Geschichte erinnern – Verantwortung lernen – Versöhnung leben

Zum Projekt des Wiederaufbaus der Garnisonkirche in Potsdam

Vortrag des Bevollmächtigten des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union Prälat Dr. Martin Dutzmann am 11. September 2017 in der Evangelischen Akademie Frankfurt/M.

Die Evangelische Kirche in Deutschland hat vor wenigen Tagen unter dem Titel „Konsens und Konflikt: Politik braucht Auseinandersetzung“ zehn Impulse der Kammer für Öffentliche Verantwortung herausgegeben. Unter den zehn Thesen findet sich auch ein Abschnitt mit Empfehlungen für eine demokratische Streitkultur.

Vielleicht ist es angesichts der Tatsache, dass wir heute Abend darüber streiten werden, ob in Potsdam der Turm der ehemaligen Garnisonkirche als Ort der Friedens- und Versöhnungsarbeit aufgebaut werden soll, hilfreich, in den noch frischen EKD-Text hineinzuhören.

„Die Funktionsfähigkeit der Demokratie hängt davon ab, dass die Bürgerinnen und Bürger bereit sind, in gleicher Weise Verantwortung für die Gestaltung des eigenen Lebens zu übernehmen wie für das Zusammenleben in der Gesellschaft. Demokratische Politik folgt einem höchst anspruchsvollen Leitbild: der Vorstellung nämlich, dass aus dem vernünftig ausgetragenen Streit unterschiedlicher Positionen und Überzeugungen heraus politische Entscheidungen gefällt werden, die aufgrund der Art ihres Zustandekommens gerechtfertigt sind und daher von allen Beteiligten anerkannt werden sollen. Dieses Leitbild lässt sich nur dann verwirklichen, wenn alle Beteiligten die von ihnen vertretene Position immer wieder kritisch hinterfragen – und sich selbst hinterfragen lassen. Und zwar daraufhin, ob diese Position nicht nur den eigenen Interessen dient, sondern auch das Wohl des Gemeinwesens als Ganzes befördern kann und anderen genügend Freiräume für die Verwirklichung ihrer Lebensentwürfe einräumt.“

Ich hoffe sehr, dass das hier beschriebene Leitbild auch unsere Auseinandersetzung über die Zukunft der Potsdamer Garnisonkirche heute Abend prägt.

Zur Sache: Am 10. Juni 1931 hielt der Osnabrücker Pfarrer Richard Karwehl in Hannover einen bemerkenswerten Vortrag. Karwehl sprach über die Auseinandersetzung von Kirche und Nationalsozialismus und kam zu klaren Ergebnissen. So warnte er seine Zuhörer davor, dass der christlich-jüdische Messianismus in der Gefahr stehe, von einem germanischen Messianismus ersetzt und überboten zu werden. Hitler wolle einen Frieden, nicht gestützt auf Palmenwedel pazifistischer Klageweiber, sondern begründet durch das siegreiche Schwert des Herrenvolkes. Karwehl erläuterte seinen Zuhörern 1931 den germanischen Wahn im Einzelnen:

Die Erbsünde werde zur Sünde wider das Blut. Die Gottesebenbildlichkeit werde zum Urbild des Ariers. Die Vertreibung aus dem Paradies werde zur Senkung des rassischen Niveaus durch Blutschande. Das Parteiprogramm rücke in den Status eines unfehlbaren Dogmas. Das Reich Gottes werde durch das dritte Reich ersetzt. An die Stelle der Predigt trete die an das Gefühl appellierende, mit Schlagworten arbeitende Rede als stärkstes Propagandamittel. Die Kameraden der Bewegung würden zur Wolke von Zeugen. Und im Blick auf das neue Zeitalter gehe es um die Entscheidung von Ewigkeitsfragen.

Wörtlich stellte Karwehl fest: „Die Prophetie der Kirche ist so völlig erloschen, dass selbst protestantische Pfarrer die säkularisierte Eschatologie der völkischen Bewegung mit der…kirchlichen Verkündigung verwechseln und mit Begeisterung in die Front des Nationalsozialismus einschwenken…So ist der Nationalsozialismus ein hochaufgerichtetes Zeichen, an dem uns deutlich werden kann und soll: Wir sitzen neben der Bibel, zu der wir uns dem Namen nach bekennen…“ (Richard Karwehl - ZZ 1931,514-543).

