Vortrag bei der Konferenz „Glaube und Theologie. Reformatorische Grundeinsichten in der ökumenischen Diskussion"

Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland bei der Konferenz „Glaube und Theologie. Reformatorische Grundeinsichten in der ökumenischen Diskussion" im Rahmen des Reformationsjubiläums 2017 am 12. Oktober 2017 in Wittenberg

 

Es gilt das gesprochene Wort

Einleitung:

 

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

ich freue mich, heute als EKD-Ratsvorsitzender auf dem Evangelisch-Theologischen Fakultätentag sprechen zu dürfen. Es ist für mich auch ein bisschen ein Nach-Hause-Kommen und ein Zusammenkommen von verschiedenen Welten in denen ich jetzt lebe. Als Honorarprofessor einer deutschen und Außerplanmäßiger Professor einer ausländischen Fakultät und als Betreuer noch nicht abgeschlossener Doktorarbeiten bleibt der universitäre Kontext für mich Heimat. Meine Hauptzeit aber verbringe ich jetzt in der Arbeit für die Kirche.

Meine eigene Wirklichkeitserfahrung empfinde ich also schon als Dementi des Gegensatzes zwischen akademischer Theologie und Kirche, der im vergangenen Jahr in manchen Medienäußerungen konstruiert worden ist. Sie beruhen auf der Verallgemeinerung von einigen wenigen Aufsätzen, die sich mit dem Verhältnis von akademischer Theologie und Kirche im Reformationsjubiläumsjahr befassten und wegen ihres bewusst zuspitzenden und zuweilen auch polemischen Charakters mediale Bedürfnisse in besonderer Weise befriedigten. Ich bin sehr dankbar, dass der Eindruck, hier handele es sich um einen Konflikt zwischen der akademischen Theologie und der Kirche inzwischen überwunden ist. Dass die Kirche die kritische Begleitung der akademischen Theologie braucht, ist ebenso unbestreitbar wie die Aufgabe der Kirche, für einen institutionellen Kontext einzutreten, der der akademischen Theologie genau eine solche kritische Begleitung ermöglicht.

Weder eine reine Historisierung der Reformation wäre ein angemessener Beitrag von Kirche und Theologie zum Reformationsjubiläum noch eine Aktualisierung der Reformation, die aus ideologischen Gründen das einfach ignoriert oder bewusst verschweigt, was den eigenen Aktualisierungen historisch widerspricht. Weder kann man schlichte Brücken von der Reformationszeit in die Gegenwart schlagen und Luther, Zwingli oder Calvin kurzerhand für moderne Gedanken vereinnahmen. Noch kann man sich der Aufgabe entziehen, die Impulse der Reformation im Hinblick auf ihre heutigen Orientierungsleistungen in den Blick zu nehmen.

Heute möchte ich all denen in der akademischen Theologie danken, die sich genau dieser Aufgabe in den letzten Jahren in höchst beeindruckender Weise gestellt haben. Sie alle haben einen riesigen Anteil am Gelingen des Reformationsjubiläums. Ob es internationale Fachtagungen waren oder die zahlreichen Publikationen oder Vorträge auf allen kirchlichen Ebenen oder auch die Mitarbeit in den Kammern, Kommissionen und Ausschüssen der Landeskirchen und der EKD. Unser Protestantismus ohne Universitäten und wissenschaftliche Theologie wäre nicht er selbst. Und wie unmittelbar der Input der wissenschaftlichen Theologie in das Glaubensleben in unseren Gemeinden sein kann, haben wir an der neuen Lutherbibel 2017 erlebt, die in jahrelanger äußerst intensiver Arbeit von 70 Bibelwissenschaftlerinnen und –Wissenschaftlern entstanden ist und nun jeden Sonntag in den Kirchen und noch viel mehr an vielen andere Orten gelesen und rezitiert wird.

Wenn wir auf das Reformationsjubiläumsjahr zurückschauen und seine alle Erwartungen übertreffende öffentliche Wirkung im Herzen bewegen, dann muss das Gegenüber von Kirche und akademischer Theologie erweitert werden. Auch das Gemeinwesen insgesamt muss in den Blick kommen.

