Wohin wächst die Kirche?

Thies Gundlach

Vortrag vor dem „Generalkonvent“ der Oldenburger Landeskirche 

Von der Generalzuständigkeit zu Zentren gelingender Kirchen


These 1: 3 Prognosen

a) Bei einer kontinuierlichen Fortsetzung der heute erkennbaren Trends muss man von der Annahme ausgehen, dass die evangelischen Kirchen in Deutschland bis zum Jahre 2030 die Hälfte ihrer Finanzkraft und ein Drittel aller Mitglieder verloren haben werden. Diese Entwicklung wird sich mit „dem üblichen Gefälle“ vollziehen, also in den Städten dramatischer als auf dem Lande, im Norden dramatischer als im Süden, im Osten dramatischer als im Westen. Dieser Prozess wird stattfinden  aufgrund der demographischen Entwicklung und der gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen, dh. keine Mission, keine pastorale Leistungssteigerung und auch keine professionelle Unternehmensberatung wird diesen Grundtrend zur kleineren Kirche aufhalten können. Oder anders gesagt: Vor uns liegt keine Versagensgeschichte, sondern eine Umwandlungsgeschichte. Von uns sind Konzentrationsübungen verlangt, keine Katastrophenübungen! Es gehört zur Barmherzigkeit kirchlicher Selbstbeschreibung einzugestehen, dass eine Zeit für Aufbruch und Erweckungsbewegungen, für missionarische Großerfolge und evangelisierende Durchbrüche nicht gegeben zu sein scheint. Das erinnert an die Grenzen des Machbaren und an die Demut, die gerade auch missionarische Ziele verdienen.

b) Die Kirchensteuer wird für die Finanzierung kirchlicher Aufgaben bis 2030 an Bedeutung verlieren; alternative Finanzierungsquellen sind dringend zu etablieren. Dabei sind klassische Instrumente wie Fördervereine, Stiftungen, Bauhütten usw. ebenso zu stärken wie neue und theologisch vielleicht diskussionswürdige Elemente zu etablieren (z. B. Verkauf von „evangelischen Devotionalien“ (Engelfiguren), Texten, Lichtern usw., aber auch Amtshandlungen, Raumnutzungen u.a.). Denn es gilt: Diejenigen kirchlichen Räume und Gemeinden, die mit sich selbst einen erheblichen Teil ihrer Bau- und Betriebskosten erwirtschaften können, haben zukünftig gute Chancen; die Gesamtkirche wird - wenn es denn gut geht - sich konzentrieren müssen auf die Finanzierung des aufwändig ausgebildeten Kernpersonals.
Dabei werden wir allerdings nicht alle heutigen Gemeinden und Räume halten können. Deswegen gilt es nüchtern festzuhalten: Unsere Kirche wird vieles loslassen müssen - Kirchen, Gemeindezentren, Pfarrhäuser, Mitarbeiter/innen und Aufgabenfelder, vor allem aber Selbstbilder und Identitäten, Ideale und Ansprüche, Zusagen und Erwartungen. Die Kirchen werden viele engagierte Menschen enttäuschen, wir werden erhebliche Verteilungskämpfe zu bestehen haben und am Ende doch manche leere, verfallende Kirchen in unseren Städten und Landen anstarren müssen.
Allerdings ist solches Loslassen z.Z. fast allen Institutionen auf fast allen Gebieten unserer Gesellschaft abverlangt (z.B. Universitäten, Gewerkschaften, Parteien, Schulen usw.). Es lohnt sich daher nicht, im „Gestus kirchlicher Wehleidigkeit“ zu verharren, denn es gilt der Grundsatz: „Es ist nicht alles hausgemacht, was ins Haus steht!“ Ein Blick auf andere gesellschaftliche Institutionen zeigt, dass wir auf allen Ebenen in einem Reformstau stecken, der bisher durch die trotz allem relativ günstige wirtschaftliche Lage Deutschlands verdeckt werden konnte. Dieser Hinweis dient nicht der Ausrede, wohl aber der Einsicht, dass, wer loslässt, auch reicher werden kann, weil er manche Überdehnung, manche Verkrustung und falsche Landnahme abzubauen hilft. Loslassen ist zweifellos ein schmerzhafter Prozess, keiner glorifiziere ihn; aber Loslassen ist auch ein verheißungsvoller Weg, niemand vergesse dies.

c) In einer globalisierten und unübersichtlichen Welt werden die Sehnsucht nach religiöser Orientierung/Beheimatung und die „Wiederkehr der vielen Götter“ zunehmen, aber der Boom füllt nur sehr zum Teil unsere Kirchen. Denn Frömmigkeit und Spiritualität werden trotz jener Sehnsucht bis 2030 eine noch radikalere Individualisierung erleben, nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in unserer Kirche. Positiv heißt das: Eine kirchlich glaubwürdige Flexibilität im Umgang mit individuellen Erwartungen wird eine Grundkompetenz zukünftiger kirchlichen Arbeit sein. Die Zukunft der Kirche hängt auch an ihrer Individualisierungskompetenz unter Beibehaltung des gemeinsamen Profils und gemeinschaftlichen Lebens. Und die Diskussion um diese Individualisierungskompetenz der Kirche ist faktisch längst bei uns angekommen: Nicht nur in der Frage der Flexibilisierung der Parochien (z.B. Personalgemeinden, Jugendkirchen, milieuorientierte Gemeinden),  sondern auch im Bereich der Amtshandlungen (z.B. „Haustaufen“, Friedwaldbestattungen), in der Verwandlung dogmatischer Groß- oder Metaerzählung in kleine Portionen (Patchwork-Glauben; Perikopenreform) und in der Bedeutung der situativen Gemeinschaftsformen („Kirche bei Gelegenheit“, „Erlebniskirche“ und (Jugend-)Kirchentag).