Wie Recht Richard Karwehl mit seiner Einschätzung haben sollte, wird durch einen Bericht Dietrich Bonhoeffers illustriert, der im April 1938 eine Ferienfahrt durch das fahnengeschmückte Thüringen unternahm. Er erzählte, dass anlässlich des Anschlusses Österreichs in der Karwoche das Kreuz auf der Wartburg durch ein riesiges und mit Scheinwerfern angestrahltes Hakenkreuz ersetzt worden sei. Der thüringische Landesbischof Sasse hatte seine Pfarrer schon am 15. März einen Eid auf Hitler schwören lassen und diesem telegrafiert: „Mein Führer, ich melde: In großer geschichtlicher Stunde haben sämtliche Pfarrer der Thüringer Evangelischen Kirche, einem inneren Befehl gehorchend, den Treueeid auf Führer und Reich freudigen Herzens geleistet...Ein Gott – ein Gehorsam im Glauben. Heil Ihnen, mein Führer!“

Zwischen der Rede Richard Karwehls 1931 und dem Bericht Dietrich Bonhoeffers 1938 wurde am 21. März 1933 in der Potsdamer Garnisonkirche der „Tag von Potsdam“ begangen. In höchstem Maße symbolträchtig knüpfte mit einem Staatsakt zur Eröffnung des neu gewählten Reichstages die Hitlerbewegung an die alte preußisch-deutsche Staats- und Militärtradition an. Ich bin sicher, dass Herr Dr. Grünzig uns gleich diesen Tiefpunkt in der Geschichte der Garnisonkirche genauer beleuchten wird und bin gespannt auf seine Ausführungen.

Der „Tag von Potsdam“ ist der Kristallisationspunkt der Kritik an dem Projekt des Wiederaufbaus der Garnisonkirche: Ist ein Gebäude, das derart missbraucht wurde, nicht auf ewig „kontaminiert“? Nimmt, wer die Garnisonkirche wiedererrichtet, nicht mindestens billigend in Kauf, dass völkische Ideologie – und diese erwacht ja gerade zu neuem Leben! – sich erneut in diesem Symbolgebäude wiederfindet? Das sind berechtigte Fragen, die auch jene, die das Wiederaufbauprojekt unterstützen, mit allem Ernst gestellt haben. Wenn der Wiederaufbau nun trotz dieser Einwände in Angriff genommen wird, so geschieht das aus drei Gründen:

  1. Der „Tag von Potsdam“ ist ein wichtiges, aber nicht das einzige bedeutende Datum in der Geschichte der Garnisonkirche
  2. Für den wiederaufgebauten Turm gibt es ein überzeugendes Nutzungskonzept
  3. Das Projekt ruht auf einem breiten Konsens in Kirche und Gesellschaft

Der „Tag von Potsdam“ ist ein wichtiges, aber nicht das einzige bedeutende Datum in der Geschichte der Garnisonkirche

Die Garnisonkirche zu Potsdam wurde nicht 1933 als Kirche der Deutschen Christen erbaut, sondern in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Hof- und Garnisonkirche des preußischen Herrscherhauses. Schon das macht sie – wie immer man die Geschichte Preußens beurteilen mag – zu einem herausgehobenen Lernort für deutsche Geschichte. Kirchengeschichtlich ist bedeutsam, dass am Reformationstag 1817, also zum 300. Reformationsjubiläum, hier die Union zwischen Lutheranern und Reformierten mit einer gemeinsamen Abendmahlsfeier vollzogen wurde. Auch zur Union mag man unterschiedlich stehen, aber dass sie weite Teile des deutschen Protestantismus bis heute prägt, dürfte unstrittig sein.

