"Nachfolge heute" - Vortrag bei der Jahrestagung der Internationalen Bonhoeffer-Gesellschaft, Deutsche Sektion, in Berlin

Wolfgang Huber

I.
Über Nachfolge zu reden ist schwer; aber über Nachfolge zu reden ist nicht erst neuerdings schwer geworden. Schwer ist es vielmehr schon immer. Denn Nachfolge ist schwer. Jesu Erzählung vom reichen Jüngling erschließt am leichtesten, warum sie schwer ist. Sie erfordert den Abschied von dem, woran wir besonders dringlich hängen, um dessen willen, das allein wichtig ist, oder noch genauer, um dessen willen, der allein wichtig ist. Jedes Nachdenken über Nachfolge stellt uns in diese Spannung zwischen, wie Dietrich Ritschl sich einmal ausgedrückt hat, dem jetzt Dringlichen und dem bleibend Wichtigen. Und wer könnte von sich sagen, dass er die Kraft hätte, dem jetzt Dringlichen einfach den Abschied zu geben, um es allein auf das bleibend Wichtige, auf den bleibend Wichtigen ankommen zu lassen? Ein Trost bei der schweren Aufgabe, über Nachfolge nachzudenken, zu reden, sie zu tun, ein solcher Trost ist es nur, dass an Jesu Zuneigung, ja Liebe zu dem reichen Jüngling kein Zweifel ist. Auch in der erkennbaren Inkonsequenz seines Weges bleibt ihm Jesu Liebe erhalten.

Über Nachfolge zu reden, ist noch aus einem zweiten Grund schwer. Von Anfang an, schon seit dem neutestamentlichen Gebrauch des Wortes, begegnet ein engeres und ein weiteres Verständnis von Nachfolge. Ulrich Luz hat das, auf der Grundlage seines großartigen Matthäuskommentars, im neutestamentlichen Teil des Artikels über Nachfolge in der Theologischen Realenzyklopädie für mein Verständnis bündig und eindrucksvoll dargestellt (vgl. Ulrich Luz, Nachfolge, in: TRE 23, 678 ff.). Im engeren Sinn bezeichnet Nachfolge die Lebensform des unmittelbaren Jüngerkreises Jesu, der Frauen und Männer, die mit ihm durch Galiläa zogen und ihn auf dem Weg nach Jerusalem begleiteten. „Wanderradikalismus“, so der Ausdruck von Gerd Theißen, prägte ihre Existenz. Armut und Familienlosigkeit, der Auftrag zur Verkündigung des Evangeliums und der Auftrag zum Heilen bestimmen diese Lebensform. Aber schon in den Evangelien selbst begegnet auch eine weitere Verwendung von „Nachfolge“. Nun bezeichnet das Wort die Existenzweise aller Christinnen und Christen, auch der sesshaften, der bürgerlich Behausten. Für die neutestamentliche Briefliteratur gilt das erst recht und in wachsendem Maß; sie ist im übrigen dadurch geprägt, dass akolouthein, nachfolgen, in der terminologisch geprägten Bedeutung der Evangelien in der gesamten Briefliteratur des Neuen Testaments gar nicht auftaucht. Hier vollzieht sich vielmehr bereits der Übergang von der Nachfolge zur Nachahmung. Bereits bei Paulus begegnet gelegentlich ‚Mimesis’. Und daraus entwickelt sich dann der große Weg, der die Imitatio Christi an die Stelle der Nachfolge treten lässt.

Entsprechend zwiespältig ist die aktuelle Anknüpfung an den Begriff der Nachfolge. Bezeichnet das Wort im einen Fall, im Anschluss an die Tradition des engeren Begriffs der Nachfolge, eine radikale, monastisch oder kommunitär geprägte christliche Lebensform, so im andern Fall in größerer Weite und Unbestimmtheit die christliche Existenzweise in ihrer Pluralität. Während wir also im einen Fall die Gegenwartsbedeutung von Lebensformen zu bedenken hätten, die ganz und gar dem Lob Gottes und dem Dienst am Nächsten gewidmet sind, die deshalb auch kommunitäre Gestalt annehmen und durch Armut und Familienlosigkeit gekennzeichnet sind, wäre im anderen Fall der Frage nachzugehen, wie in der Vielfalt christlicher Existenzweisen die Eindeutigkeit des Evangeliums überhaupt zur Geltung kommt. Insgesamt fällt mir freilich auf, dass in der gegenwärtigen Diskussion Fragen dieser Art nur vergleichsweise selten unter dem Leitbegriff der Nachfolge diskutiert werden.

Und Dietrich Bonhoeffer? Zu seinen großen Verdiensten gehört  ohne jeden Zweifel die Rehabilitierung des Begriffs der Nachfolge in der evangelischen Theologie. Das war nicht leicht. Da Luther zu seiner Zeit keine Nachfolge-Theologie, sondern allenfalls eine Imitatio-Theologie vorgefunden hatte, sah er sich vor der Notwendigkeit, mit ihr einen klaren Bruch zu vollziehen. Den Glauben bestimmte er als einen Vorgang, der sich im Innern des Menschen vollzog und der damit nicht an bestimmten äußeren Vollzügen oder Riten aufweisbar war. Und die Werke, die dem Glauben folgten, ordnete er nicht in einer Zwei-Stufen-Ethik unterschiedlichen Lebensformen zu, von denen die eine in höherem Maß eine Nachfolge-Ethik hätte genannt werden können als die andere. Das Verständnis von Glauben als Vertrauen und die Abwehr einer Zwei-Stufen-Ethik hatten aber zugleich die Folge, dass die Nachfolge kein zentrales Thema evangelischer Theologie wurde. Die Gegenbewegung des frühen Pietismus bildete einen ersten und wichtigen Korrekturversuch. Von ihm unterschied sich Bonhoeffers Versuch aber dadurch, dass er nicht als Gegenbewegung, sondern als radikale Fortsetzung des reformatorischen Ansatzes auftrat. Nicht eine Ergänzung der Rechtfertigungslehre, sondern deren konsequente Auslegung war sein Ziel. Nicht eine Ergänzung der Gnadenlehre durch eine Lehre von der Heiligung, sondern die Überwindung einer Lehre von der billigen Gnade um der Gnade Gottes selber willen war sein Thema.