These 2: Konzentration auf das Kerngeschäft

Trotz oder gerade wegen dieser erwartbaren Entwicklungslinien gibt es m.E. in der gegenwärtigen Diskussion um Wege in die Zukunft faktisch so etwas wie einen „magnus consensus“,  einen noch recht allgemeinen Konsens, aber immerhin, einen Konsens:

Ausgangspunkt ist die wohl unumstrittene Einsicht, dass das Kerngeschäft der evangelischen Kirche nach CA VII darin besteht, das „Evangelium rein zu verkünden und die Sakramente recht zu verwalten“. Wenn es hart auf hart kommt, steht das Wort Gottes im Zentrum. Es ist die Verkündigung der innerer Kern aller glaubensweckenden Arbeit und es sind die Kirchen als äußere Gehäuse um dieses eine Wort das letzte, was wir loslassen dürfen. Gottesdienste in aller Vielfalt als unsere Kernveranstaltungen haben oberste Priorität und dies auch gegen den Trend; denn natürlich sind unsere Gottesdienste oft schlecht besucht und natürlich finden diakonische Aktivitäten mehr generelle Zustimmung. Aber dies ändert nichts an unserem Kernauftrag:
unsere Stärke als evangelische Kirche sollte - auch im Unterschied bzw. in Ergänzung zur römisch-katholischen Kirche, die von sich sagt: „ecclesia de eucharistia vivit“ - eine Kirche sein, für die gilt: „ecclesia de verbo vivit“. Bibel, Predigt, Gesangbuch, Psalmen, Gebete, auch die intellektuelle Durchdringung von Geschichte und Gegenwart unseres Glaubens und unserer Kirche in Augenhöhe mit dem Zeitgeistes, - all dies sollten auch in Zukunft das erkennbare Profil des Protestantismus sein.
Natürlich haben diese Stärken - wie alle Stärken im Leben - auch ihre Schatten- und Kehrseiten: unsere etwas kopflastige, intellektualistische Art, unsere Bilder- und Filmfeindlichkeit, unsere Ritualarmut usw. Auch wenn wir hier vieles noch verbessern können, im Kern gilt:
Wir sind eine Kirche des guten Wortes, gut sowohl im Inhalt wie in der Qualität und ohne diese Zuspitzung, ohne diese Kernkompetenz braucht es uns nicht wirklich. Bei dem Schriftsteller Uwe Timm findet sich der schöne, lakonische Satz: „Ein Ochse, der auf der Weide stirbt, hat seinen Beruf verfehlt!“ Und eine evangelische Kirche, die nicht mehr Kirche des Wortes ist, ist ein Ochse, der auf der Weide stirbt. 

Ist diese Konzentration auf das Wort aber der magnus consensus, dann folgen daraus zwei Konsequenzen:
a) Der Schlüssel zur Zukunft liegt in einer Prioritätenklärung, das berühmte Rasenmäherprinzip ist zu Ende. D.h. faktisch, diskutieren wir nicht über Schwächungen und Einschränkungen von Arbeit, sondern über neue Formen von Kirchesein in unserer Gesellschaft. Deswegen haben sich Rat der EKD und Kirchenkonferenz gemeinsam auf eine „Umkehrung der Begründungspflicht“ verständigt und folgenden Grundsatz beschlossen:
 „Nicht mehr die lange oder gute Tradition einer Aufgabe ist ausschlaggebend, sondern die zukünftige Bedeutung. Bei jeder finanziellen Unterstützung durch die EKD muss die Frage überzeugend beantwortet werden können, ob es für die Zukunft des Protestantismus in Deutschland von herausragender Bedeutung sei, diese Aufgabe fortzusetzen. Was würde der evangelischen Kirche fehlen, wenn es diese Aufgabe nicht mehr gäbe?“

b) Die damit eröffnete Prioritäten- und Posteroritätendebatte kann nur Maß nehmen an der Frage, was die „Alleinstellungsmerkmale“ der evangelischen Kirche sind. Natürlich wird man hier eine Fülle und Vielfalt von Antworten bekommen, aber als Grundregel wird man sagen müssen: Die Profilierung der „geistlichen Kernangebote“ ist das Gebot der Stunde; die Zukunft der Kirche ist theologischer, geistlicher, spiritueller, ohne sie hat keine.
Und diese geistliche Konzentration ist gerade keine Relativierung oder gar Abwendung vom diakonischen Auftrag der Kirche, sondern seine Stärkung? Denn es geht zukünftig in all unseren diakonischen Anstrengungen als Kirche um genau diese Frage: Was ist die geistliche, die theologische, die missionarische Dimension unserer Sozialarbeit? In einer Gesellschaft, in der christliche Traditionsbestände nicht mehr vorausgesetzt werden können, muss die Herkunftsidentität von sozialem und diakonischen Handeln kenntlich gemacht werden, sondern bleiben Ursprung und Motivation anonym. Die Diakonie, aber auch die vielen Funktionspfarrämter, haben die Wiederentdeckung ihrer spirituellen Erkennbarkeit bzw. ihrer missionarischen Dimension m.E. noch vor sich, und mit dieser Entdeckung werden sie der verfassten Kirche wieder näher kommen.