Die Geschichte der Garnisonkirche endete auch nicht etwa 1945, wie man es nach einem Vortrag, den Sie, Herr Professor Gailus, im März gehalten haben, vermuten könnte. Da haben Sie ziemlich zu Beginn gesagt: „Dass Hitler selbst eine Ansprache halten konnte in der Kirche – das kam, soweit bekannt, nur ein einziges Mal vor im „Dritten Reich“, eben an jenem denkwürdigen Tag in der Potsdamer Garnisonkirche, die nun, nach ihrer Zerstörung in Hitlers Krieg, erneut aufgebaut werden soll.“ Mir kommt es auf den Schluss dieses Satzes an und hier besonders auf die Worte „nach ihrer Zerstörung in Hitlers Krieg“. Hier bedarf es einer etwas ausführlicheren Ergänzung…

Am 30. April 1945, um sechs Uhr früh, stehen Walter Ulbricht und neun deutsche kommunistische Emigranten vor dem Hotel „Lux“ in der Moskauer Gorkistraße. Ein paar Minuten später trifft ein Autobus ein und fährt die Männer zum Flughafen. Ohne die sonst üblichen Zollkontrollen und Formalitäten werden die zehn deutschen Emigranten zu einer bereitstehenden amerikanischen Douglas-Transportmaschine gebracht. Wenige Minuten später hebt das Flugzeug in Richtung Deutschland ab.

Niemand anders als Walter Ulbricht zieht im April 1946 bei der Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED im Hintergrund die Strippen. Als guter Zögling Stalins führt er sogenannte Säuberungen durch und lässt politische Gegner beseitigen. Ulbricht übersteht den Tod Stalins und den Volksaufstand vom 17. Juni 1953, ohne politisch Schaden zu nehmen. Obwohl die Demonstranten damals skandieren: „Spitzbart, Bauch und Brille – sind nicht des Volkes Wille!“, nimmt die Machtfülle Ulbrichts zu. Nach dem Tod Wilhelm Piecks im Jahre 1960 ist er am Ziel. Alle entscheidenden Machtpositionen der DDR sind nun in seiner Person vereinigt.

Für die Christen in der DDR wurde die aggressive Kirchenpolitik zu einer extremen Belastungsprobe. Erwähnt seien etwa die Diffamierung der Jungen Gemeinden oder der Kampf gegen die Studentengemeinden. Die SED drängte die Kirchen Schritt für Schritt aus der Bildungspolitik zurück; den Religionsunterricht schaffte sie bis 1958 faktisch ab.

1954 führten die Genossen die Jugendweihe als Speerspitze gegen Konfirmation und Firmung ein. Jeder Jugendliche sollte ein Bekenntnis zur DDR ablegen. Alle Teilnehmer der Jugendweihe erhielten ein pseudowissenschaftliches Buchgeschenk mit dem Titel „Weltall, Erde, Mensch“. Der erste Satz im Geleitwort Walter Ulbrichts lautete: „Dieses Buch ist das Buch der Wahrheit.“

Walter Ulbrichts sogenannte „Turmrede“, die er am 7. Mai 1953 in Stalinstadt, dem heutigen Eisenhüttenstadt, hielt, wurde in dieser Phase zu einer Art Leitbild für die sozialistische Stadtgestaltung: „Ja!  Wir werden Türme haben, zum Beispiel einen Turm fürs Rathaus, einen Turm fürs Kulturhaus. Andere Türme können wir in der sozialistischen Stadt nicht gebrauchen." Insofern war es nicht verwunderlich, dass Kirchengemeinden große Schwierigkeiten hatten, die für den Wiederaufbau ihrer kriegszerstörten Kirchengebäude nötigen Genehmigungen und Baumaterialien zu erhalten.

Während die sechziger Jahre in Westdeutschland als eine Zeit heftiger gesellschaftlicher Debatten und Umbrüche erinnert werden, erdrückte die Diktatur von Moskaus Gnaden in der DDR jeden gesellschaftlichen Aufbruch. Ulbrichts Ausspruch „Es muss wie Demokratie aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben!“ stand als Maxime des Mannes an der Spitze weiterhin in Geltung.

Im Juni 1967 besuchte Ulbricht die Bezirkshauptstadt Potsdam. Im Rahmen seiner Visite äußerte der SED-Chef klar seine Erwartungen. Gemeinsam mit seiner Frau Lotte und dem üblichen Gefolge stand er vor der ehemaligen Hof- und Garnisonkirche. Sie war kriegsgezeichnet, aber wieder aufbaufähig. Bereits seit Jahren befand sich eine intensiv genutzte „Heilig-Kreuz-Kapelle“ im Turm der Kirche. Die evangelischen Christen hatten hier in klarer Abkehr vom früheren Ungeist einen Neubeginn in Jesu Namen gewagt. Für die Studentengemeinde Potsdam bildete die Heilig-Kreuz-Kapelle einen Kristallisationspunkt der Umkehr; sie war ein wichtiger Treffpunkt. Doch Ulbricht erklärte:

„Aufgrund der vielen Touristen ist es besonders wichtig, dass die Gestaltung von Potsdam in Ordnung geht. Die Ruine der Garnisonkirche kann man auch auf der Fotografie zeigen und sie verkaufen als Postkarte für Ausländer.“

Damit war das Schicksal der Kirche entschieden. Die Beseitigung wurde rechtsstaatswidrig und pseudodemokratisch ins Werk gesetzt. Die Sprengung des Turms fand an einem Sonntag, dem 23. Juni 1968, zur Gottesdienstzeit statt. Aus diesem Anlass wurde ein „Lehrfilm zur Sprengung einer Kirchenruine“ erstellt. Der Film sollte bei zukünftigen Beseitigungen von Kirchengebäuden Anregung und Hilfe bei der praktischen Umsetzung geben.

Im Potsdam war es bereits am 1. August 1951 zu einem symbolischen Auflauf mit starken Requisiten gekommen: Durch die wenige Tage vor Kriegsende in Schutt und Asche gebombte Innenstadt näherte sich ein Zug junger Leute in Blauhemden der Havel. Sie ließen einen schwarzen Sarg zu Wasser. Auf ihm steht in großen Buchstaben: „Hier ruhen die letzten Hoffnungen der Kriegsbrandstifter auf einen alten Geist von Potsdam“. Der Sarg war mit Steinen gefüllt, auf dass er und mit ihm die Vergangenheit möglichst schnell versänke. Die FDJler wollen ein neues „freies Deutschland“. Zu ihrem Leidwesen stellte sich der Sarg jedoch kerzengerade auf und „segelte“ sogar ein Stück. Der „Geist von Potsdam“ wolle partout nicht untergehen, spottete der Volksmund. Erst beim zweiten Versuch verschwand der mit noch mehr Steinen beschwerte Sarg endlich in der Havel. Die Nachwuchsorganisation der SED konnte sich dem Irrglauben hingeben, die eigene Vergangenheit ersäuft und die Geschichte auf Null gestellt zu haben.“ Derselben Logik folgte die Sprengung der Garnisonkirche 17 Jahre später.

Wenn ich diesen Teil der Geschichte der Garnisonkirche so ausführlich referiere, dann geschieht das ausdrücklich nicht, um den „Tag von Potsdam“ zu relativieren oder gar zu verharmlosen, wohl aber um zu zeigen, dass die Geschichte dieses Gebäudes sich nicht im 21. März 1933 und den damit zusammenhängenden Ereignissen erschöpft. Auch wer, wie es in der Ankündigung dieses Abends geschehen ist, die Garnisonkirche als „Symbol des preußischen Militarismus“ beschreibt, trifft allenfalls einen Teil der Bedeutung, die sie für Menschen hatte. Die Geschichte der Garnisonkirche ist eine komplexe Geschichte, in der sich wichtige Momente der deutschen Geschichte – Preußentum, Nationalsozialismus, DDR-Unrecht - wie unter einem Brennglas bündeln. Zu Recht haben Sie, Herr Professor Gailus, in dem genannten Vortrag gesagt: „Die Geschichte, auch die Geschichte der Garnisonkirche, ist kein Wunschkonzert, und man kann sich aus ihr nicht herausklauben, was einem heute gerade passt und zugleich alles Unangenehme herauslassen.“ Sie haben das mit Blick auf den Versuch gesagt, die Garnisonkirche zum Ort des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus zu stilisieren. Mir ist zwar nicht bekannt, dass jemand diesen Versuch unternähme, aber wenn es diese Bemühungen gäbe, wären sie in der Tat unstatthaft. Es ist jedoch ebenfalls nicht legitim, sich ausschließlich auf die Zeit von 1933 bis 1945 zu beziehen und die 23 Jahre nach 1945 mit keinem Wort zu erwähnen. Die Geschichte der Garnisonkirche zu Potsdam ist höchst komplex. Das macht den Wiederaufbau mit einem durchdachten, auf diese Geschichte bezogenen Nutzungskonzept aus meiner Sicht verheißungsvoll.