Aber auch Bonhoeffer formuliert sein Konzept der Nachfolge in der Ambivalenz zwischen dem engeren und dem weiteren Sinn dieses Wortes. Einerseits deutet er den Ruf in die Nachfolge als einen Ruf Jesu in die „konkrete Situation, in der ihm geglaubt werden soll“. Andererseits deutet er ihn als einen Ruf zum Bruch mit allem, was den Menschen an diese Welt bindet: Familie, Volk, Geschichte, Natur. Alle natürlichen Bande muss der Glaubende ablegen, um sich in radikalem Gehorsam gegenüber Gott neu zu entdecken.

Bonhoeffer hat diese innere Ambivalenz seines Buches über Nachfolge durchaus gespürt. Im späteren Rückblick gewann er den Eindruck, sein Buch Nachfolge stehe am Ende eines Weges, auf dem er „glauben lernen“ wollte, indem er, so wörtlich, „selbst so etwas wie ein heiliges Leben zu führen versuchte“. Davon nahm er Abschied, als er die „tiefe Diesseitigkeit des Glaubens kennen und verstehen“ lernte. Mehr und mehr sei dies in den letzten Jahren der Fall gewesen, so bekennt er in dem berühmten Brief an Eberhard Bethge vom 21. Juli 1944, vom Tag nach dem Scheitern des Attentats auf Hitler. Die Entgegensetzung von Diesseitigkeit und Heiligkeit wird in diesem – bekannten und so häufig zitierten – Brief folgendermaßen erläutert: „Nicht ein homo religiosus, sondern ein Mensch schlechthin ist der Christ, wie Jesus ... Mensch war. Nicht die platte und banale Diesseitigkeit der Aufgeklärten, der Betriebsamen, der Bequemen oder der Lasziven, sondern die tiefe Diesseitigkeit, die voller Zucht ist, und in der die Erkenntnis des Todes und der Auferstehung immer gegenwärtig ist, meine ich. ...“ Und dann folgt die berühmte Stelle, die sie wahrscheinlich alle im Kopf haben: „Ich erinnere mich eines Gespräches, das ich vor 13 Jahren in Amerika mit einem französischen jungen Pfarrer hatte. (Er meint Jean Laserre.) Wir hatten uns ganz einfach die Frage gestellt, was wir mit unserem Leben eigentlich wollten. Da sagte er: ich möchte ein Heiliger werden ( – und ich halte es für möglich, dass er es geworden ist – ); das beeindruckte mich damals sehr. Trotzdem widersprach ich ihm und sagte ungefähr: ich möchte glauben lernen. ... Später erfuhr ich und ich erfahre es bis zur Stunde, dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen – sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann (eine sogenannte priesterliche Gestalt), einen Gerechten oder einen Ungerechten, einen Kranken oder Gesunden – und dies nenne ich Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben, – dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane, und ich denke, das ist Glaube, das ist metanoia und so wird man ein Mensch, ein Christ.“

Auf seinen ersten Aufenthalt in den USA im Jahr 1930/31 weist Bonhoeffer damit zurück, auf jene Zeit, von der er im Rückblick auch sagen konnte, in ihr sei er noch von einem „wahnsinnigen Ehrgeiz“ bestimmt gewesen – in der Zeit vor jenem Ereignis, das sein Leben „verändern, ja umwerfen“ sollte: der Begegnung mit der Bergpredigt. Es war die große Befreiung, durch die er erfuhr, „dass das Leben eines Dieners Jesu Christi der Kirche gehören muss“. Es war der Schritt, durch den ihm klar wurde, noch einmal zitiere ich, „dass ich eigentlich erst innerlich klar und wirklich aufrichtig sein würde, wenn ich mit der Bergpredigt wirklich anfinge, Ernst zu machen“. Es war die Zeit, in der Bonhoeffer die „Restauration der Kirche ... aus einer Art neuen Mönchtums“ erwartete, „das mit dem alten nur die Kompromisslosigkeit eines Lebens nach der Bergpredigt in der Nachfolge Christi gemeinsam hat“.

Doch über die so beschriebene Haltung ging Bonhoeffer nach der Finkenwalder Zeit noch einen entscheidenden Schritt hinaus. Er entdeckte Jesus in Gethsemane, die Selbstentäußerung Gottes in die Ohnmacht der Welt, als den Schlüssel zum Verständnis des Glaubens. Er lernte, in der vollen Diesseitigkeit des Lebens zu glauben. Er ließ sich auf das Inkognito des Widerstands ein. Er lernte den Blick von unten. Nun erst verstand er voll, was er damit gemeint hatte, dass er kein Heiliger werden wollte; er wollte glauben lernen.

