Unvereinbare Gegensätze? Scharia und säkulares Recht

Wolfgang Huber

30. Deutscher Evangelischer Kirchentag Hannover 2005
Donnerstag, 26. Mai 2005, 11 - 13 Uhr - Convention Center, Raum 2

1.

Als christlicher Theologe habe ich am Beitrag der Religion zum Verständnis des Rechts ein ebenso vitales Interesse wie meine muslimischen Gesprächspartner. Zu den Grundlagen des christlichen Glaubens gehört das Alte Testament, das eine enge Verbindung von Religion, Ethik und Recht kennt. Das Neue Testament weiß, dass das Recht um des Wohls der Menschen willen notwendig ist, also zu der von Gott gewollten Wohlordnung  gehört. Deshalb unterstreicht schon der Apostel Paulus, dass alle staatliche Gewalt ihren letzten Ursprung im Willen und Gebot Gottes hat.

Gleichwohl kommt der staatlichen Ordnung keine unmittelbare religiöse Autorität zu. Schon die frühen Christen lehnten eine göttliche Verehrung der Kaiser ab; sie galten deshalb in der Sprache der damaligen Zeit als „Atheisten“. Den Unterschied zwischen der Sphäre des Rechts und der Sphäre des Glaubens hat schon Jesus hervorgehoben: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“.  In dieser Unterscheidung wurzelt die christliche Überzeugung, dass jede irdische Ordnung nur eine begrenzte Loyalität erwarten und fordern kann: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ 

Im christlichen Verständnis ist deshalb der weltliche Charakter der Rechtsordnung eine Glaubensaussage. Damit ist der Versuch durchaus vereinbar, bestimmte Überzeugungen, die glaubenden Menschen wichtig sind, in der Rechtsordnung zur Geltung zu bringen. Besonders wichtig ist für Christen, dass das Recht nicht im Dienst der jeweils Mächtigen, sondern im Dienst der Gerechtigkeit steht. Es dient nicht nur dem eigenen Vorteil, sondern ist auch Recht des Nächsten. Es hat die Würde des Menschen zu achten und die Unantastbarkeit seines Lebens zu schützen. Die Barmer Theologische Erklärung von 1934 hat dies für die evangelische Kirche in bündiger Form so formuliert, „dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen.“  Die Kirche misst das Handeln des Staates an dieser Aufgabe und erinnert ihn zugleich an die Grenzen seiner Autorität. Das christliche Verhältnis zum vorgefundenen Recht ist immer bejahend und kritisch zugleich.

Die These vom weltlichen Charakter des Rechts bedeutet also nicht, das Recht sei ethisch neutral. Um das Recht kann und muss gestritten werden; ethische Maßstäbe und religiöse Überzeugungen haben in diesem Streit ihren Ort. Aber dem Recht selbst eignet keine religiöse Qualität; die Befolgung des Rechts kann deshalb erwartet werden unabhängig von der Religionszugehörigkeit der Bürgerinnen und Bürger. Das so verstandene Recht bestimmt die Ordnung eines Gemeinwesens, das die Heimstatt aller Bürgerinnen und Bürger ist. Unser Rechtssystem gibt Menschen unterschiedlicher religiöser Überzeugungen ausreichend Raum, ihren Glauben persönlich und als Religionsgemeinschaft zu leben.


2.

Wie die europäische Kultur insgesamt so ist auch das europäische Recht keineswegs nur durch das Christentum geprägt. Andere Einflüsse wie griechische Wissenschaft und römische Herrschaftsordnung, die Wende zum menschlichen Ich in der Renaissance und die Orientierung an der menschlichen Vernunft in der Aufklärung sind von eigenständiger Bedeutung. Doch die Rechtsordnung, in der wir leben, ist durch die Geschichte des Christentums mitgeprägt.

Zahlreiche Grundwerte, auf denen unsere Verfassung beruht, haben ihre Wurzeln im Christentum. Die durch Gott verliehene Würde des Menschen, das Gebot der Nächstenliebe als Verpflichtung zur Solidargemeinschaft, die reformatorische Erkenntnis von der Freiheit eines Christenmenschen und die Bedeutung des Gewissens gehören zu diesem prägenden christlichen Traditionsstrom. In einem langen und durchaus schmerzhaften geschichtlichen Lernprozess, zu dem auch die Konfessionskriege der Neuzeit gehören, haben sich der Gedanke der Toleranz und die Trennung von Kirche und Staat herausgebildet. Beide Prinzipien bilden heute Grundpfeiler der Rechtssysteme der modernen europäischen Staaten, auch wenn sie jeweils unterschiedliche Ausprägungen gefunden haben.