Ein Lerneffekt aus der bisherigen Debatte könnte meines Erachtens darin bestehen, dass wir Abschied von einseitigen Zuschreibungen nehmen. Mit Einseitigkeiten – die Echokammer lässt grüßen – werden Vorurteile bestätigt und einer durchritualisierten Rechthaberei Tür und Tor geöffnet. Nur leider bringt uns das keinen Zentimeter voran. Es befördert auch keinen Erkenntnisgewinn. Wir alle wissen, dass Multiperspektivität, Mehrdeutigkeit und Subjektivität immer vielfältige Deutungen der Wirklichkeit und damit auch unserer Geschichte zulassen.

Das lässt sich an einem Symboldatum der deutschen Geschichte anschaulich machen, dem 9. November. Mit diesem einen Datum verbinden sich sehr unterschiedliche, ja gegensätzliche historische Erinnerungen: die Revolution von 1918, die Pogromnacht von 1938, die Öffnung der Berliner Mauer 1989. Niemand käme auf die Idee, den 9. November exklusiv nur mit einem dieser Ereignisse zu verbinden oder ihn gar wegen der Verbrechen von 1938 aus dem Kalender zu tilgen. Was kalendarisch der 9. November ist, soll die Garnisonkirche in städtebaulicher Hinsicht werden: ein Anstoß, sich der komplexen deutschen Geschichte zu stellen und die daraus erwachsenden Herausforderungen anzunehmen.

Für den wiederaufgebauten Turm gibt es ein überzeugendes Nutzungskonzept

Der Turm der Hof- und Garnisonkirche hat über einen Zeitraum von mehr als 230 Jahren die Silhouette Potsdams geprägt. Die Kirche war Teil des berühmten Dreikirchenblicks. Durch ihren historischen Standort zählt die Garnisonkirche zu den Innenstadtkirchen. Der wieder gewonnene Kirchturm mit seinem Raumprogramm soll ein Ort werden, an dem sich eine neue Gemeinschaft bildet. Ein Haus ohne Hemmschwelle, in dem spezielle Angebote für Touristen, Passanten und interessierte Schulklassen entwickelt werden. In der Nagelkreuzkapelle hat diese Arbeit bereits begonnen. Es geht um einen kirchlichen Ort, an dem Kontakte geknüpft und Diskurse eröffnet werden, aus denen neue Orientierung erwächst. Jede und Jeder ist schon jetzt herzlich willkommen.

Grundlegend für die inhaltliche Arbeit sind die drei Säulen Stadtkirchenarbeit, Symbolkirchenarbeit und Versöhnungsarbeit. Daraus haben die Stiftung, das Pfarramt und die Fördergesellschaft den Dreiklang „Geschichte erinnern – Verantwortung lernen – Versöhnung leben“ entwickelt.

Geschichte erinnern

Die in Potsdam lebende Schriftstellerin Siegrid Grabner verdeutlicht diesen Ansatz mit den Worten: „Eine Stadt hat wie ein Mensch ein Gedächtnis, aufgehoben in Gebäuden, Dokumenten, Überlieferungen.“

Mit der Potsdamer Garnisonkirche sind – wie oben dargelegt – zahlreiche sehr unterschiedliche Ereignisse deutscher Geschichte verbunden. Der Entschluss der SED, die Kirche 1968 zu sprengen, hat dieses besonders geschichtsträchtige Gebäude beseitigt. Die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte ist aber eine wesentliche Voraussetzung für das Verstehen gegenwärtiger Ereignisse und für das Gestalten der Zukunft.

Der Wiederaufbau des Turms eröffnet gegenwärtigen und nachfolgenden Generationen die Möglichkeit, sich am authentischen Ort sowohl mit der rassistischen und menschenverachtenden Ideologie des Nationalsozialismus als auch mit den Folgen der SED-Diktatur aktiv auseinanderzusetzen. Der Turm der Garnisonkirche wird so zu einem interessanten und exponierten Lernort deutscher Geschichte werden.

Verantwortung lernen

Die Arbeit in diesem Bereich orientiert sich an einem mahnenden Wort Richard von Weizsäckers: „Wir lernen aus unserer eigenen Geschichte, wozu der Mensch fähig ist.“

Der Wiederaufbau des Turms der Garnisonkirche befördert den Diskurs darüber, wie wir zukünftig leben wollen. Offene und faire Debatten über unsere Herkunft, unser gegenwärtiges Selbstverständnis und die Gestaltung unserer Zukunft bringen unsere Bürgergesellschaft voran. Es braucht besondere Orte, an denen wir lernen, den Ruf der Freiheit zu hören und Verantwortung zu übernehmen.