II.
Doch was folgt daraus für das Nachdenken über Nachfolge? Was hat das Glauben in der vollen Diesseitigkeit des Lebens mit der Nachfolge zu tun. Der innere Zusammenhang erschließt sich, wenn wir einen Augenblick beim Ursprungssinn des Wortes Nachfolge stehen bleiben. Akolouthein, das griechische Wort, das die Evangelien an dieser Stelle verwenden, heißt folgen, „nachlaufen“ sagt Bonhoeffer an einer Stelle seines Buches ganz nüchtern. Die lateinische Bibel verwendet entsprechend sequi, ein lateinisches Wort, für das wahlweise auch consequi verwendet werden könnte. Nachfolge im engeren wie im weiteren Sinn hat es mit solchem consequi zu tun. Konsequentes Christsein – darauf hat mich André Birmele gesprächsweise aufmerksam gemacht –ist eine durchaus adäquate Übersetzung von Nachfolge – und zwar sowohl im engeren als auch im weiteren Sinn. Konsequentes Christsein ist gemeint und nicht nur, wie wir so oft denken, die Frage nach Konsequenzen aus dem Christsein. Konsequentes Christsein verlangt uns nicht nur ab, Konsequenzen aus dem Glauben zu ziehen und dadurch, wie es so oft heißt, unsere Glaubwürdigkeit unter Beweis zu stellen. Sondern konsequentes Christsein verlangt uns auch ab, konsequent im Glauben zu sein. Es geht nicht nur darum aufzuzeigen, wie sich das Vertrauen auf Gott in unserem Handeln bewährt; sondern es geht auch darum, das Vertrauen auf Gott selbst zu erneuern und mit anderen zu teilen. Nicht nur für die Nachfolge im engeren Sinn, die sich heute in neuen Kommunitäten auch im evangelischen Bereich zeigt, die eine große und wachsende ökumenische Ausstrahlung hat und vielleicht sogar einer der wichtigsten Bürgen für eine ökumenische Zukunft ist, geht es zuallererst darum, einem geistlichen Leben Raum zu geben, in welchem das Vertrauen auf Gott im Hören auf Gottes Wort und im Gebet erneuert wird. Sondern auch für die Nachfolge im weiteren Sinn, also für konsequentes Christsein in der Vielfalt der Gestalten christlicher Existenz, muss es darum gehen, der Sehnsucht der Seele nach Einkehr bei Gott, dem Lob Gottes für die Gabe und die Gaben des Lebens wie dem Bekenntnis der Schuld und der Bitte um Vergebung so Raum zu geben, dass all dies den Alltag zu bestimmen vermag. Im Glauben konsequent zu sein ist eine unerlässliche Voraussetzung dafür, aus Glauben konsequent zu sein. Man wird nie vergessen dürfen, dass Bonhoeffers Buch über die Nachfolge und sein Buch über das Gemeinsame Leben nicht nur biographisch, sondern auch grundsätzlich zusammen gehören und zusammen gelesen werden sollten.

Von dieser Frage nach der Konsequenz im Glauben aus wird es dann freilich auch darum gehen, die Konsequenzen aus dem Glauben zu formulieren und zu leben. Freilich wird es nicht genügen, diese Konsequenzen als Forderungen an andere zu formulieren – sei es beispielsweise, und darin haben wir ja eine starke Tradition, in der Gestalt einer allgemeinen Gesellschaftskritik oder in der Form von politischen Postulaten. Konsequenzen dieser Art sind vielmehr nur dann Konsequenzen aus Glauben, wenn sie zuvörderst an uns selbst gerichtet sind und sich erst von hier aus auch an andere richten. Deshalb muss beispielsweise eine im christlichen Namen formulierte Gewaltkritik immer zuallererst eine Kritik an der christlichen Legitimation der Gewalt sein, bevor sie sich der Rechtfertigung von Gewalt in anderen Religionen und der notwendigen Kritik an ihr zuwendet. Das habe ich übrigens schon gesagt, bevor ich die Vorlesung von Papst Benedikt XVI in Regensburg gelesen habe. Und die Beschreibung von Grundlinien gesellschaftlicher Verantwortung muss immer auf die Frage bezogen sein, wie Christen in ihrem Beruf – im durchaus lutherischen Sinn dieses Wortes – und wie die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden selber zu dieser gesellschaftlichen Verantwortung beizutragen gedenken. Deshalb müssen solche Konsequenzen in eins damit, dass sie das gesellschaftliche Zusammenleben zum Thema machen, auch immer auf den Auftrag und die Gestalt der Kirche selbst bezogen sein. Die Gleichgültigkeit gegenüber der Frage nach der Kirche als der Gemeinschaft der Glaubenden, die institutionelle Form annimmt, dürfen wir vor allem deshalb nicht einfach weiterführen, weil wir damit einer ganz entscheidenden Frage ausweichen. Die Frage richtet sich darauf, aus welcher Lebensform heraus wir selbst eigentlich unsere hohen Postulate an das gesellschaftliche Zusammenleben richten.

Konsequentes Christsein – so heißt mein erster Versuch, den Begriff der Nachfolge ins Heute zu übertragen. Wenn ich auf Dietrich Bonhoeffer höre und seinem Gedanken folge, dass er mit dem Buch Nachfolge an eine Grenze gestoßen sei, die er in der Folgezeit dann doch überschritten habe, dann führt mich das zugleich aber noch auf einen anderen Weg. Mir fällt auf, dass Bonhoeffer in der Folgezeit nach dem Buch über Nachfolge unter dem Begriff der Freiheit das beschreibt, was er zuvor unter dem Begriff der Nachfolge zum Thema gemacht hatte. Ohne das jetzt in einzelnen Schritten nachzuzeichnen, wozu beispielsweise eine Deutung des Begriffs der Freiheit in Bonhoeffers Ethik – nämlich in ihrer Bedeutung für die „Strukturen des verantwortlichen Lebens“ – gehören würde, verdeutliche ich diesen Eindruck jetzt nur an einem einzigen Text, nämlich an dem Gedicht Stationen auf dem Wege zur Freiheit, das Dietrich Bonhoeffer im Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis in Berlin-Tegel zu Papier brachte.