These 3: Über die Erwartungen der Kirchenmitglieder 

Setzt man nun diese theologische Definition des „Kerngeschäftes der Kirche“ einer soziologischen Analyse der Erwartungen der Mitglieder an ihre Kirche aus, dann gibt es eine verblüffende Überschneidung:
Es gehört zu den ältesten und zugleich konstantesten Ergebnissen der KMU, dass die Mehrzahl der Mitglieder „an den Wendepunkten des Lebens kultisch begleitet werden wollen“ (KMU IV, S. 15), während die „Möglichkeit zu sinnvoller Mitarbeit für ihre Kirchenmitgliedschaft kaum ein Rolle spielt“ (KMU IV, S. 16). Nimmt man andere Ergebnisse der KMU IV (Was ist Evangelisch?; Stichwort `Milieubindung und Weltsichten´ usw.) hinzu, ergibt sich das (wissenschaftlich natürlich unseriöse) „Erwartungsbild“ eines durchschnittlich en evangelischen Kirchenmitgliedes, das etwa folgende Konturen hat:

Der evangelische Normaltyp ist getauft und konfirmiert, er ist Mitglied der Kirche (allerdings mit immer weniger Selbstverständlichkeit), er geht nur selten zur Kirche (lediglich 33 % halten den Kirchengang für wesentlich) und er nimmt an kerngemeindlichen Angeboten nicht teil. Der evangelische Normaltyp kennt wesentliche inhaltliche Bezugspunkte zur Identifikation des Evangelischen nicht (in der „Kirche des Wortes“ halten im Westen nur 22 % der Mitglieder das Lesen der Bibel für ein zum Evangelischsein gehörendes Merkmal; immerhin sind es 40% im Osten) und definiert Evangelischsein als ethische Gewissensautonomie und allgemeine Anständigkeit. Es sind „beachtliche 84 % bzw. 87 %, die angeben, es würde unbedingt zum Evangelischsein gehören, seinem Gewissen zu folgen bzw. sich zu bemühen, ein anständiger Mensch zu sein“ (KMU IV, S. 18). Inhaltlich ist diese Gewissensautonomie nicht näher bestimmt, schon die erfragte Orientierung des Gewissens an den 10 Geboten oder an der Botschaft Jesu überzeugt den Normaltyp wenig. Zugleich lässt sich aus der KMU-Erhebung lernen, dass Distanzierte zwar ein deutlicheres evangelisches Profil erwarten, allerdings ohne selbst damit identifiziert werden zu wollen. Die früher oft behauptete verschreckende Wirkung inhaltlicher Positionalität und vermeintlich „hoher Schwellen“ wird geringer, der distanzierte Normaltyp des Evangelischen fühlt sich in seiner Kirchenmitgliedschaft gestärkt, wenn sich die Kirche durch klares Profil erkennbarer macht, ohne ihn damit vereinnahmen zu wollen. In der Konsequenz heißt das: Die Sehnsucht nach inhaltlicher Profilierung und der Wunsch nach Achtung distanzierter Mitgliedschaft als legitimer Teilnahmeform sind für die Mehrheit unserer Mitglieder zwei Seiten derselben Medaille. Wie ist diese Spannung theologisch zu verstehen?


Natürlich hat diese Spannung mit der modernen Medienwelt zu tun und der Kommunikation des Evangeliums über dieses Medium. Gerade uns Ortpastoren/innen muss dies immer mal wieder in Erinnerung gerufen werden: weit über 50 % aller Mitglieder unserer Kirche haben keinerlei Kontakt zu Ortsgemeinden oder Funktionspfarrämtern. Sie nehmen Kirche medial wahr und eben dies begründet (!) ihre Mitgliedschaft. Will man aber die Verbundenheit dieses distanzierten Normaltyps stärken, ohne illusionäre Mobilisierungserwartungen zu produzieren, dann muss man in den Blick nehmen, wie die Kerngemeinde und ihre Angebote verstanden werden. Dabei kann man m.E. eine Art positiv besetztes Delegationsprinzip ausmachen nach dem Prinzip: Ich bin froh, dass es die (Kerngemeinde-) Kirche gibt, auch wenn ich sie selbst in der Regel nicht in Anspruch nehme. Viele distanzierte Kirchenmitglieder gehören daher zur Kirche in ähnlicher Gestalt wie bildungsferne Menschen im vorreformatorischen Mittelalter, also in Gestalt eines „modernen Köhler-Glaubens“:

Sie kennen und glauben nicht selbst all die Inhalte und Aussagen der Kirche und ihres Glaubens, sie glauben aber der Kirche, dass diese Inhalte glaubwürdig sind. Und weil die Kirche glaubwürdig glaubt, „leihen“ sie sich diesen Glauben aus, wenn sie ihn biographisch brauchen. Im Grunde war dies theologisch betrachtet immer schon so: Die Kirche „glaubt „mehr“ als ihre Mitglieder, wie auch das Ganze mehr ist als die Summe aller Teile. Im Kern „funktioniert“ daher jeder Weihnachtsgottesdienst, jede Amtshandlung, jede situative Verkündigung (z.B. Gottesdienste anlässlich großer Unglücke) nach diesem Modell der „geistlichen Stellvertretung", die ihre Wurzel letztlich hat in dem einen, dessen Glauben sich auch jede Kerngemeinde bis heute „ausleiht“. Die Kerngemeinden übernehmen durch das Vorhalten von geistlicher Kompetenz und sprachlich-theologischer Glaubwürdigkeit in Gestalt von Gottes- und Bibelwissen, von feierlich-rituellen Formen-, von Ritual- und Gebetswissen einen stellvertretenden Dienst für die Distanzierten, damit diese zu ihrer Zeit einen Raum für Religion vorfinden können. Auf diese Weise ist die Kerngemeinde zuerst geistlich eine „Kirche für andere“. Kerngemeinde und Distanzierte stehen weder in Konkurrenz zueinander noch bilden sich Wertigkeitsunterschiede ab zwischen besseren und schlechteren Christen, sondern unterschiedliche, aber gleichlegitime Formen der Beteiligung an Kirche. Und richtig ist ja auch, dass biographisch-individuell die Durchlässigkeit zwischen diesem und jenem Typ von Kirchenmitgliedschaft sehr hoch ist, gibt es doch Phasen der besonderen Nähe zur Kerngemeinde (Kinder- und Jugendzeit; Kummerzeit, Hoch-Zeit-Phasen usw.) und Phasen der Distanz (Studium, Berufsstartphase usw.). Wichtig ist für uns hauptberuflichen Theologen/innen, locker zu lassen, nicht zu klammern, nicht die Generalbetreuung von der Wiege bis zur Bahre als alleiniges Handlungsziel zu haben, denn dann ist die Enttäuschung sozusagen festintegrierter Bestandteil des Berufes. Ziel ist es, auch geistlich eingestehen, dass das Verhältnis zu Gott und zum Glauben atmet, lebt, sich bewegt und verändert, dass Nähe und Distanz, Dichte und Ferne wechseln und wachsen, und dass deswegen auch das Verhältnis zur Kirche atmet zwischen Nähe und Distanz.

These 4: Kathedralkirchenmodell

Wenn aber zutrifft, dass die Kirche bei ihrer ureigensten Sache und bei ihren Mitgliedern bleibt, wenn sie Orte des Glaubens und Räume der Begegnung zwischen Gott und Mensch aufrecht erhält und anbietet, in die ihre Mitglieder - und die anderen auch - eintauchen können, wenn sie eintauchen möchten, dann gewinnt letztlich auch die Kerngemeinde, wenn sie sich auf ihr „geistliches Kerngeschäft“ konzentriert und eine Qualitätsoffensive anregt gerade in spirituellen Dimensionen. Handlungsstrategisch muss man also festhalten, dass eine theologisch-geistliche Profilierung der Kerngemeinde beiden Grundformen von Kirchenmitgliedschaft gleichermaßen zugute kommt. Nur: Wie konzentrieren wir uns auf das geistliche und missionarische Kerngeschäft? Und wie muss eine Qualitätsoffensive in den spirituellen Angeboten aussehen, die die Entwicklungen der Mitgliederzahlen und der Finanzkraft unserer Kirche realistisch wahrnimmt?

Vielversprechend scheinen mir Überlegungen zu einer Konzentration der Kräfte zu sein, die sich in den sog. „Inseln gelingender Kirchlichkeit“ konkretisieren. Diese Insel-, Oasen, Zentren- oder Leuchtturmlösung zielt auf den Abbau der kirchlichen Überdehnung. Es geht nicht darum, Vorhandenes schlecht zu reden oder Bestehendes für unwert zu erklären, sondern darum, Überstrapazierungen abzubauen.
Überdehnungen finden sich z.B. oftmals in der ausgedünnten Kraft der Gemeinden, die mit hängender Zunge und mit immer weniger Geld ein Programm aufrecht zu erhalten versuchen, das immer weniger Interesse findet und daher tiefe Wunden der Frustration schlägt. Überdehnungen gibt es auch im Organisatorischen, denn wir leisten uns z.T. einen Organisationsaufwand, der für etwa doppelt so viele Mitglieder entworfen wurde. Überdehnung ist zuletzt aber auch ein inneres, geistliches Phänomen, wir sind oft leerer, hohler, pathetischer als uns gut tut, wir sind gefangen in ausgetretenen Sprachwegen und ermüdet von den eigenen Wiederholungen. Wir müssen auch geistlich wieder Zeit zum Einatmen bekommen, um als Geistliche wirken zu können.

Deswegen gehen meine Überlegungen in Richtung einer Konzentration der Kräfte, um einzelne Räume oder Orte als "Inseln funktionierender Kirchlichkeit" mit Ausstrahlung und Glaubwürdigkeit zu etablieren. Solche Inseln sind wie Leuchttürme im Meer des Scheins und Designs, wie Wehrkirchen gegen alle Banalitätsanstürme, sie sammeln und konzentrieren die kleiner gewordene Zahl der Christen um ihre unsichtbare innere Mitte und stärken sich so gegenseitig in ihrem Glauben. Natürlich ist alles folgende Zukunftsmusik, aber solche weiträumige Vision kann entängstigen. Visionen wollen nicht Realität ersetzen, sondern eine Richtung andeuten, Visionen sind „Wachstumsziele gegen den Trend“ und können so Mut machen auch zu einem längeren Weg, weil das Ziel attraktiv und ansehnlich ist.