Versöhnung leben

Hier folgt das Konzept Nelson Mandela, der an ein Grundelement christlichen Versöhnungshandelns erinnert, wenn er sagt: „Niemand wird geboren, um einen anderen Menschen zu hassen.“

Das christliche Verständnis vom Menschen weiß um die Doppeldeutigkeit menschlichen Tuns. Der Mensch kann sein Wissen und Handeln zum Guten oder zum Bösen nutzen. Darin zeigt sich eine Zwiespältigkeit, die sich in besonders drastischer Weise in der Geschichte der Garnisonkirche widerspiegelt – positiv wie negativ.

Zu der Zwiespältigkeit des Menschen tritt aus christlicher Perspektive die Erinnerung an Gottes großes Versöhnungswerk. Der unsichtbare Gott hat sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben. Gottes Solidarität mit einem Menschen, der von anderen mundtot und handlungsunfähig gemacht wurde, muss als leidenschaftlicher Protest und göttlicher Einspruch gegen menschliche Gewalt gedeutet werden. Doch die Auferweckung des Gekreuzigten lässt weder Angst noch Tod das letzte Wort! Das leere Grab weckt den Glauben, befördert die Liebe und stiftet neue Hoffnung.

Das Potsdamer Projekt steht seit 2001 in regelmäßigem Kontakt mit der Internationalen Nagelkreuzgemeinschaft. Die Nagelkreuzkapelle versteht sich als ein Ort, von dem die Erfahrung im Umgang mit eigener Schuld, mit beginnender Veränderung und mit geschenkter Versöhnung hinaus in die Welt getragen werden kann.

Das Raumprogramm im Turm der wiedererrichteten Garnisonkirche folgt dem Dreiklang des Nutzungskonzepts „Geschichte erinnern – Verantwortung lernen – Versöhnung leben“. Der Turm wird im Inneren eine Nutzfläche von über 1.200 qm auf vier Etagen haben. Zentraler Raum, das „schlagende Herz“ des Aufbauprojektes, wird die Kapelle im Erdgeschoss mit etwa 100 Plätzen sein. Hier werden Gottesdienste und Andachten gefeiert und kirchliche Amtshandlungen vollzogen. Die Kapelle wird zwei Etagen umfassen. In der 3. Etage sind mehrere Seminar- und Vortragsräume geplant, die von mehr als 100 Personen benutzt werden können. Dort wird die Bildungsarbeit beheimatet sein. Über dieser Ebene befindet sich die Ausstellungsetage. Beide werden durch eine darüber liegende Bibliothek ergänzt. Die Garnisonkirche wird damit als Symbolkirche und Erinnerungsort genutzt werden. In Zusammenarbeit mit vielen Partnern aus Wissenschaft, Forschung und Kultur werden die unterschiedlichen Bezüge der wechselvollen Geschichte aufgearbeitet, dokumentiert und vermittelt. Die konzeptionellen Überlegungen für die Nutzung der Ausstellungsflächen sehen sowohl eine Information zur Geschichte des Ortes als auch Raum für aktuelle Wechselausstellungen vor, die mit verschiedenen Partnern entwickelt werden. Im Hinblick auf die touristische Nutzung und die Einnahmen aus dem Turm sieht die Bauplanung einen auch für Rollstuhlfahrer geeigneten Aufzug zur Aussichtsplattform in 57 Metern Höhe vor.

Das Projekt ruht auf einem breiten Konsens in Kirche und Gesellschaft

Mit dem Fall der Berliner Mauer wurde im Osten Deutschlands ein demokratischer Neuanfang möglich. Nach der friedlichen Revolution des Jahres 1989 und dem Zusammenbruch der SED-Diktatur erklärte die erste frei und demokratisch gewählte Stadtverordnetenversammlung Potsdams: „Der Beschluss der Stadtverordnetenversammlung von 1968, der zur Sprengung der Garnisonkirche führte, war ein Akt kultureller Barbarei. Damit ging der Stadt Potsdam eine architektonische Meisterleistung von europäischem Rang verloren. Wir, die frei gewählte Stadtverordnetenversammlung, verurteilen diese politisch motivierte Tat, die stellvertretend für eine Vielzahl von Abrissen genannt wird. […] Der mögliche Wiederaufbau der Garnisonkirche wird in einer wirtschaftlich gesicherten Zukunft unserer Stadt seinen Platz finden; er wird nicht die Rettung der zu erhaltenden Originalbauten beeinträchtigen eher fördern.“