Zunächst erscheint dieser Gedanke – der Gedanke nämlich, der Begriff der Nachfolge transformiere sich in den der Freiheit – als wenig plausibel. Zu politisch ist der Begriff der Freiheit, so wird man einwenden, angesetzt. Er wird eingezeichnet in die Resistenz gegen die Rechtsbeugung durch das Naziregime. In dieser Ausrichtung, und das macht die Sache noch fremder, ja gefährlicher, verbindet Bonhoeffer – und das geschieht bereits in dem Gefängnisgedicht Nächtliche Stimmen – den Begriff der Freiheit mit dem der Ehre. So heißt es in diesem Gedicht: „Doch wenn uns jetzt Freiheit und Ehre geraubt, / vor Menschen erheben wir stolz unser Haupt.“
Damit können wir schwer umgehen. Das verbietet eigentlich den Gedanken, Nachfolge und Freiheit zusammen zu bringen. Denn der Begriff der Ehre jedenfalls hat für uns heute etwas merkwürdig Abständiges; ja manchen klingt er geradezu abgeschmackt. In den Texten Bonhoeffers richtet sich der Begriff der Ehre jedoch auf ein Verhalten, welches des Menschen würdig ist; ehrlos dagegen ist ein Handeln, in dem ein Mensch mit der Würde des anderen zugleich auch seine eigene Würde preisgibt. Freiheit aber macht den Kern dieser Würde aus; indem er den Weg der Freiheit lernt und diesen Weg geht, ist der Mensch unterwegs zu seiner eigenen Menschlichkeit. Indem er die Freiheit des anderen achtet und schützt, gibt er zu erkennen, dass die Würde des anderen ihm genauso wichtig ist wie die eigene. So erkläre ich mir die Verbindung von Freiheit und Ehre, die sich bei Dietrich Bonhoeffer findet. Und so betrachtet, überzeugt sie mich sehr.

Bei Bonhoeffer tritt ein weiteres Motiv hinzu. Es hat damit zu tun, dass die Freiheit gelernt werden muss. Daraus entsteht das Bild von den Stationen, an denen der Lernweg der Freiheit vorbeiführt. Sie werden in dem Gedicht geschildert, das diesen Titel trägt: Stationen auf dem Wege zur Freiheit. Es ist das sechste der zehn Gedichte, die uns von Dietrich Bonhoeffer aus der Zeit der Haft überliefert sind und in dem wunderbaren, neuen Band von Jürgen Henkys uns in einer so eindrücklichen Weise erschlossen werden. Die Reinschrift dieses Gedichts stammt wahrscheinlich vom 14. August 1944. Offenkundig handelt es sich bei dem Gedicht um einen Spiegel der inneren, qualvollen Auseinandersetzung, die mit dem Scheitern des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 verbunden war.
Zucht, Tat, Leiden, Tod: so heißen die vier Stationen auf dem Lernweg der Freiheit, die Bonhoeffer schildert. Den Gedankengang zu diesen vier Stichworten fasst er in einer Skizze für das Gedicht so zusammen:

„Zucht  1. Lerne dich selbst beherrschen
Tat 2. Lerne handeln. Das Wirkliche ergreifen, nicht im Möglichen schweben
Leiden 3. Lerne leiden – in andere Hände legen
Tod 4. Lerne sterben. Höchstes Fest auf dem Wege der Freiheit“

Bonhoeffers Gedicht ist ebenso befremdlich wie bemerkenswert. Denn ebenso befremdlich wie die Verbindung von Freiheit und Ehre, auf die ich schon zu sprechen kam, ist die Verbindung von Freiheit und Zucht. Selbstdisziplin würden wir heute eher dazu sagen. Aber im Verhältnis zur Freiheit würden wir heute, oder würden viele heute, in solcher Selbstdisziplin doch im günstigsten Fall eine Sekundärtugend sehen. Dass aber der Gebrauch der Freiheit überhaupt Tugenden voraussetzt, dass er an die Übung der Selbstdisziplin gebunden ist, dass Selbstbeherrschung die Freiheit nicht einschränkt, sondern ihren Gebrauch möglich macht, das alles klingt zunächst altmodisch und überholt. Und es mag jetzt manchem so erscheinen, als würde ich mit dem Übergang vom Begriff der Nachfolge zum Begriff der Freiheit in einen noch altmodischeren, abständigeren Gedankenzusammenhang hineingeraten, als der Begriff der Nachfolge selber nahe legt. Es fällt vielen schwer einzusehen, dass große Vorbilder des Widerstands um der Freiheit willen sich an derart altmodische Vorstellungen gehalten haben.

Aber vielleicht steckt in dieser Verknüpfung von Freiheit und Zucht, von Freiheit und Selbstbeherrschung sogar eine Wahrheit, die es neu zu entdecken gilt. Wenn Freiheit nicht nur die Lizenz zum Lebensgenuss erteilen, sondern eine auf Dauer verlässliche Lebensform darstellen soll, dann schließt diese Lebensform auch die Bereitschaft zum Verzicht ein. Wer seine Freiheitsmöglichkeiten in einer bestimmten Weise gebrauchen will, kann das nur, wenn er auf andere Möglichkeiten, diese Freiheit auszuleben, verzichtet. Das steht hinter Bonhoeffers vor allem wegen ihrer Ausschließlichkeit zunächst so fremd wirkenden Worten: „Niemand erfährt das Geheimnis der Freiheit, es sei denn durch Zucht.“

Leichter nachvollziehbar ist der nächste Schritt auf dem Lernweg der Freiheit, den Bonhoeffer beschreibt: der Schritt der Tat. In der ausgearbeiteten Form des Gedichts hat die mit Tat überschriebene Strophe folgenden Wortlaut:

„Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen,
nicht im Möglichen schweben, sondern das Wirkliche tapfer ergreifen,
nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit.
Tritt aus ängstlichem Zögern heraus in den Sturm des Geschehens
nur von Gottes Gebot und deinem Glauben getragen,
und die Freiheit wird deinen Geist jauchzend umfangen.“

Auch diese Station der Tat spitzt Bonhoeffer durch die Formulierung eines Ausschließlichkeitsanspruchs in schroffer Weise zu: „Nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit.“ Tat bedeutet dabei, so ergibt sich aus anderen Texten Bonhoeffers, nicht ein beliebiges Tun, sondern dasjenige Tun, das der Zukunft zugewandt und an der Frage orientiert ist, wie „eine künftige Generation leben kann“. Es war genau diese Frage, die Bonhoeffer, den Pazifisten, in den Widerstand gegen Hitler führte. Dadurch war er, wenn auch nur indirekt, an Überlegungen zur gewaltsamen Beseitigung des Diktators beteiligt. Er, der jede Tötung eines anderen Menschen für schuldhaft hielt, sah sich vor die Frage gestellt, ob es Situationen gibt, in denen verantwortliches Handeln nur noch möglich ist, indem man zur Schuldübernahme bereit ist. Bonhoeffer bejahte diese Frage und nahm die Konsequenz daraus auf sich. Diesen Schritt in die Schuldübernahme aus Verantwortung muss man im Sinn haben, wenn man hört, dass Freiheit nicht darin besteht, im Möglichen zu schweben, sondern das Wirkliche tapfer zu ergreifen.

Mit seinem Eintritt in die Konspiration gegen Hitler begab Bonhoeffer sich weit aus dem Binnenbereich des christlichen Glaubens und der kirchlichen Tätigkeiten hinaus. Er trat hinein in das Inkognito der Verschwörung. Er übte sich in „allen Künsten der Verstellung“. Doch der Versuch, „das Wirkliche tapfer zu ergreifen“, führte in die Erfahrung des Scheiterns. Sie wurde für Bonhoeffer unwiderruflich manifest im Misslingen des Attentats vom 20. Juli 1944.  Indem er diese Erfahrung unter der Überschrift der Freiheit und eines Lernschritts auf dem Weg zur Freiheit interpretiert, so will ich plausibel machen, interpretiert er diese Erfahrung als Schritt auf dem Weg der Nachfolge. Aber diese Nachfolge vollzieht sich, wenn man es so ausdrücken will, im Inkognito der Freiheit.

Bonhoeffer reagiert auf diesen Schock des Misslingens nicht mit einer Preisgabe der Freiheitshoffnung, sondern mit einem weiteren Schritt des Lernens auf dem Weg der Freiheit. Denn es ist nicht ins Belieben gestellt, ob man sich der Freiheit verpflichtet weiß, die allein jedem Menschen seine Würde gibt und belässt. Den Weg der Freiheit zu gehen, ist vielmehr eine unmittelbare Verpflichtung für den, der sich von Gottes Gebot und von seinem Glauben tragen lässt. Auch wenn die Tat der Freiheit misslingt und der Kampf für die Freiheit abbricht, ist das Lernen der Freiheit doch nicht am Ende. In Vorwegnahme des eigenen Todes sagt Bonhoeffer deshalb in der Skizze zu seinem Freiheits-Gedicht: „Was Freiheit ist, lernst du erst jenseits des Todes.“

Der Weg der Freiheit, so soll damit gesagt sein, hört nicht auf, wenn die Möglichkeiten der Tat an ein Ende kommen. Vielmehr stehen Leiden und Tod nicht im Gegensatz zur Freiheit, sondern bilden selbst Stationen auf dem Lernweg der Freiheit. Das Leiden ist eine tägliche Erfahrung des Inhaftierten. Der Tod steht ihm vor Augen, seit die Hoffnung auf den Sturz des Diktators so bitter enttäuscht wurde. Nachdem die Möglichkeiten, der Freiheit im Handeln zu entsprechen, an eine Grenze gekommen sind, nimmt der Lernweg der Freiheit Züge der Mystik an. Angesichts der äußeren Unfreiheit, die zu beenden nicht mehr in der eigenen Macht steht, bietet nur die Freiheit eine Zuflucht, die Gott gewährt, indem er auf die Seite des Leidenden tritt und so eine Zuversicht der Freiheit weckt, die über den Tod hinaus Bestand behält. Auch wer nicht „im Möglichen schweben“, sondern „das Wirkliche tapfer ergreifen“ will, steht vor der Frage, wie es um die Freiheit steht, wenn unsere Möglichkeiten, die Wirklichkeit gestaltend zu verändern, an ein Ende gekommen sind. Dass damit nicht die Freiheit ein Ende findet, ist die Hoffnung, in die Bonhoeffers Gedicht mündet.

„Freiheit, dich suchten wir lange in Zucht und in Tat und in Leiden.
Sterbend erkennen wir nun im Angesicht Gottes dich selbst.“

III.
Der Eindruck, dass sich bei Bonhoeffer eine Transformation des Begriffs der Nachfolge in den Begriff der Freiheit vollzieht, ermutigt mich zu dem Versuch, die Frage nach konsequentem Christsein heute in der Form aufzunehmen, dass ich nach einer konsequenten Gestalt christlicher Freiheit frage. Genauer frage ich danach, wie ein evangelisches Verständnis christlicher Freiheit heute einen wenn nicht konsequenten, so doch konsequenteren Ausdruck finden kann. Ich knüpfe dabei an Überlegungen an, die Eberhard Jüngel 1992 bei der Europäischen Evangelischen Versammlung in Budapest vorgetragen hat; ich habe diese Überlegungen weiterzuführen versucht, als ich vor der 6. Vollversammlung der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa – der Leuenberger Kirchengemeinschaft – wieder in Budapest Überlegungen über die evangelische Gestalt des christlichen Glaubens zu entwickeln hatte. Unter dieser Leitfrage nach einer konsequenteren Gestalt evangelischer Freiheit will ich fünf Grundzüge hervorheben, die mir besonders wichtig sind. 