Solche Inseln oder Leuchttürme gelingender Kirchlichkeit sollten Kathedral-Kirchen genannt werden, wobei der Titel Kathedral unabhängig von der Größe verliehen wird, sondern allein abhängt von der Vielfalt und Qualität des Angebotes. Denn gemäß der mittelalterlichen Definition sollen Kathedralen an einem begrenzten Ort das Ganze, das Universale, die Fülle der Geheimnisse Gottes symbolisieren. Folgende 4 Leitlinien gelten für Kathedralen auf dem Lande wie für Kathedralen in der Stadt:

a) Kathedralkirchen sind zugleich ein Parochiezentrum für ein großes Flächengebiet und ein Netzwerkmittelpunkt für ein bestimmtes Milieu; sie sind Orts- und Personalgemeinde zugleich, indem sie generelle Zuständigkeit und missionarische Profilbildung verbinden. Sie sind unregelmäßig über Stadt und Land verteilt, je nach Kraft der Christen, des Raumes, der Landschaft. In ihnen arbeiten nicht gehetzte und oft schlecht bezahlte oder schlecht motivierte Pastoren/innen, Kantoren/innen und Küster/innen, sondern Teams von Geistlichen und Laien, die sich ergänzen, ermutigen und miteinander wachsen, idealer Weise getragen von einer dort angesiedelten „kommunitären Gemeinschaft“, die die Tagzeitgebete als spirituellen Rhythmus leben. Mehrere solcher Kathedralkirchen in einer überschaubaren Nähe zueinander (Stadt) bilden ein Ensemble, das sich koordiniert und unterschiedliche missionarische Profile entwirft, verschiedene Musik- und Glaubenssprachen spricht und sich daher die Christenmenschen nicht gegenseitig abwirbt, sondern jeweils anderen Milieus geistliche Heimat bietet.

b) Kathedralkirchen haben ihr (missionarisches) Angebotszentrum - neben Gottesdienst und Kirchenjahrfeierkultur - in einer ausdifferenzierten Kasualpraxis. Neben dem „stationären Kasualdienst“, der die Menschen zur Kathedrale kommen lässt, entwickelt sich ein „ambulanter Kasualdienst“, der alte Formen wie Haustaufen und Valetsegen neu entwickelt, aber auch Trauungen und  Beerdigungen vor Ort vornimmt. Das Berufsbild des Pfarrers/in wandelt sich vom `professionellen Nachbarn` zum `professionellen Besucher´. „Pastor/in auf Wanderschaft“ besucht die Christen in den kleinen Ortskirchen oder Hauskreisen. Zugleich entwickeln sich regionale Kathedralkirchentage, in denen die Menschen aus der Region zu besonderen „Events“ zur Kathedrale kommen (von Erntedank bis „Nacht der Kirchen“).

c) Mit den Kathedralen konzentriert sich die Kirche auf Kernkirchenräume, die sie tatsächlich erhalten und ausfüllen kann; Kathedral-Kirchen sind Kult- und Kulturorten einer ganzen Region. Schulen (oder gar Internate) als Orte exemplarisch evangelischer Bildungsarbeit umgeben die Kathedralen, akademieähnliche Angebote für die Menschen in der Region gehören ebenso dazu wie die urchristliche Gastfreundschaft in moderner Gestalt von Kirchenpavillons o.ä. (eine Mischung aus Café-Restaurant, Informationszentrum, Wiedereintrittsstelle und „Einkehrhaus“). Und wie bei amerikanische Universitäten wird die finanzielle Bedeutung privater Sponsoren und Förderer immer wichtiger.
 
d) Kathedralen haben je nach ihrer Leistungskraft ein vielfältiges diakonisches Angebot um sich konzentriert, von professionellen Seelsorgeangeboten über Hospize und Krankenhäuser bis zu Kindergärten und Diakoniestationen. Die besondere Qualität dieser diakonischen Angebote ist immer ein spezifisch christlicher, „guter Geist“, der die „Maße des Menschlichen“ würdigt und ganzheitlich zu heilen versucht. 

Das Kathedralkirchenmodell will die faktisch vorhandenen Entwicklungstendenzen aufnehmen und gestalten, nicht nur hinnehmen und ertragen. Es sieht in der sich in der EKD alternativlos durchsetzende Regionalisierung der Parochien lediglich ein Zwischenschritt, der mittelfristig die Kirchenkreise bzw. Superintendenturen zu den entscheidenden Steuerungs- und Gestaltungszentren für die Angebote der Kirche machen wird. Der Kirchenkreis wird Organisationsort der „nahen Kirche“. Allerdings dürfte die Stärkung dieser Entscheidungs- und Verantwortungszuständigkeit gegenüber den einzelnen Kirchengemeinden unter angemessener Beibehaltung des synodalen Partizipationsprinzips eine der zentralsten und schwierigsten organisatorischen und rechtlichen Kraftanstrengung der Zukunft werden. Aber ohne klarere Führungs- und Gestaltungszuständigkeit ist jede Kirche mittelfristig strategieunfähig. Und ohne große kritische Emphase lässt sich eindeutig formulieren: die evangelischen Kirchen haben in allen ihren Varianten ein erhebliches Strategie- und Steuerungsdefizit; manchmal hat man den Eindruck, wir sind eine „Schön-Wetter-Institution“; solange Geld zu verteilen war, ging alles gut; jetzt aber fehlen uns die Instrumente, Kirche gut aufzustellen, weitsichtig zu steuern und auch unangenehme Entscheidungen durchsetzbar zu machen.    