Auch die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz EKBO äußerte sich mehrfach zur Frage des Wiederaufbaus der Garnisonkirche. Dabei führten intensive Diskussionen mit Vertretern von Stadt und Land zu großer Klarheit im Blick auf den geplanten Wiederaufbau, die zukünftige Nutzung sowie die Gründung einer kirchlichen Stiftung als zukünftigem Bauherrn und Betreiber der Kirche.

Für die kirchlichen Gremien spielten die Fragen einer zukünftigen Nutzung die entscheidende Rolle. Zwei von der Kirchenleitung eingesetzte Arbeitsgruppen entwickelten unter der Leitung von Generalsuperintendent Hans-Ulrich Schulz einen überzeugenden inhaltlichen Ansatz, den sich die Kirchenleitung mit entsprechenden Beschlüssen in den Jahren 2001 und 2005 in seinen Grundzügen zu eigen machte.

Als im Jahr 2008 die kirchliche „Stiftung Garnisonkirche Potsdam“ errichtet wurde, die den Zweck hat, die Friedens‐ und Versöhnungsarbeit in der Garnisonkirche zu verantworten und zu fördern, beschloss die Kirchenleitung eine Zustiftung von 150.000 Euro. Dieser Entschluss motivierte andere Partner und Unterstützer, sich ebenfalls als Stifter zu betätigen oder den Wiederaufbau zu fördern.

Seitdem konnten insgesamt mehr als 26 Millionen Euro für die Gewinnung eines Ortes der Friedens‐ und Versöhnungsarbeit an historischer Stelle eingeworben werden. Mit einem Beschluss des Jahres 2013 wurden die Kosten einer landeskirchlichen Pfarrstelle zur besonderen Verfügung zu 50 Prozent von der Landeskirche übernommen. Damit war ein weiteres deutliches Zeichen gesetzt, dass die EKBO die Friedens‐ und Versöhnungsarbeit in der Garnisonkirche unterstützt. Auch diese Entscheidung führte dazu, dass andere Partner sich beteiligten, so dass seit dem 1. April 2014 eine volle Pfarrstelle finanziell für zunächst sechs Jahre abgesichert ist.

Die inhaltliche Arbeit entwickelt sich seither positiv. Am 20. Juli 2014 erhielt die temporäre Kapelle im Rahmen eines Gottesdienstes unter der Leitung des damaligen EKD-Ratsvorsitzenden Nikolaus Schneider den Namen „Nagelkreuzkapelle“. Von ihr gehen wesentliche Impulse einer auf eine breitere Öffentlichkeit ausgerichteten Stadtkirchenarbeit aus.

Im August 2014 befasste sich die Kirchenleitung erneut mit der Garnisonkirche und bekräftigte und präzisierte ihren früheren Beschluss wie folgt: „Die Kirchenleitung bekräftigt ihre Zustimmung zur Ausrichtung der inhaltlichen Arbeit, die in dem Dreiklang ‚Geschichte erinnern – Verantwortung lernen – Versöhnung leben‘ zum Ausdruck kommt.“

Zuletzt debattierte die Landessynode im Frühjahr 2016 ausführlich über das Projekt und stimmte schließlich mit einer Zweidrittelmehrheit zu.

Die Stadt Potsdam hat in den zurückliegenden Jahren den geplanten Rückbau sowie die Verschwenkung der Breiten Straße im Sanierungsgebiet Potsdamer Mitte veranlasst. Durch diese Maßnahme sowie den Abriss der ehemaligen Kantine des Rechenzentrums wurde die Baufreiheit für die Wiedergewinnung des Turms der Garnisonkirche erreicht. 

Nicht zuletzt sei noch erwähnt, dass unlängst Bundespräsident Frank Walter Steinmeier die Schirmherrschaft über das Wiederaufbauprojekt übernommen hat.