Eberhard Bethge hat einmal die Theologie seines Freundes Dietrich Bonhoeffer mit drei Begriffen charakterisiert: „Katheder, Kanzel und Rathaus“ – so Bethge - entdeckten in der Theologie Bonhoeffers „ihre unlösbare Beziehung“.[i]

Das Katheder, an dem Theologie an den Universitäten entwickelt und gelehrt wird, ist eine wichtige reflexive Grundlage für das Handeln der Kirche.  Wer von der Kanzel her spricht, muss sich immer wieder der kritischen Reflexion dessen stellen, was er verkündet. Diese Reflexion hat ihren besonderen Ort an den Universitäten.

Gleichzeitig entfaltet Theologie ihre eigentliche Wirksamkeit nicht in den damit verbundenen akademischen Diskursen, sondern mit der Kirche in einer Institution, die nicht nur über zwei Jahrtausende die Quellen, aus denen die Theologie schöpft, bis heute durch die Zeiten getragen hat, sondern ihre Reflexionserträge auch in der Gegenwart dort einbringt, wo sie in besonderer Weise zu konkreten Konsequenzen führen. Die Kirche kann dafür auf ein unvergleichliches weltweites Netzwerk von lokalen Gemeinschaften zurückgreifen, die alle miteinander im Horizont des Reiches Gottes zu leben versuchen. Und was noch viel wichtiger ist: sie verankert das, was Theologie erarbeitet, nicht nur in den Köpfen, sondern auch in den Herzen der Menschen, ja durch die Praxis der Frömmigkeit in den Tiefen der Seele. Der Weg vom Katheder zur Kanzel ist also von entscheidender Bedeutung.

Wo der Weg aber vom Katheder zur Kanzel führt, da kann er gar nicht anders als sich fortzusetzen hin zum Rathaus. Wer Theologie im Herzen hat, der wird auf den Kanzeln und in den Gemeindehäusern davon sprechen, der wird aber auch mit Leidenschaftlichkeit und Sachlichkeit in die Rathäuser und Regierungsbüros gehen, er wird in die Mikrophone der Journalisten hineinsprechen und er wird davon erzählen, welche Kraft in der reichen Tradition des Christentums steckt und welch lebensfreundliche Orientierungen davon für die Welt von heute ausgehen.

 

Theologie zwischen Kirche und Staat

„Glaube, Theologie und globale Gesellschaft aus protestantischer Sicht“ – das Thema, das mir für den heutigen Vortrag gestellt ist, enthält drei Begriffe, deren innerer Zusammenhang so unbestreitbar ist, dass beim Reden darüber die vielleicht größte Gefahr ist, Selbstverständlichkeiten zu wiederholen. Natürlich muss Glaube theologisch verantwortet sein. Und natürlich hat Theologie, will sie nicht bloße Religions- oder Kulturwissenschaft sein, die Aufgabe, die innere Logik des Glaubens soweit mitzugehen, dass sie verstehbar und dann auch kritisch reflektierbar wird. Auch dass ein Zugang zu Glaube und Theologie nie ein provinzieller sein kann, sondern den globalen Horizont braucht, ist jedenfalls dann eine Selbstverständlichkeit, wenn wir wirklich von Gott als dem Schöpfer des Himmels und der Erden sprechen und nicht als einem Stammesgott, dessen Horizont nicht über den lokalen Kontext hinausreicht.

Wer über den Zusammenhang der drei Begriffe auf dem Hintergrund heutiger Lebenswelten zwischen Staat, Kirche und Universität nachdenkt und dabei die eigene Lebenswelt in einen weltweiten Horizont einordnet merkt schnell, wie wenig selbstverständlich die jeweilige Zuordnung der Begriffe zueinander ist. Was bedeutet es, dass theologische Fakultäten in Deutschland, anders als in den meisten Ländern der Welt, öffentlich finanziert werden? Heißt es, dass der Staat hier – letztlich in Verletzung seiner weltanschaulichen Neutralität – historische gewachsene Privilegien einer Religionsgemeinschaft in lediglich etwas modernisierter Form aufrechterhält?