Evangelisches Glaubensverständnis hat seine Mitte darin, dass Jesus Christus die über Leben und Tod entscheidende Wahrheit ist. Darin liegt der erste Grundzug, den ich hervorheben will. Man sollte sich in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass Dietrich Bonhoeffer mit großem Nachdruck sagt, dass über Nachfolge nachzudenken überhaupt nur möglich ist, wenn diese Nachfolge sich auf die Person Jesu Christi richtet. Dagegen kann, wie er sehr schroff sagt, bei einem Gottesverständnis, dass auf Gott den Vater reduziert ist, als Entsprechung nur Gottvertrauen, aber niemals Nachfolge herauskommen. Auch bei jeder Transformation von Bonhoeffers Gedanken, davon bin ich überzeugt, muss diese Zentralität Jesu Christi unser Nachdenken bestimmen.

Zu deren Kraft, zu der Kraft der Wahrheit, die in Jesus Christus über Leben und Tod entscheidet, bekennt sich das Johannesevangelium mit der Aussage: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“ (Johannes 8, 32). Evangelisches Christsein orientiert sich also an der Wahrheit, die Jesus Christus in Person ist. Weil er die Wahrheit ist, ist er der Herr der christlichen Existenz ebenso wie der Herr der Kirche. In diesem sehr präzisen Sinn bekennt sich eine evangelische Kirche zum kyrios Iesous, zum Dominus Iesus. Das Bekenntnis zu dieser Wahrheit markiert nicht nur den Unterschied zwischen Kirche und Welt, sondern ebenso auch die Unterscheidung zwischen Christus, der diese Wahrheit ist, und der Kirche, die dieser Wahrheit dient. Deshalb ist es im evangelischen Sinn ein Ausdruck konsequenten Christseins, die Kirche nicht mit dem Reich Gottes zu verwechseln – wie keine Kirche mit dem Reich Gottes verwechselt und kein Stellvertreter Christi selbst an Christi Statt gerückt werden sollte. Im evangelischen Sinn gilt von der Kirche vielmehr, dass sie die Rechtfertigung allein aus Gnade nicht nur verkündet, sondern ihrer auch bedarf. Und sie erinnert sich immer wieder daran, dass es in dem Sendungswort Jesu Christi am Ende des Matthäusevangeliums nicht um die Kirche geht, sondern um unsere Mitmenschen.

Diese Wahrheit wird – das ist der zweite Grundzug – als befreiende Macht erfahren. Sie befreit aus der Lebenslüge, als könnten wir unser Leben selbst herstellen und dessen Sinn selbst produzieren. Sie befreit zu der Einsicht, dass der Mensch mehr ist, als wir im Bild des homo faber, des sich und seine Welt selbst erschaffenden Menschen denken. Der Mensch ist mehr, als er selbst aus sich macht. Er ist deshalb weder mit seinen Taten noch mit seinen Untaten identisch. Er ist das Lebewesen, das beständig über sich selbst hinausweist. Er ist von der Hoffnung getragen, dass er, indem er sich selbst übersteigt, nicht nur auf sich selber trifft. Darin, dass er von Gott in Jesus Christus geliebt und anerkannt ist, findet er die Wahrheit wie den Frieden seines Lebens.

Indem Gottes Wahrheit uns – das ist der dritte Grundzug – in dem Menschen Jesus von Nazareth begegnet, indem Gott uns in Jesus sein menschliches Antlitz zuwendet, tritt uns die Berufung zum Menschsein entgegen. Von Gott wird jede und jeder als menschlicher Mensch angesprochen, als eine von Gott definitiv anerkannte und mit einer unverlierbaren Würde begabte Person. Die Würde, die jedem Menschen zukommt, kann, so hat Eberhardt Jüngel sich an der zitierten Stelle ausgedrückt, „durch keine menschliche Tat überboten und durch keine menschliche Untat zerstört werden“. Weil es sich so verhält, kommt diese Würde nicht nur der Menschheit als Gattung, sondern in unantastbarer Weise jedem einzelnen Menschen zu. Die darin begründete Hochschätzung des einzelnen Menschen bringt evangelischer Glaube ins Gespräch der Gegenwart ein. Sie ist von Gewicht sowohl im Gespräch der christlichen Konfessionen, in dem durchaus auch im christlichen Namen die These vertreten wird, die Würde des Menschen käme nur der Gattung, aber keineswegs jedem Individuum in gleicher Weise zu, wie dieser Gesichtspunkt natürlich ebenso wichtig ist im Gespräch mit dem Islam und anderen religiösen Überzeugungen. Freilich ist diese Hochschätzung des einzelnen Menschen, der in seiner Einmaligkeit von Gott geliebt und anerkannt ist, grundsätzlich wie praktisch deutlich zu unterscheiden von einem Individualismus, der ja gerade von der Vorstellung geprägt ist, jeder Mensch sei der Herr des eigenen Lebens und in sofern auch nur sich selbst verantwortlich.

