicht deswegen Missbrauch und sexualisierte Gewalt auf einer Synode thematisiert, weil sie in einer Art Krise reagiert, sondern weil sie sich dieses Themas dauerhaft verschrieben hat, weil sie vorangehen will, weil der Schutz aller Kinder vor sexueller Ausbeutung, vor Missbrauch, auch religiösem Missbrauch, in dieser Kirche tatsächlich Priorität hat. Und er hat die Priorität nicht nur, weil es darum geht, künftig sexualisierte Gewalt im Kontext der Kirche zu verhindern, sondern auch und gerade, weil Kirche weiß, sie kann Schutz- und Kompetenzraum auch für die Kinder sein, die im sozialen Nahfeld sexuellem Missbrauch ausgesetzt sind. Diesen Kindern und Jugendlichen selbstverständlich Sprechräume zu bieten, in denen sie auf Menschen treffen, die immer dann handlungsfähig sind, wenn Taten benannt werden, wenn Vermutung im Raum steht. Darum geht es. Es geht um die vielen Kinder, nicht allein um die Taten, die sich im Kontext Kirche ereignen.

Solche Schutz- und Kompetenzorte braucht unsere Gesellschaft, damit es nicht wieder 20, 30 oder mehr Jahre dauert, bis Betroffenen zugehört wird. Ich bitte Sie, jeden Einzelnen hier: Machen Sie sich für solch eine Zukunft in Ihren Strukturen, in Ihrer Landeskirche stark! Setzen Sie sich dafür ein! Schutzkonzepte, Schutzräume müssen gelebt werden. Investieren Sie in Prävention, in die Fortbildung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern! Leisten Sie Aufarbeitung, wo es etwas aufzuarbeiten gibt! Damit es dann irgendwann tatsächlich gut oder zumindest besser sein kann.

Auch Herr Rörig hat es gerade gesagt, sexualisierte Gewalt ist auch heute noch ein Grundrisiko einer Kindheit und Jugend in Deutschland. Die aktuellen Medienberichte dieses Jahres haben es gezeigt. Erst wenn wir als Gesellschaft uns diesem Risiko mutig und beharrlich entgegenstellen, erst dann können Kinder und Jugendliche besser geschützt werden. Sie können dann besser geschützt werden, weil Täterstrategien immer öfter ins Leere gehen. Darum geht es. Deswegen bitte ich Sie: Krempeln Sie die Ärmel hoch! Fangen Sie an bei sich vor Ort in Ihrer Kirche!

Bericht des Mitgliedes des Betroffenenrates beim UBSKM

von  Kerstin Claus