Oder wird er genau dadurch dem Anspruch einer aufgeklärten weltanschaulichen Neutralität gerecht? Und muss dann aber genau darauf achten, dass in einer öffentlichen Bildungseinrichtung auch wirklich Wissenschaft getrieben wird und nicht Kirche mit anderen Mitteln? Denn das Amt eines Professors an einer öffentlichen Universität steht ja für die Universitas, für den wissenschaftlichen Diskurs ohne dogmatische Denkvorgaben, für die Suche nach der Wahrheit, die sich weder durch Bekenntnisvorgaben noch durch äußere religiöse Autoritäten einschränken lässt. Und dieses Amt steht im Dienste eines demokratischen Staates, der sich als Organisationsform einer pluralistischen Gesellschaft gerade nicht mehr auf bestimmte religiöse Bekenntnisse gründen kann.

Umgekehrt kann man fragen, ob die Kirche sich überhaupt darauf einlassen soll, die Ausbildung ihres inhaltlich prägenden Personals einem Ort zu überlassen, der so weit weg von ihren eigenen formativen Gemeinschaftskontexten liegt. In den meisten Ländern der Welt wird diese Frage mit Nein beantwortet. Die Seminaries, in denen die Theologinnen und Theologen ausgebildet werden, werden von den Kirchen selbst getragen und sind nicht eingeordnet in das Selbstverständnis und die daraus erwachsende innere Logik öffentlicher Universitäten.

Die Frage, wie die Kirchen ihre theologische Ausbildung im Schnittfeld zwischen Staat und Kirche organisieren, hängt zum einen von dem Selbstverständnis der Kirchen ab. Viele Pfingstkirchen weltweit etwa würden es emphatisch ablehnen, ihre theologische Ausbildung an staatlichen Universitäten zu platzieren, selbst wenn sie die Möglichkeit dazu hätten. Denn sie müssten damit akademische Maßstäbe für sich gelten lassen, die ihrem Selbstverständnis weithin widersprechen. Aber auch in Deutschland ist, insbesondere im römisch-katholischen Bereich, unter dem Stichwort „Entweltlichung“ die Theologische Ausbildung an staatlichen Fakultäten unter Rechtfertigungsdruck geraten. In den Tiefendimensionen steckt hinter den damit verbundenen Anfragen auch ein bestimmtes Verständnis von kirchlichem Lehramt und seinem Verständnis von Vernunft.

Die Existenz von Theologie an öffentlichen Universitäten ist aber natürlich auch von Politik und Gesellschaft aus unter Druck geraten. Je nachdem, welchen Ort man der Religion in Staat und Gesellschaft zumisst, kommt man zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen.

Eine zivilreligiöse Begründung des Staates etwa würde nahelegen, dass Religion durchaus an öffentlichen Universitäten gelehrt wird, da Religion als wichtiger gesellschaftlicher Kitt gelten kann. Theologie aber würde in dieser Sicht keinen öffentlichen Ort beanspruchen können. Denn sie lässt sich ja, will sie wirklich Theologie sein, gerade nicht staatlich funktionalisieren. Vielmehr kann sie den staatlichen Akteuren – je nach inhaltlicher Frage – auch betont kritisch gegenüberstehen. In der Ziellinie eines zivilreligiösen Verständnisses liegen eher religionswissenschaftliche Fakultäten wie sie etwa in den USA weit verbreitet sind.