Die protestantische Hochschätzung menschlicher Verantwortung und menschlicher Leistung gründet nicht in der Vorstellung, sich durch Eigenverantwortung selbst produzieren oder durch eigene Leistung selbst sichern zu können. Sie gründet vielmehr – und das ist der vierte Grundzug – in dem Dank für die uns anvertrauten Gaben, von denen wir in Freiheit einen verantwortlichen Gebrauch machen können. Evangelische Ethik ist eine Ethik der Dankbarkeit und darin zugleich eine Ethik verantworteter Freiheit. Sie drängt deshalb auf Lebensformen, in denen beides Raum finden kann: Dankbarkeit und verantwortete Freiheit. Dankbarkeit drängt auf das Gotteslob und braucht deshalb einen Raum der persönlichen Glaubensfreiheit wie der gemeinschaftlichen Religionsfreiheit, in dem dieses Gotteslob laut werden kann. Dieses Gotteslob braucht aber auch geprägte Formen und eine gelebte Spiritualität, in der dieser Dank an Gott für die geschenkten Gaben unseres Lebens zum Ausdruck kommt. Verantwortete Freiheit drängt auf eine Gestalt der Gesellschaft, in der gerechte Teilhabe möglich ist. Dass sich alle an der Gestaltung des gemeinsamen Geschicks beteiligen können, ist ein Grundimpuls des evangelischen Glaubens. Die Verbürgung von Grundfreiheiten und die Ermöglichung von demokratischer Mitwirkung liegen genauso in der Richtung dieses Grundimpulses wie die Ermöglichung von wirtschaftlicher Teilhabe in einer Gesellschaft, in der für Gerechtigkeit und Solidarität Raum ist. In all dem und über all dem bilden der Respekt für die Integrität des anderen Menschen und damit der Verzicht auf Gewalt sowie eine tragfähige Gestalt des gemeinsamen Lebens – also der Frieden unter den Menschen und die Bewahrung der Natur – den unerlässlichen Horizont verantworteter Freiheit.

Eine Kirche, die aus der befreienden Wahrheit lebt, die in Jesus Christus als Person begegnet, ist eine Kirche der Freiheit. Das ist der fünfte und letzte Grundzug, den ich heute hervorheben möchte. Die Kirche der Freiheit ist dadurch geprägt, dass das Gotteslob, das der ganzen Gemeinde anvertraut ist, in Freiheit erklingt. Die Taufe ist die Ordination zu diesem Gotteslob; Frauen und Männer haben an ihm Anteil; die Gemeinde und das ordinierte Amt sind an ihm in gleicher Weise beteiligt. Kirche der Freiheit ist sie, weil sie sich den Herausforderungen ihrer jeweiligen Zeit stellt und ihre Antworten auf die Fragen der Zeit vor der Botschaft der Heiligen Schrift verantwortet. Kirche der Freiheit ist sie, weil sie jeden Getauften dazu befähigen möchte, seinen Glauben zu verantworten und Rechenschaft abzulegen von der Hoffnung, die in ihm ist. Verantwortete Freiheit ist nicht nur der Grundzug evangelischer Existenz in der Welt, sie bestimmt zugleich das Profil einer evangelischen Kirche. Wir haben deshalb in der Evangelischen Kirche in Deutschland den kirchlichen Reformprozess, den wir angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen in Gang bringen wollen und zu dem wir gerade ein Impulspapier veröffentlicht haben, unter den Leitbegriff der Kirche der Freiheit gestellt. In diesem Impulspapier treten wir für einen kirchlichen Mentalitätswandel ein, der durch vier Kennzeichen geprägt ist: Geistliche Profilierung statt undeutlicher Aktivität; Schwerpunktsetzung statt Vollständigkeit; Beweglichkeit in den Formen statt Klammern an Strukturen; Außenorientierung statt Selbstgenügsamkeit.

Ein solcher Prozess ist darauf ausgerichtet, dass das Evangelium der Freiheit die Menschen erreichen kann, dass die Botschaft von Gottes freier Gnade wirklich an alles Volk ausgerichtet wird und dass wir die Barrieren abbauen, die wir als Kirche selbst dieser Botschaft in den Weg stellen. Sie erinnern sich wahrscheinlich an die Stelle im Abschnitt über Wegbereitung in Bonhoeffers Ethik, in der er den Aufbau solcher Barrieren durch die Kirche selber beschreibt und das Abtragen dieser Barrieren als eine Form von Wegbereitung vor Augen stellt. Es gibt insofern eine unmittelbare Brücke von Bonhoeffers Überlegungen über Wegbereitung zu den Intentionen des Reformprozesses, den wir mit dem Impulspapier Kirche der Freiheit. Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert einleiten wollen. 

IV.
Die Frage nach konsequentem Christsein in der Form aufzunehmen, dass ich mit Bonhoeffer nach Stationen auf dem Weg zur Freiheit frage, legt sich mir, das habe ich schon angedeutet, auch deshalb nahe, weil Sinn und Gestalt der Freiheit heute aufs äußerste umstritten sind. Zu Recht stößt der pure Freiheits-Individualismus, der die letzten Jahrzehnte in Deutschland weithin geprägt hat, auf eine wachsende Skepsis. Gewiss war der Begriff der Individualisierung, der als Signum dieser Epoche gilt, zunächst diagnostisch gemeint. Je pluraler die Lebensbedingungen werden, desto stärker muss das einzelne Individuum seine Lebensumstände selbst wählen und seine Lebensorientierung selbst finden. Doch dieser Ton der Beschreibung wurde bald normativ verstärkt.