Die Evangelische Kirche in Deutschland hat sich vor zwanzig Jahren in ihrer Denkschrift „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie“ ausdrücklich zum demokratischen Verfassungsstaat bekannt und festgestellt, dass eine demokratische Verfassung auf der Grundlage der Unterscheidung von Staat und Religion am ehesten im Stand ist, die Prinzipien von Menschenwürde, Toleranz und Religionsfreiheit zu gewährleisten.  Die im deutschen Grundgesetz verankerte Partnerschaft zwischen Staat und Religionsgemeinschaften trägt zu den Voraussetzungen dafür bei, dass gesellschaftliches Leben „in Verantwortung vor Gott und den Menschen“ gestaltet wird, wie es in der Präambel unserer Verfassung formuliert ist.

Für den Islam ist der Grundsatz entscheidend, dass Gott der einzige Gesetzgeber ist. Es gibt „keinen Gesetzgeber außer Dem Gesetzgeber.“  Das Recht ist als Teil der sozialen Ordnung bruchlos in die Religion eingefügt. Daraus ergibt sich ein Staatsverständnis, das Hans Küng mit den drei Stichworten benennt: Exklusivität, Theokratie, Militanz.  Die Scharia als die Pflichtenlehre des Islam, die auf den Quellen von Koran und Sunna beruht, enthält ein religiöses Recht, das für die staatliche Gemeinschaft unmittelbar verbindlich ist. Angesichts der Vielfalt von Lebenssituationen bedarf die Scharia freilich der Auslegung. Doch diese beruht auf einer weithin „statischen Vorstellung von der idealen Welt und der idealen Gesellschaft“. 

Der Islam kennt also keine Unterscheidung von Religion und Staat, religiösem und weltlichem Recht. Trotzdem sind auch in mehrheitlich muslimisch geprägten Staaten Verfassungen in Kraft, die zwar auf die Scharia Bezug nehmen, aber eine Mischung islamischen Rechts mit anderen, zum Teil westlichen, Rechtstraditionen darstellen. Die Forderung nach Einführung der Scharia als allein gültigem Rechtssystem wird heute vor allem von radikalen Gruppen erhoben. Die Befürchtung ist berechtigt, dass damit ein autokratischer Machtanspruch verbunden ist, der die Pluralität von Meinungen und Glaubensüberzeugen beschneidet. Ein solcher Machtanspruch steht im Widerspruch zu wesentlichen europäischen Rechtsüberzeugungen.


3.

Aus dem Recht auf Religionsfreiheit ergibt sich, dass jeder Mensch seine religiösen Überzeugungen leben und vertreten kann, sofern sie nicht mit Grundprinzipien der Verfassung kollidieren oder die Freiheiten anderer einschränken. Zur Religionsfreiheit gehört auch, dass jemand die Religion wechseln oder ohne religiöse Bindung leben kann. Religionsfreiheit umschließt sowohl die Freiheit zur Religion als auch die Freiheit von der Religion. Wer von der Religionsfreiheit Gebrauch macht, ist verpflichtet, sie auch für andere gelten zu lassen. Das nötigt nicht zu einem Verzicht auf religiöse Wahrheitsansprüche, sondern nur zu dem Verzicht darauf, sie mit Zwang und Gewalt durchzusetzen. Es ist also verfehlt, die Religionsfreiheit deshalb in Frage zu stellen, weil sie vermeintlich jede religiöse Überzeugung relativiert.

Nach der Rechtsordnung und auch nach der ganz überwiegenden gesellschaftlichen Überzeugung haben in Deutschland selbstverständlich auch Muslime an dieser Freiheit Anteil. Sie haben einen grundrechtlich geschützten Anspruch darauf, ihre Religion leben zu können, auch wenn diese in manchen Ausdrucksformen gegenüber den hiesigen kulturellen Traditionen als fremd erscheint.

Konfliktpunkte ergeben sich jedoch dann, wenn religiös begründete Überzeugungen und Verhaltensweisen mit den Menschenrechten oder anderen Verfassungsprinzipien kollidieren oder wenn von Repräsentanten des Staates religiöse Überzeugungen in einer Weise zum Ausdruck gebracht werden, die mit der Religionsneutralität des Staates in Konflikt gerät oder geraten kann; in solchen Fällen entsteht eine Pflicht zur Zurückhaltung, die nicht als eine Einschränkung der Religionsfreiheit zu verstehen ist. Wäre beispielsweise das Tragen des Kopftuchs durch muslimische Lehrerinnen von vornherein in diesem Rahmen betrachtet worden, hätte sich die in meinen Augen ungute Zuspitzung der Diskussion vermeiden lassen.

Wenn die Forderung nach der Berücksichtigung von Grundsätzen und rechtlichen Regelungen der Scharia in dem Sinne verstanden wird, dass kurz- oder langfristig islamisches Recht in Deutschland zur Anwendung kommen soll, das mit den Grundsätzen der Verfassung nicht übereinstimmt, dann ist diesen Bestrebungen eindeutig und unmissverständlich zu widersprechen. Ebenso ist ein klare Grenzziehung notwendig, wenn grundlegende Menschen- und Freiheitsrechte eingeschränkt oder sogar abgeschafft werden sollen.