Ein Verständnis der Rolle von Religion als Grundlage einer Leitkultur, wie sie etwa in der jetzt wieder eine Renaissance erlebende Rede vom „Christlichen Abendland“ zum Ausdruck kommt, würde nahelegen, dass eine bestimmte Religion in diesem Fall die historisch kulturprägende christliche Religion, einen hervorgehobenen Ort an öffentlichen Fakultäten hat. Dass Theologie an staatlichen Universitäten gelehrt wird, wäre dann Ausdruck des Willens zur Stärkung der eigenen, zutiefst von der christlichen Religion geprägten kulturellen Grundlagen. Auch anderen Religionen einen ähnlichen Status zu geben, würde von einem solchen Verständnis her unter Verdacht geraten und jedenfalls eher defensiv, nicht aber offensiv unterstützt werden. Wir finden dieses Verständnis überall da, wo die Betonung der „christlichen Werte“ und ihre Verortung im „christlichen Abendland“ eine zentrale Rolle spielt. Charakteristisch für diesen Begründungsansatz ist, dass er, selbst da, wo er das Faktum des Pluralismus anerkennt, diesen Pluralismus auf homogene Kulturzusammenhänge gründet, deren Infragestellung als Bedrohung der Demokratie empfunden wird. Das Stichwort von der „christlichen Leitkultur“, das seit Jahren für heftige Debatten sorgt, kann als Ausdruck eines solchen Verständnisses gesehen werden.

Ein Verständnis der Rolle von Religion als rein private Angelegenheit, die im Raum der Öffentlichkeit nichts zu suchen hat, führt zu einem ganz anderen Ergebnis. Theologische Fakultäten an öffentlichen Universitäten gehören von einem solchen Modell her auf den Müllhaufen der Geschichte. Die Privatisierung der Religion, das Verdrängen der Religion aus der Öffentlichkeit ist das Ziel von laizistischen Modellen, die Religion in Spannung zum Diskurs der Vernunft sehen und sie daher in die Nischen ihrer jeweiligen religiöse Gemeinschaften abdrängen wollen. Prototyp dieses Modells ist die französische „Laicité“.

Vieles ist gegen dieses Modell einzuwenden. Indem ich die Einwände andeute, führe ich bereits hin zu dem Modell, das nach meiner Überzeugung nach wie vor das einleuchtendste ist. Religionsfreiheit gewährleistet ja, richtig verstanden, nicht das Recht, von der Religionsausübung anderer unberührt zu bleiben. Richtig ist, dass Religion eine höchstpersönliche Sache ist, nicht aber eine „Privatsache“ in dem Sinne, dass man sie in das „stille Kämmerlein“ verbannen dürfte. Es gibt schlicht und einfach überhaupt keinen vernünftigen Grund für den Staat, philosophisch begründete Weltanschauungen gegenüber religiösen Weltanschauungen zu bevorzugen. Der Staat, will er wirklich weltanschaulich neutral sein, muss beidem im öffentlichen ebenso wie im privaten Leben Raum geben.

Dazu kommt ein Argument, das die Wirkungen auf die gesellschaftliche Kultur betrifft: die Privatisierung von Religion fördert nicht Toleranz und Offenheit für die Vielzahl verschiedener Konzeptionen des Guten in einer Gesellschaft, sondern sie hemmt sie oder verhindert sie möglicherweise sogar. Eine öffentliche Auseinandersetzung mit Religion fördert den reflektierten Umgang damit. Laizistische Modelle bieten deswegen keine Lösung für die Frage nach einem angemessenen Verhältnis von Religion und pluraler Demokratie.

In dieser Hinsicht ist vom Modell der „Öffentlichen Religion“ mehr zu erwarten. Es ist die aus meiner Sicht höchst bewährte Grundlage für die ausdrückliche Bejahung theologischer Fakultäten an öffentlichen Universitäten, wie wir sie in Deutschland kennen. Ich will deswegen näher darauf eingehen.

 

„Öffentliche Religion“

Mit guten Gründen haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes in Deutschland aus der weltanschaulichen Neutralität des Staates nicht den Schluss gezogen, die Vermittlung und kritische Reflexion religiöser Traditionen aus dem öffentlichen Bildungsauftrag herauszunehmen. Grundlage der Verfassungsartikel, die den Stellenwert der Religionsgemeinschaften als Körperschaften öffentlichen Rechts regeln, war die Überzeugung, dass die rechtliche Verbannung religiöser Gehalte aus den öffentlichen Angelegenheiten ebenso wenig förderlich ist wie die in Deutschland bis 1918 geltende staatliche Privilegierung eines bestimmten religiösen Bekenntnisses.