These 5: Regionalisierung und Konzentration - die Stärken stärken

Wie kommen wir da hin? Letztlich ist es ganz einfach: Indem wir es wollen und uns vornehmen! Dabei muss man nur diejenigen Entwicklungen stärken und befördern, die schon heute in jene Richtung weisen, während man diejenigen Kräfte ausbremst, die diesen Entwicklungen entgegen stehen. Allerdings ist diese förderliche Grundgeschäft, „die Stärken zu stärken“ uns Protestanten eher unbekannt; wir sind im kritisieren und problematisieren unschlagbare Weltmeister. Aber gerade deswegen: Welche Entwicklungen gilt es heute zu verstärken?

1. Am etabliertesten sind Ansätze in Richtung Kathedralkirche in den City-Kirchen der großen und größeren Städte zu finden. Als Citykirche sind sie zugleich Gemeindekirche, Veranstaltungskirche, Jugendkirche, Akademiekirche, Angebotskirche, Profilkirche, Bürgerkirche, Diakoniekirche, Konzertkirche, Kulturkirche. Und die Tendenz zur Citykirche gibt es auch längst in kleineren und mittelgroßen Städten. Citykirchenarbeit ist kein großstädtisches Phänomen mehr, jede kleine Stadt, die mehr als eine Kirche hat, steht vor dem Problem der Profilierung, der Konzentration und des Ensemblegedankens (Wolfsburg). Die Citykirche als Vor- und Frühform jener Kathedralkirchen gilt es darum zu stärken, nicht zuletzt dadurch, dass wir kleinere, ausgedünnte, schwach gewordene Gemeinden in den städtischen Randgebieten dorthin verlegen.

Solches Verlegen an die kirchlichen Kernräume gilt übrigens auch für die andere Form der Gemeindearbeit, die sich jeweils in ganz spezifischen Welten etabliert hat. Ich denke hier an die Gefängnis- oder Krankenhausseelsorge, aber auch manche Gemeindebildungen in Anstalten oder um bestimmte Arbeiten in den Akademien usw. Auch diese Formen sollten - soweit sie nicht von den jeweiligen Trägern refinanziert werden (Schule, Gefängnis, Krankenhaus leider nicht) - ihre Kompetenzen einfließen lassen in die zentralen Kirchen, nicht um vergemeindlicht zu werden, sondern um die Gemeinde zu öffnen und selbst die Basis nicht aus den Augen zu verlieren. Denn ich halte es pastoral für ein Unglück, wenn wir als Kollegen/innen uns gegenseitig isolieren: Die jeweilige Ortsgemeinde glaubt, sie sei der Mittelpunkt der Kirche, und die Funktionspfarrämter haben den Eindruck, die Gemeinden erreichten doch bestenfalls nur Kerngemeindemitglieder. So beginnt leicht das gegenseitige Abwerten, es tobt der Verteilungskampf und die Gesamtfirma macht einen miserablen Eindruck.

Unter dem Stichwort Regionalisierung vollzieht sich faktisch auch in den allermeisten Landeskirchen solch ein Konzentrationsprozess hin zu einigen verlässlichen und starken Kernkirchen (kein Kanzelkarussell). Unsere Landeskirchen, aber auch die Kirchenkreise oder Sprengelebenen sind daher m. E. außerordentlich gut beraten, wenn sie diesen Konzentrationsprozess zügig und entschlossen vorantreiben, und nicht zuwarten, bis die Kräfte echt erschöpft sind und ein Zusammengehen nur noch aus Resignation ertragen wird. Nur wenn wir auf diese Leuchttürme hin bewusst wachsen wollen, gibt es genügend frei werdende Kräfte und Kapazitäten, die in die geistliche Kompetenz, in die Fort- und Weiterbildung der Mitarbeiter/innen und in der Entwicklung von Angebotsinnovationen einfließen können. Dafür haben wir in der Regel schon zwei Instrumente:

a) Die Erwartungen an die pastoralen Schlüsselkompetenzen werden eher noch zunehmen. Gesucht und gebraucht werden ja neben der priesterlich-pastorale Grundkompetenz besonders eine missionarische Kompetenz und eine neue  Leitungs- und Führungsfähigkeit. Unerlässlich scheint mir daher einerseits, angesichts dieser Herausforderungen eine neue Kultur der geistlichen und personalen Visitation zu etablieren. Wir verschenken hier noch viel Potential, vielleicht auch aus falsch verstandener Sorge, dass Visitation Aufsicht, Prüfung, Fremdsteuerung sei. Aber nüchtern betrachtet wird die Generation der jetzt 35 - 45 Jährigen auch noch 2030 (Pensionierung frühestens ab 68 Jahren) den Kern des kirchlichen Personals bilden, weil der Strom des Nachwuchs zu einem schmalen Rinnsal geworden ist. Daher müssen die Landeskirchen viel intensiver als bisher Resourcen auf die Fort- und Weiterbildung der vorhandenen Mitarbeiter einstellen (hier kann man gerne Maß nehmen an den Anstrengungen, die andere Berufe auf diesem Feld unternehmen (Ärzte; Juristen; Manager). 

b) Unerlässlich aber scheint mir andererseits - auch wenn ich bei Pastoren/innen vielleicht Eulen nach Athen trage - der Hinweis, dass auch zukünftig der Pfarrberuf eine fundamentale Bedeutung für die Kirche hat (vgl. KMU; Isolde Kahle). Die lang, intensiv und teuer aus- und fortgebildeten Pfarrer/innen entscheiden mit ihrer Amtsführung über die Zukunft unserer Kirche. Wie bei fast allen „Unternehmen“ hängt die Zukunft einer Firma an ihren leitenden Angestellten. Und gestehe ehrlich, dass ich nicht weiß, wie man diese Bedeutung und jene Erwartungen an den Pfarrberuf verbinden will mit einer immer schlechteren finanziellen Versorgung des Berufsstandes (auch in Form von 50% oder 75% Stellen). Wir sollten den zentralen Beruf in unserer Kirche nicht unter Wert verkaufen!