Eine Unvereinbarkeit zwischen Scharia und säkularem Recht liegt nach meiner Überzeugung beispielsweise dann vor, wenn mit Berufung auf die Scharia Menschen die Freiheit verweigert oder eingeschränkt wird, ihre Religion zu wechseln oder auch keine Religion zu haben. Die Islamische Charta (des Zentralrates der Muslime in Deutschland vom Februar 2002) hat zwar die Religionsfreiheit ausdrücklich anerkannt. Es bleiben jedoch Zweifel, ob über ihr Verständnis eine gemeinsame Auffassung besteht. Mit der Tatsache, dass in islamischen Ländern der Übertritt vom Islam zum Christentum als strafbar gilt, können Christen sich um der Religionsfreiheit willen nicht abfinden.


4.

Der Islam ist die stetige Bemühung, der Rechtleitung der göttlichen Offenbarung im Koran zu folgen und das Leben entsprechend einzurichten. Glaube und Gesetz bilden eine in Gottes Weisheit begründete Einheit. Das Gesetz ist Ausdruck der Barmherzigkeit Gottes.

Auch für Christen enthält Gottes Gebot eine grundlegende Orientierung ihres Glaubens und Handelns. Doch unterscheidet der christliche Glaube zwischen Gesetz und Evangelium. Die Befolgung des Gesetzes gilt nicht als Heilsweg; für sein Heil ist der Mensch vielmehr auf Gottes grundlose Gnade angewiesen. Die Geschichte hat uns gelehrt, dass diese Unterscheidung sich auch in der Differenzierung zwischen Religion und Recht fortsetzt. Sie aber ist auch deshalb notwendig, um Tyrannei und Unfreiheit im Namen einer Religion zu verhindern. Ein Staat, der sich mit einer Religion identifiziert oder sich sogar als "Gottesstaat" versteht, privilegiert diese eine Religion und verletzt damit die Religionsfreiheit. Der Staat, der anerkennt, dass der Mensch frei und mit unantastbaren Rechten ausgestattet ist, kann ihn nicht von Staats wegen auf eine bestimmte Religion verpflichten. Es gibt ein gemeinsames Interesse daran, die Unterdrückung von Menschen wegen ihrer religiösen Überzeugung zu überwinden. Heute gehört sie aber noch in manchen islamischen Ländern zur Realität.


5.

Es gibt ein Recht auf Unterschiede, aber es gibt kein unterschiedliches Recht. Ein Staat, der grundlegende Freiheiten für alle seine Bürger garantieren will, kann es nicht hinnehmen, wenn eine religiöse Gruppe danach strebt, eigenes Recht zu etablieren und verbindlich zu machen.

Fremdes Recht kann deshalb nur im Rahmen der für alle geltenden Rechtsordnung zur Geltung kommen. Eine Grenze ist dort zu ziehen, wo die Zulassung fremden Rechtes zu Ergebnissen führt, die mit den wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts nicht vereinbar sind. Solche Grenzen sind beispielsweise bei Eingriffen in die körperliche Integrität, bei der Beeinträchtigung der Rechte von Frauen oder bei Verstößen gegen den Tierschutz in Sicht. In solchen Fällen muss das Verhältnis zwischen Toleranz und geltender Rechtsordnung geklärt werden. Wenn Verständnis eingefordert wird für „’Ehrenmorde’, ‚Zwangsverheiratung’, Freiheitsberaubung von Frauen und Mädchen, Selbstjustiz aufgrund erlittener ‚Schande’, Genitalverstümmelung“ , dann muss im vorhinein klar sein, dass ein solches Verständnis nicht möglich ist.

Gewiss können Muslime Vorschläge dafür einbringen, dass geltende rechtliche Regelungen verändert und weiter entwickelt werden. Das ist besser als die Forderung nach Sonderregelungen, der Rückzug auf soziale Inseln oder die Abschottung gegenüber der übrigen Gesellschaft. Die Diskussion über solche Vorschläge sollte vom Geist wechselseitigen Respekts bestimmt sein. Dies schließt ein, dass die jüdisch-christliche Prägung unseres Kulturkreises anerkannt wird. Ich halte das für konstruktiver, als wenn in einem abfälligen Sinn gesagt wird, Europa sei doch kein „christlicher Club“. Uns allen ist bewusst, dass eine christliche Prägung für Europa niemals in einem exklusiven Sinn in Anspruch genommen werden kann. Trotzdem sollte sie wahrgenommen werden. Denn die heute dringend notwendige Erneuerung unseres Wertebewusstseins wird ohne die Kräfte des christlichen Glaubens nicht gelingen. Das hat Konsequenzen auch für den Dialog zwischen Christen und Muslimen. Im Respekt voreinander und im offenen Gespräch über die eigenen Glaubensüberzeugungen sollten wir diesen Dialog führen – gemeinsam verpflichtet auf ein gewaltfreies Zusammenleben und auf die Wahrung des Rechts.