Dieses Verständnis von Religionsfreiheit als „positive Religionsfreiheit“ gründete sich nicht zuletzt auf das Bewusstsein eines Sachverhaltes, den der frühere Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde mit einem geradezu berühmt gewordenen Satz beschrieben hat. Seit seiner Entstehung im Jahre 1967[ii] hat dieser Satz eine Zitatkarriere gemacht hat, die ihresgleichen sucht: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“[iii] Anders als der christliche Staat der früheren Jahrhunderte, so die Pointe dieses Zitats, kann der freiheitliche Staat nicht mehr eine bestimmte religiöse Basis definieren, deren Verinnerlichung die Bürger an ihren Staat bindet. Würde er das tun, verlöre er seine Freiheitlichkeit, denn er müsste die Exklusion derer hinnehmen, die diese religiösen Grundlagen nicht aus Freiheit mittragen könnten.[iv]

So bleiben für den liberalen Staat nur zwei Möglichkeiten: entweder er zehrt von den Traditionsbeständen, die sich in der Kultur, von der er herkommt, in den früheren Jahrhunderten aufgebaut haben. Die Begrenztheit dieser Möglichkeit wird spätestens dann deutlich, wenn sich der Vorrat an solchen Traditionsbeständen aus der Vergangenheit aufgezehrt hat.[v] Oder er fördert Wege und Orte, an denen sich die Bindungsressourcen, auf denen er baut, regenerieren, ohne dass seine Freiheitlichkeit in Frage gestellt wird.

Die Kirchen und Religionsgemeinschaften sind solche Orte. Dass ihr in den eigenen religiösen Traditionen gegründeter Wahrheitsanspruch keineswegs mit den Regeln eines in der pluralistischen Demokratie notwendigen öffentlichen Diskurs im Widerspruch stehen muss, hat der amerikanische Philosoph John Rawls mit seiner Idee des übergreifenden Konsenses gezeigt.[vi] In einer demokratischen Gesellschaft - so der Grundgedanke - kann von einer großen Vielfalt verschiedener Konzeptionen des guten Lebens ausgegangen werden. Die Vertreterinnen der jeweiligen Konzeptionen bringen ihre Ideen und Werte in die gesellschaftliche Gemeinschaft ein, indem sie öffentlich dafür eintreten.[vii] Keine dieser allgemeinen und umfassenden Konzeptionen des Guten kann sich selbst zur einzig legitimen erklären und gesetzlich verbindlich machen. Alle Konzeptionen teilen aber ein Minimum an fundamentalen Werten. Diese Werte sind in unterschiedlicher Weise in den religiösen, moralischen oder philosophischen Traditionen der jeweiligen Konzeptionen des Guten gegründet. Alle überschneiden sie sich aber im Hinblick auf bestimmte Grundannahmen über die Bedeutung des Menschseins, auch wenn die Interpretationen dieser Grundannahmen sich unterscheiden mögen. Rawls geht von dem historischen Kontext westlicher Demokratien aus und identifiziert vier Grundannahmen, die die Basis für demokratische Gesellschaften bilden: Menschliche Wesen sind frei, gleich, grundsätzlich fähig zum vernünftigen Denken und fähig zur Kooperation mit anderen. Im Hintergrund steht das Ideal einer öffentlichen, intersubjektiv verstandenen praktischen Vernunft.[viii]