Am deutlichsten geschah das durch den Begriff der Eigenverantwortung oder der Selbstverantwortung, der inzwischen sogar zu einem sozialpolitischen Leitbegriff geworden ist. Der Begriff der Freiheit wird dabei so umgedeutet, dass jedem selbst überlassen wird, ob er im Stande ist, für sein Leben die nötige Verantwortung zu übernehmen. Dabei wissen wir alle, dass wir zur Freiheit nur fähig sind, weil zunächst andere sich für uns verantwortlich wussten. Denn das ist die elementarste Voraussetzung dafür, dass Menschen ins Leben kommen und aufwachsen können. Heute tritt uns auch wieder verstärkt ins Bewusstsein, dass wir in der Phase des hohen Alters darauf angewiesen sind, dass andere für uns sorgen und sich für uns verantwortlich wissen. Wir entdecken ja plötzlich den ursprünglichen Sinn des Vierten Gebots wieder, das in unserem Konfirmandenunterricht so schmählich missbraucht worden war. Wechselseitige Verantwortung prägt das Leben der Menschen; nur auf ihrer Grundlage kann sich individuelle Freiheit entfalten. Es ist überfällig, ein verbreitetes individualistisches Gesellschaftsbild wieder so zurechtzurücken, dass diese wechselseitige Verantwortung den gebührenden Platz erhält.

Dem muss ein zweiter Gedanke zur Seite treten. Dass Menschen für sich selbst Verantwortung tragen und dadurch auch die Kraft entwickeln können, für andere Verantwortung wahrzunehmen, hat zur Voraussetzung, dass sie faire Möglichkeiten zur Teilnahme an der Gesellschaft haben. Nur wer seine Arbeit einbringen kann, vermag von seiner Arbeit auch zu leben. In einer nach wie vor skandalös hohen Langzeitarbeitslosigkeit meldet sich deshalb ein elementares Gerechtigkeitsproblem, nämlich ein eklatanter Mangel an Beteiligungsgerechtigkeit. Dass dieser Mangel behoben wird, bildet eine unumgängliche Voraussetzung dafür, dass Verantwortung für das eigene Leben wie die Fähigkeit zum Eintreten für andere eine breitere Basis gewinnen.

Schließlich ist auf die neue Suche nach gesellschaftlicher Orientierung und tragfähigen gesellschaftlichen Werten zu verweisen. Verstärkt fragen wir heute, wie Freiheit zur Grundlage einer verantworteten Lebensform werden kann. Gerade junge Menschen halten danach Ausschau, wie ihr Leben aus Freiheit eine verbindliche Form annehmen kann. Von einer Kultur der Freiheit ist neuerdings die Rede, um diesen Zusammenhang zwischen dem Wert der Freiheit und der Suche nach einer ihr entsprechenden und sie tragenden Lebensform zu beschreiben. Wenn nicht alles täuscht, treten wir im Nachdenken über die Freiheit in eine neue Phase ein. Dabei können die Stationen auf dem Wege zur Freiheit ein hilfreicher Anstoß sein. 

Die unbezweifelbare Tatsache, dass von uns heute weniger Mut erfordert ist, um dem Ungeist von Rassismus und Antisemitismus entgegenzutreten, sollte uns nicht für die Tatsache blind machen, dass es solchen Ungeist auch heute gibt. Gewiss erforderte die Konfrontation mit dem nationalsozialistischen Unrechtsregime andere Verhaltensweisen als die Auseinandersetzung um die Bewahrung der Bedingungen, die ein freiheitlich-demokratisches Gemeinwesen auszeichnen und möglich machen. Aber auch diese Bedingungen sind nicht selbstverständlich gegeben. Auch heute sind verantwortliches Handeln und Zivilcourage gefordert.

Menschen leiten ihre Verantwortung heute aus unterschiedlichen Wurzeln ab. Dazu haben sie ein gutes Recht. Viele verzichten darauf, sich über diese Wurzeln überhaupt Rechenschaft abzulegen. Das ist beunruhigend. Denn die Quellen, aus denen Freiheit und Verantwortung sich speisen, erneuern sich nicht von selbst. Wann immer wir heute nach konsequentem Christsein in unserer Gesellschaft fragen, fragen wir das nicht nur für uns selbst. Sondern wir fragen es auch im Blick darauf, ob wir das von uns zu Erwartende dazu beitragen, das die Quellen der Freiheit und Verantwortung sich erneuern. Es ist wichtig, auf solche Quellen immer wieder aufmerksam zu machen. Die Freiheit der Orientierung wird dadurch nicht eingeschränkt; sondern die Möglichkeit der Orientierung wird eröffnet.

Das war beispielsweise gemeint, wenn für die Europäische Verfassung ein klarer Hinweis auf die Verantwortung vor Gott und den Menschen ebenso vorgeschlagen wurde wie ein unmissverständlicher Hinweis auf die jüdisch-christlichen Quellen unserer Kultur. Um diese Möglichkeit verbindlicher Orientierung geht es auch, wenn darum geworben wird, die religiöse und ethische Bildung in der Schule wie auch die Auseinandersetzung mit solchen Fragen in der Universität mit einem stärkeren Gewicht zu versehen. Dem Geist Dietrich Bonhoeffers wäre das, so bin ich überzeugt, gemäß, an den ich noch einmal durch ein Zitat aus den Gefängnisbriefen erinnern möchte, das vielleicht abschließend auch erklärt, warum ich diese Transformation des Fragens nach Nachfolge und das Fragen nach Freiheit nicht als eine Säkularisierung der Nachfolge-Frage verstehe. 

„Christsein“, so heißt dieses ebenfalls sehr bekannte Zitat, „heißt nicht, in einer bestimmten Weise religiös sein, auf Grund irgendeiner Methodik etwas aus sich machen (einen Sünder, Büßer oder einen Heiligen), sondern es heißt Menschsein. Nicht einen Menschentypus, sondern den Menschen schafft Christus in uns. Nicht der religiöse Akt macht den Christen, sondern das Teilnehmen am Leiden Gottes im weltlichen Leben.“