Zu jedem guten Projekt gehört eine gut besetzte Kritikerbank. Wie Sie wissen, erhält auch die Stiftung Garnisonkirche Potsdam viel kritische Aufmerksamkeit. Inhaltlich habe ich dabei folgende Kritikpunkte wahrgenommen, mit denen ich mich in der gebotenen Kürze auseinandersetzen möchte:

  1. Angesichts des „Geistes von Potsdam“, der sich mit diesem Gebäude verbinde, sei der Wiederaufbau abzulehnen. Dazu ist zu sagen, dass wir die Wiedergewinnung des Turms der Garnisonkirche nicht trotz, sondern gerade wegen der Dinge, die sich dort ereignet haben, für wichtig halten. Sie sollen in historisch fundierter und didaktisch ansprechender Weise präsentiert werden – „Geschichte lernen“ eben.
  2. Den Befürwortern des Projektes wird mitunter „Hinterzimmervorgehen“ und eine fehlende demokratische Legitimation des Projektes vorgeworfen. Dieser Vorwurf macht mich einigermaßen ratlos. Deshalb noch einmal: Es haben sich nicht nur die Kreissynode, die Landessynode, die Kirchenleitung der EKBO und der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, sondern auch die Stadtverordnetenversammlung ausgiebig mit diesem Thema befasst. Außerdem – und das ist Ihnen allen sicher auch nicht entgangen – gab es über Jahre hinweg zahlreiche öffentliche Veranstaltungen und eine intensive mediale Berichterstattung. Auch auf diesem Wege haben wir die jeweils nötigen Fragen verantwortungsvoll zu beantworten versucht. Nicht zuletzt wirken im Kuratorium der Stiftung Garnisonkirche Potsdam jeweils benannte Vertreterinnen und Vertreter von Stadt, Land und den einzelnen kirchlichen Ebenen mit und bringen sich konstruktiv kritisch ein. Nur am Rande erwähnt sei, dass auch der Friedensbeauftragte der EKD Mitglied im Kuratorium ist.
  3. Wahrgenommen habe ich auch die Unterstellung einer „Geheimagenda“, die am Ende zu einer neuen Remilitarisierung unserer Gesellschaft führen würde. Dazu kann ich nur sagen: Derartige Unterstellungen sind absurd. Sie entbehren jeder Grundlage und sollten im Sinne eines fairen Streits unterlassen werden.
  4. Anders ist auf die Kritik an der bisher nicht ausreichenden Auseinandersetzung mit der Geschichte sowie an zu wenig Raumangeboten im Turm, an zu wenig Forschungsgeldern und zu wenig Personal zu reagieren. Hinweise auf die Größe der Aufgabe, einen angemessenen Lernort deutscher Geschichte zu etablieren und dabei nicht zu kurz zu springen, erleben wir als konstruktive Mahnungen. Mit ihnen wollen und müssen wir uns beschäftigen.

Die Herausforderungen, vor denen wir, die wir den Wiederaufbau der Garnisonkirche in Potsdam anstreben, uns sehen, finden wir bei Richard von Weizsäcker, dem früheren Ehrenkurator für den Wiederaufbau des Turms der ehemaligen Hof- und Garnisonkirche als Ort der Friedens- und Versöhnungsarbeit, in seiner berühmten Rede vom 8. Mai 1985 wie folgt beschrieben, und damit möchte ich enden:

„Wir lernen aus unserer eigenen Geschichte, wozu der Mensch fähig ist. Deshalb dürfen wir uns nicht einbilden, wir seien nun als Menschen anders und besser geworden. Es gibt keine endgültig errungene moralische Vollkommenheit - für niemanden und kein Land! Wir haben als Menschen gelernt, wir bleiben als Menschen gefährdet. Aber wir haben die Kraft, Gefährdungen immer von neuem zu überwinden. Hitler hat stets damit gearbeitet, Vorurteile, Feindschaften und Hass zu schüren. Die Bitte an die jungen Menschen lautet: „Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Hass gegen andere Menschen, gegen Russen oder Amerikaner, gegen Juden oder Türken, gegen Alternative oder Konservative, gegen Schwarz oder Weiß. Lernen Sie, miteinander zu leben, nicht gegeneinander. Lassen Sie auch uns…dies immer wieder beherzigen und ein Beispiel geben. Ehren wir die Freiheit. Arbeiten wir für den Frieden. Halten wir uns an das Recht.  Dienen wir unseren inneren Maßstäben der Gerechtigkeit. Schauen wir….., so gut wir es können, der Wahrheit ins Auge.“