Ob die von Rawls genannten Elemente wirklich den übergreifenden Konsens in einer demokratischen Gesellschaft darstellen, mag umstritten sein. Für Rawls - das sei an dieser Stelle nur angemerkt - führt dieser Konsens, wenn er nur ernst genommen wird, zu einem nachdrücklichen Eintreten nicht nur für die politischen Freiheitsrechte, sondern auch zu dem, was er das “Unterschiedsprinzip” nennt: Unterschiede in Einkommen, Vermögen und Macht in einer Gesellschaft können nur dann gerechtfertigt werden, wenn sie die Situation der am wenigsten bevorteilten Glieder einer Gesellschaft optimieren.[ix] Eine inhaltliche Näherbestimmung des “übergreifenden Konsenses” demokratischer Gesellschaften – so viel lässt sich aber sagen - kann nicht geleistet werden, ohne den Menschenrechten in ihren verschiedenen kodifizierten Formen zentralen Rang einzuräumen. Rawls selbst hat sich in einem Aufsatz in diesem Sinne geäußert.[x] In den Menschenrechten kommt die Grundannahme der unverletzlichen Würde der menschlichen Person zum Ausdruck, über die sich die meisten Menschen verständigen können.

Der öffentlichen Kommunikation kommt für die Regenerierung dieses Grundkonsenses zentrale Bedeutung zu. Die verschiedenen speziellen Konzeptionen des Guten dürfen nicht ausschließlich in den Raum der jeweiligen Binnengemeinschaft verbannt werden, sie müssen vielmehr als Quelle leidenschaftlicher Beiträge zur öffentlichen Kommunikation gedacht werden. Die Aufrechterhaltung und lebendige Weiterentwicklung eines übergreifenden Konsenses bedarf des öffentlichen Engagements der verschiedenen religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften, die eine pluralistische Gesellschaft prägen.

Es ist genau die Begründungsoffenheit der Grundorientierungen, von denen unser Staat lebt, die ihre Regeneration auch unter den Bedingungen einer pluralistischen Gesellschaft ermöglicht.

Weil der Staat in seiner Grundsubstanz von der Vitalität von Traditionen lebt, die seinen humanen Charakter über rechtliche Regelungen hinaus mit Leben füllen, deswegen ist es so weise, wenn er die öffentliche Rolle der religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften ausdrücklich bejaht, wie das in unserem Grundgesetz der Fall ist. Religionsunterricht an öffentlichen Schulen und öffentlich finanzierte Lehrstühle für christliche, jüdische und islamische Theologie sind genau die richtige Antwort auf die Frage, woraus die Werte einer Gesellschaft sich erneuern können.

Dass fundamentalistische Formen von Tradition keine öffentliche Finanzierung verdienen, versteht sich von selbst, denn sie stärken nicht den übergreifenden Konsens, sondern sie sabotieren ihn. Wo der Staat durch die Anerkennung religiöser Bildung als Teil des öffentlichen Bildungsauftrags die Religionsgemeinschaften aus der Selbstabschottung herausholt, ermöglicht er ihnen, nötigt sie allerdings auch dazu, ihre religiösen Traditionen selbstkritisch zu hinterfragen.  Wie zukunftsweisend diese Perspektive gerade im Hinblick auf die gegenwärtigen Diskussionen um den Islam und seine fundamentalistische Unterwanderung ist, liegt auf der Hand.

 

Theologie im Schnittfeld zwischen innerer und äußerer Geschichte

Der Ort der öffentlichen Universität tut der Theologie auch als Theologie gut. Denn er tut „der Sache mit Gott“ (H. Zahrnt) genau dadurch gut, dass er den Blick des Glaubens im Inneren immer wieder mit dem kritischen Blick von außen ins Gespräch bringt. Die an den öffentlichen Universitäten in besonderer Weise mögliche Interdisziplinarität braucht die Theologie um ihrer selbst willen.

Der amerikanische Theologe H. Richard Niebuhr, sehr zu Unrecht weniger bekannt als sein Bruder Reinhold Niebuhr, hat in seinem Buch „The Meaning of Revelation“ (TMR) mit seiner Unterscheidung zwischen „internal“ and external history“ für das Verständnis dieses Zusammenhangs einen wichtigen Hinweis gegeben.