Denn in meinen Augen sitzt schon heute die eigentliche Herausforderung in diesem Konzentrationsprozess bei uns, den Pastoren/innen, dem Führungspersonal der Kirche. Wir kleben doch viel zu oft an unseren Gemeinden, wir haben uns „unseren Kirchenvorstand“ gesucht und also eingenistet bei den Menschen, die unsere Kerngemeinde sind. Wir sehen mit ziemlichen Entsetzen die Aussicht, mit Kollegen enger kooperieren zu müssen und befürchten, man könne uns und unserer Arbeit in die Karten schauen. Es gibt viel Veränderungsgegenwehr gerade von der Pastoren/innen- und der Mitarbeiter/innenebene. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: wir können uns solche separatistischen Grundgefühle in unser Kirche nicht mehr leisten, wir müssen unsere Gemeinden zusammenrücken, wir müssen die gemeinsame Firma stark machen, nicht nur die je eigenen Pfründe sichern. Wir Pastoren/innen brauchen für den anstehenden Prozess viel Teamfähigkeit, im Grunde hat jeder von uns an seinem Ort kirchenleitende Verantwortung, denn wir müssen ja vor allem die Menschen mitnehmen auf diesen unvermeidlichen Weg der Konzentration und sie überzeugen, Räume, Formen, Vertrautheiten aufzugeben, ohne der Kirche insgesamt den Rücken zu kehren. Wenn aber wir Pastoren/innen diesen Prozess nicht bejahen und betreiben, wer denn dann? Als leitende Mitarbeiter der Gesamtfirma haben wir in dieser Umbruchszeit die gemeinsame Verantwortung, diese unvermeidlichen Prozesse zu befördern, sie natürlich auch kritisch zu begleiten und Verdrängtes zu benennen, aber als Hauptbremser sind wir nicht berufen worden.

2. Die zweite Vor- oder Frühform auf dem Weg zu solchen „Inseln gelingender Kirchlichkeit“ sind Leuchtturm-Dorfkirchen. Auch auf dem Lande wird es unerlässlich werden, mit Verstand und gutem Urteil zu unterscheiden zwischen denjenigen kirchlichen Räume, die zukünftig noch geistlich ausgefüllt, gemeindlich „bespielt“ und finanziell gestaltet werden können, und diejenigen Dorfkirchen bzw. -gegenden, die so ausgedünnt und geschwächt sind, dass zwar die Dorfkirche als Raum und Mitte des Dorfes erhalten werden muss, nicht aber die Kirche als Gemeinde. Ein Blick nach Ostdeutschland macht das Extrem klar, das es im Kleinen vermutlich auch schon im Westen gibt: Viele Dorfkirchengemeinden sind nur noch sehr rudimentär ausgestattet und haben kaum noch die Kräfte für ein ausstrahlungskräftiges Gemeindeleben. Es gibt auch auf dem Land so etwas wie eine „Entleerungsspirale“, die entmutigt: immer weniger Mittel, immer weniger Personal, immer weniger Angebot, immer weniger Mitglieder, immer weniger Motivation usw. Deswegen werden wir auch schöne Dorfkirchen geistlich loslassen müssen, um frei zu werden für konzentrierte Kirchenarbeit in der Fläche. Denn es macht doch keinen Sinn, 15 oder 20 Dorfkirchengemeinden mit jeweils drei oder fünf oder zehn Gottesdienstbesuchern künstlich am Leben zu erhalten; wir verheizen Kräfte und guten Willen, die wir wo anders brauchen.

Dabei ist meine Sorge um die Räume der Dorfkirchen eigentlich nicht die größte, denn nicht zuletzt die Erfahrungen in Ostdeutschland mit seiner immens großen Zahl von Kirchen und seiner immens kleinen Zahl von Christen lässt mich hoffen, dass es auch bei uns eine Fülle von engagierten Menschen gibt, die die Räume der Kirche erhalten wollen, auch wenn sie mit der stiftungsgemäßen Nutzung dieser Räume nicht mehr verbunden sind. Die Zahl der Fördervereine, der Bauhütten und Initiativen spricht eine eigene, zuversichtliche Sprache. Zugleich wird man als Kirche auch nüchtern sagen müssen, dass viele Dorfkirchen zum Ensemble eines Dorfes gehören, gleichsam den Raumkern bilden, ohne dass sie noch inhaltlich als „Mitte des Dorflebens“ verstanden werden. Insofern aber erwartet die Kirche auch zu Recht Unterstützung und Mithilfe von der kommunalen Seite. Allerdings muss es dann eine größere Freiheit in der Nutzung der Kirchräume geben, sie sollten dann auch als Heimatmuseum, als Versammlungs- und Konzertsaal verwendet werden können. Der Schmerzpunkt wird dort sein, wo wir als Christen nicht umhin kommen, die Verantwortung für diese Räume ganz loszulassen, weil sie uns überfordern.

