Eine bewusst zurückhaltende Sprache

Das Leiden Jesu im Spiegel neuer Passionslieder

Evangelische Gesangbücher in der Leonardskirche in Stuttgart

Im Evangelischen Gesangbuch gibt es zahlreiche Passionslieder. In der Gegenwart stellt sich die Frage, wie ein zeitgenössisches Passionslied klingen muss.

„Können Sie mir helfen, zeitgenössische Passionslieder zu finden, die in den Gemeinden auch heute noch gesungen werden können?“, fragte mich neulich ein freundlicher Anrufer. Der Hintergrund der Frage wurde schnell klar: Es ging um Lieder, die ohne sühnetheologische Sprache das Leiden Jesu beschreiben. Und hier herrscht im aktuellen Bestand des Evangelischen Gesangbuches wahrlich ein gewisser Mangel.

Zwar besitzen Lieder wie „O Haupt voll Blut und Wunden“ von Paul Gerhardt durchaus Strophen, die das Leiden Jesu lediglich beschreiben und die Relevanz seines Todes für den eigenen Tod hervorheben. Aber auch hier gibt es Passagen, die ohne Verständnis für den sühnetheologischen Hintergrund geradezu zynisch wirken: „Ich danke dir von Herzen, o Jesu, liebster Freund, für deines Todes Schmerzen . . . “ Und wenn Adam Thebesius im Lied „Du großer Schmerzensmann“ das Leiden Jesu am Kreuz als eine strafende Handlung Gottes qualifiziert („vom Vater so geschlagen“), dann stellt sich tatsächlich die Frage, welche Gottesbilder die traditionellen Passionslieder transportieren.

Wie muss ein zeitgenössisches Passionslied klingen?

Durch ihre sühnetheologische Sprache werden die Passionslieder früherer Zeiten nicht obsolet. Gerade Paul Gerhardts Lied „O Haupt voll Blut und Wunden“ hat sich tief verwurzelt in der Volksfrömmigkeit. Hier wird mit den Mitteln und der Theologie des 17. Jahrhunderts dem Tod Jesu und dem Geheimnis seiner Heilsbedeutung nachgespürt. Aber in der Gegenwart stellt sich die Frage, wie ein zeitgenössisches Passionslied klingen muss. Eine ganze Reihe von neueren Passionsliedern beantwortet diese Frage durch eine bewusst zurückhaltende Sprache, mit der das Leiden und Sterben Jesu beschrieben und theologisch gedeutet wird. Ich möchte im Folgenden dies an zwei neuen Passionsliedern exemplarisch darstellen, die in den ab Advent 2018 geltenden neuen Wochenliedplan aufgenommen werden:

• Wir gehn hinauf nach Jerusalem (EG Hessen 545)
• In einer fernen Zeit (Singt Jubilate 17/ Kommt atmet auf 0146).

Beim Singen des Liedes „Wir gehn hinauf nach Jerusalem“, 1970 von Karl-Ludwig Voss aus einer schwedischen Vorlage ins Deutsche übertragen, macht sich die singende Gemeinde mit Jesus auf den Weg nach Jerusalem. Für die Gemeinde stellt sich die gleiche Frage, die auch die Jünger Jesu einst bewegte: „Wer will bei dem Herren bleiben“, und zwar vor dem Hintergrund seines besonderen Weges, der sich immer deutlicher als Leidensweg erweist? Bei Jesus bleiben kann deshalb bedeuten, vom gleichen bitteren Kelch zu trinken und sich mit ihm in Todesgefahr zu begeben.

Die zurückhaltende Sprache bedeutet für Karl-Ludwig Voss allerdings nicht, sich von traditionellen Deutungen des Todes Jesu zu verabschieden. So kann er den Tod Jesu als „Opfer der Welt“ bezeichnen und davon sprechen, dass „einer für alle stirbt, um uns einen Platz [bei Gott] zu bereiten“. Das Lied schließt in der vierten Strophe, indem es Leiden und Ohnmacht in dieser Welt mit Christi Leiden identifiziert. Im Sinne des Gleichnisses vom Weltgericht (Mt 25,40b) ist Christus dort zu finden, wo in dieser Welt gelitten wird.

Passionslied als Gebet

Otmar Schulz formuliert in seinem Lied „In einer fernen Zeit“ ein Gebet, das staunend den Leidensweg Jesu betrachtet. Wer dieses Lied mitsingt, wird zum Beter, der den Weg Jesu ans Kreuz von Golgatha meditierend mitgeht und damit ganz und gar vergegenwärtigt. Die Form des Gebetes scheint eine geeignete Weise für ein zeitgenössisches Passionslied zu sein. Dogmatische Spitzenformulierungen werden vermieden. Stattdessen wird die Deutung des Todes Jesu in dem vorliegenden Lied mit einer spirituellen Haltung verknüpft und greift zurück auf eine ganze Reihe von biblischen Bezügen, die teilweise erst auf den zweiten Blick deutlich werden.

In Vers eins wird auf die Leidensankündigungen Jesu in den synoptischen Evangelien angespielt. In Vers zwei findet sich ein Anklang an die Gottesknechtslieder des Jesaja, die zugleich christologisch gedeutet werden: „Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre“ (Jes 53,4). Jesus scheint in dem vorliegenden Lied auf seinem Weg hinauf nach Golgatha der Gottesknecht zu sein, der um das Leiden und die Schmerzen weiß und diese dennoch zu tragen bereit ist.

Jesu Tod hat eine Bedeutung, die im Leben und Sterben trägt und hält

In Vers drei wird die Verlassenheit Jesu thematisiert, die im Garten Gethsemane besonders deutlich wird, wo nicht einmal die engsten Freunde erkennen, in welcher Situation sich Jesus befindet. Bemerkenswert ist, wie im zweiten Teil des dritten Verses der Kreuzestod Jesu als eine aktive Handlung beschrieben wird: „. . . bringst du dein Leben dar . . .“ Hier ist Jesus alles andere als das Opferlamm, das von einem anderen zur Schlachtbank geführt wird.

In Vers vier spielt Schulz mit den Metaphern „draußen vor dem Tor“ und „mitten in der Welt“ und macht damit deutlich, dass Jesu Tod eine Bedeutung hat, die der ganzen Welt gilt. Deshalb kann im abschließenden fünften Vers das betrachtende Gebet zur Bitte werden, die sich an den vom Tode Auferstandenen wendet: „Erstehe neu in mir.“

Wer diese neuen Passionslieder mitsingt, lässt sich auf den Weg Jesu nach Jerusalem und ans Kreuz auf Golgatha ein und begreift trotz der zurückhaltenden Sprache, dass dieser Tod eine Bedeutung hat, die im Leben und im Sterben trägt und hält. 

Stephan Goldschmidt
Geschäftsführer der Liturgischen Konferenz
im Auftrag der Evangelische Kirche in Deutschland (EKD)


Der Text stammt aus dem Magazin „Grüße aus dem Kirchenjahr. Kirchliche Feiertage als kultureller Reichtum“ der EKD.