„Internal history“ ist von ihrem Charakter her persönlich (TMR 47) und betrachtet das, was mit uns geschieht, durch unsere eigenen Augen. „External history“ betrachtet dagegen die Geschichte von Menschen aus der Perspektive eines externen Beobachters. In Anlehnung an Martin Buber formuliert Niebuhr: „…in external history all relations are between an ‚I’ and an ‚it’, while in the other they are relations between ‚I’ and ‚Thou’…“ (TMR 48). Von einem Blinden, der sehend wird, könnten zwei Geschichten geschrieben werden:  die „external history“ würde beschreiben, was mit seinem Sehnerv geschehen ist, welche Technik der Operateur benutzte oder durch welches Medikament der Patient geheilt wurde. Die „internal history“ dagegen würde diese Dinge vielleicht überhaupt nicht erwähnen, sondern würde erzählen, was einem Menschen, der bisher in Dunkelheit gelebt hat, widerfährt, wenn er erstmals wieder Bäume und den Sonnenaufgang, die von Gesichter von Kindern und Augen die Augen eines Freundes sähe (TMR 44).

Beide Formen von history sind im Hinblick auf die Interpretation religiöser Phänomene klar voneinander zu unterscheiden. Eine objektive historische Untersuchung des Lebens Jesu („external history“) führt nicht direkt in das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus („internal history“). Nur eine Umkehr, eine eigene Glaubensentscheidung kann von der beobachteten zur gelebten Geschichte („from observed to lived history“) führen (TMR 61). Dennoch kann auch die “external history“ zum inneren Leben einer Gemeinschaft beitragen. Kritiker des Christentums etwa haben die Kirche gerade durch ihre Kritik immer wieder an ihre eigene Sache erinnert (TMR 63).

Außerdem kann es kein inneres Leben ohne äußere Verkörperung geben. Das Gedächtnis des Selbst ist ebenso abhängig von seinem Nervensystem wie das Gedächtnis einer Gemeinschaft abhängig ist von Büchern oder Denkmälern. Die im Chalzedonense festgehaltene Erkenntnis, dass das Wort Fleisch wird, ist für Niebuhr ein Interpretament der Beziehung zwischen beiden Formen von history: „External history is the medium in which internal history exists and comes to life. Hence knowledge of its external history remains a duty of the church. In all this we have only repeated the paradox of Chalcedonian Christology” (TMR 66).

Diese Hinweise mögen genügen, um deutlich zu machen, wie wichtig die Integration der außertheologischen Wissenschaften in die theologische Wissenschaft ist.

So komme ich zu dem Ergebnis, dass es nicht nur aus der Sicht von Staat und Gesellschaft eine hohe Plausibilität hat, dass Theologie Teil des öffentlichen Bildungsauftrags ist und deswegen an öffentlichen Universitäten gelehrt wird, sondern dass das dadurch geförderte Gespräch mit den Wissenschaften und der damit einhergehende Dialog mit der Gesellschaft auch für die Theologie selbst von zentraler Bedeutung ist.

Die Gesellschaft braucht öffentliche Theologien. Die Kirche speist sich in ihrem Verkündigungsauftrag immer wieder von neuem aus der kritischen Prüfung durch die Theologie. Und die Theologie selbst braucht die Kirche als den sozialen Ort und die Institution, an dem und in der die Traditionen, auf die die Theologie sich gründet durch die Jahrhunderte getragen werden.

Ich wünsche mir, dass alle drei in intensivem Gespräch sind und sich genau dadurch wechselseitig fördern und befruchten.


 
[i] E. Bethge, Dietrich Bonhoeffer - Der Mensch und sein Zeugnis, in: ders. (Hg.), Die Mündige Welt Bd. II, München 1956, 92-103 (103).
 
[ii] Böckenförde formulierte diesen Satz erstmals in: E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Säkularisation und Utopie. Ebracher Studien. Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1967, 75-94.
 