Durch das Loslassen verlorener Positionen kann ein Abbau der Überdehnung auch auf dem Lande einsetzen, der sich in Kathedralkirchen positiv konzentriert. Dabei sollen aber die vielen kleinen Dorfgemeinden nicht allein gelassen und unversorgt bleiben. Die Kathedralkirchen sollen darum so etwas entwickeln wie „ambulante Versorgungsformen“ für die Christen auf dem Lande. Es hat immer zum Kerngeschäft der Verkündigung seit den neutestamentlichen Zeiten gehört, dass Menschen auf Wanderschaft gingen, um andere mit der frohen Botschaft zu erreichen (Apostel; Evangelisten usw.). Nicht nur Jesus selbst ist dabei voranmarschiert, sondern von den Asketen bis zu den mittelalterlichen Mönchsorden und den Wanderpredigern der Erweckungsbewegung sind immer wieder Menschen losgezogen, um das Evangelium zu verbreiten. Und warum sollte es in einer modernen Form nicht auch solch eine spirituelle Wanderschaft geben? Der wandernde Pfarrer/in sucht die Christen auf, die sich um eine alte Dorkirche oder auch in Hauskreisen auf dem Lande sammeln, er/sie berät und fördert sie, er/sie spricht die Würdigung der Gesamtkirche für ihre Arbeit aus, er/sie stärkt die Laien/innen in ihrer Arbeit, er/sie visitiert die Gottesdienste und feiert Sakramente und Amtshandlungen, er/sie berichtet von den Entwicklungen in der Gesamtkirche und den Geschicken der Ökumene.
Solche portablen Pfarrdienste spiegeln den Paradigmenwechsel vom Pfarrer als professionellen Nachbarn zum Pfarrer als professionellen Besucher. Statt kontinuierlicher Betreuung gibt es punktuelle Angebote und situativ besondere Gemeinschaftserlebnisse mit der Gesamtkirche. Und zwischen den Besuchen bleiben die verstreuten Gemeinden und Christen gar nicht unversorgt, einmal weil mündige Laien ihr geistliches Leben durchaus auch selbst organisieren können und werden, und zum anderen, weil in Zukunft unsere Kirche auch neue „geistliche Formen und Figuren der Ordination“ als Beauftragung pro loco et tempore entwickeln wird. Warum sollte es nicht eine Art „Amt des Laienapostolats“ geben, das Menschen sammelt und Gottesdienste leitet, obwohl es einen eigenen weltlichen Beruf hat? Und haben wir schon genug aus der Ökumene gelernt, die doch auch neben dem hauptamtlichen Priester Katecheten und Missionare, Evangelisten und Beauftragte kennen. Und trotz allem heutigen Gezanke in der wissenschaftlichen Theologie riskiere ich auch diesen Satz: Wir werden noch froh sein über jede/n, der/die den „theologischen Bachelor ohne klares Berufsziel“ gemacht hat, der/die dann in die Wirtschaft, in die Werbung, in die Politik gegangen ist; denn diese Menschen werden die ersten sein, die uns helfen, die pastorale Versorgung in der Fläche sicher zu stellen. Und es werden sich so auch in Zukunft viele jener „Leuchttürme des Glaubens“ finden bei den vielen Laien, die der Kirche treu sind, jene  Leuchttürme, die man zwar nicht machen, wohl aber dankbar würdigen kann.  

Zuletzt sei auch eine gesamtkichliche Perspektive angedeutet:
Einen schweren Stolperstein sehe ich auch wieder bei uns selbst, in den kirchlichen Strukturen und Hierachien. Denn es liegt ja auf der Hand, dass wir diesen Prozess der Konzentration nicht nur in der Fläche brauchen, auch nicht nur in den kleinen und mittleren Städten, sondern auch in der „Tiefe des Raumes“, in der Organisation von Leitung. Auch wenn ich mich jetzt hier in Oldenburg am Schluss vielleicht doch noch um Kopf und Kragen rede: Es gibt eine „symbolische Dimension des Mitsparens“ und Konzentrieren auf der Leitungsebene. Auch wenn die Einspareffekte - wie jeder Eingeweihte weiß - eher gering sind, es muss auch an der Spitze sichtbar gespart werden, sonst wirkt der unvermeidliche Konzentrationsprozess an den Basis und in der Masse unglaubwürdig. Deswegen sage ich:
Zur Zeit gilt - grob geschätzt und über den Daumen gepeilt - in der EKD die sog. 25er Regel (ca. 25 leitende Geistliche, 250 leitenden Kirchenbeamte; 2500 Superintendenten/innen/Pröpste/innen und 25.000 Pastoren/innen bei 25 Mill. Mitglieder). Wir werden uns mittelfristig konzentrieren müssen auf eine 12er Regel: In etwa 12 Landeskirchen - die sich an den Bundesländern orientieren (ohne Hamburg, Berlin, Bremen und das Saarland) - gibt es 12 leitende Geistliche bei maximal 120 leitenden Beamten und 1200 Pröpsten/Superintendenten und 12.000 Pastoren/innen für dann etwa 16 - 18 Millionen Mitglieder. Das Verhältnis zwischen Leitung und Basis wird deutlich besser und die Kirche wird schlanker geführt und klarer aufgestellt sein.

Abschluss:
Mit dieser Konzentrationsvision auf die Inseln gelingender Spiritualität bzw. Kathedralen ist in meinen Augen eine erste Antwort gegeben auf die Frage „Wohin wächst die Kirche?“. Denn nun gibt es bei allem anstehenden Reduzieren und Regionalisieren doch reizvolle Wachstumsziele, die motivieren und Lust machen auf eine Zukunft, die zwar kleinere Dimensionen kennen wird, aber deswegen ihrer Aufgabe für ihre Zeit nicht schlechter gerecht wird als andere Generationen von Christen in anderen Zeiten.