[iii]Vgl. dazu näher H. Bedford-Strohm Gemeinschaft aus kommunikativer Freiheit. Sozialer Zusammenhalt in der modernen Gesellschaft. Ein theologischer Beitrag, Gütersloh 1999, 26f, Anm.35. Ein Beispiel aus der jüngsten Zeit ist Wolfgang Hubers Hinweis auf die Verpflichtung des Staates „zum achtsamen Umgang mit den Voraussetzungen, auf die er selber angewiesen ist, ohne sie jedoch selbst hervorbringen zu können (W. Huber, Der christliche Glaube und die politische Kultur in Europa, in: H. Goerlich/W. Huber/K. Lehmann, Verfassung ohne Gottesbezug? Zu einer aktuellen europäischen Kontroverse (ThLZ. F 14), Leipzig 2004, 45-60 (56). Friedrich-Wilhelm Graf ordnet den Hinweis, „dass ein freiheitliches Gemeinwesen auf Voraussetzungen basiert, die es nicht selbst zu erzeugen vermag“, den Güterethikern zu (Lob der Differenz. Die Bedeutung der Religion in der demokratischen Kultur, in: Ch. Gestrich (Hg.), Die herausgeforderte Demokratie. Recht, Religion, Politik (Beiheft 2003 zur BThZ), Berlin 2003, 14-29 (22). Valentin Zsifkovits sieht die Antwort auf das Böckenförde-Theorem in einem „demokratiegerechten politischen Ethos“, das er dann näher beschreibt (Demokratie braucht Werte, Münster 1998, 33-50)
 
[iv] Böckenförde hat seine Aufsätze zum Verhältnis von Religion und modernem säkularen Staat jüngst in gesammelter Form veröffentlicht: Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit. Beiträge zur politisch-theologischen Verfassungsgeschichte 1957-2002, Münster 2004.
 
[v] Auf diese Gefahr weist die Frage hin, die die amerikanische Politologin Jean Bethge Elshtain bei einer Tagung in Richmond in sachlicher Nähe zum Böckenförde-Theorem gestellt hat: „How long before the stream run dry?“ (zitiert bei J. Stout, Princeton/Oxford 2004, 307. Die Antwort, die Jeffrey Stout auf diese Frage gibt, liegt in der demokratischen Praxis, die sich immer wieder aus den intellektuellen und religiösen Ressourcen speist, die die Demokratie prägen und damit zu einer eigenen Tradition werden lassen.
 
[vi] Siehe insbesondere John Rawls, Der Gedanke eines übergreifenden Konsenses, in ders. Die Idee des politischen Liberalismus, Aufsätze 1978-1989, Frankfurt/Main 1992, 293-332.
 
[vii] Eine der gängigsten kritischen Anfragen an Rawls’ Gerechtigkeitstheorie geht von der Annahme aus, dass sein Gedanke des Vorrangs des Rechten vor dem Guten eine Privatisierung des Guten bedeute (vgl. dazu F. Schüssler Fiorenza, 1989, 131). Ich halte diese Kritik nicht für gerechtfertigt. Der Vorrang des Rechten vor dem Guten heißt nur, dass starke Konzeptionen des Guten nicht durch staatliche Machtmittel zwangssanktioniert werden dürfen. Nirgendwo bei Rawls lassen sich Anzeichen dafür finden, dass starke Konzeptionen des Guten auf den Bereich des Privaten verbannt bleiben sollen, anstatt in den öffentlichen Diskurs eingebracht zu werden.
 
[viii] Vgl. dazu M. Giusti (1994): Die liberalistische Suche nach einem „übergreifenden Konsens“; in: Philosophische Rundschau 41/1994,1, 53.
 
[ix] Vgl. zu Rawls’ Unterschiedsprinzip genauer H. Bedford-Strohm Vorrang für die Armen. Auf dem Weg zu einer theologischen Theorie der Gerechtigkeit, Gütersloh 1993, 213f.221f.261-273.
 
[x] J. Rawls, Das Völkerrecht, in: S. Shute/S. Hurely, Die Idee der Menschenrechte, Frankfurt 1996, 53-103.