Vortrag am 7. Oktober in Sant’Egidio in Rom

Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland

Heinrich Bedford Strohm

Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm

»Den Horizont erweitern, die anderen neu entdecken«

Wir spüren es alle: Die Gesellschaft verändert sich. Aber in welcher Weise? Heute wird Gemeinschaft anders erfahren als in früheren Zeiten. Während die Gemeinschaft damals homogen war, mit einem stabilen gemeinsamen Wertekodex und einer festen und oft hierarchischen Ordnung, ist Gemeinschaft heute von Pluralisierung und Individualisierung gekennzeichnet. Ich betrachte dies nicht als Verfall, sondern als Chance, unterdrückerische Formen des gesellschaftlichen Lebens zu überwinden. Als eine Chance, Horizonte zu erweitern und die anderen neu zu entdecken. Ich denke, Religionen können viel dazu beitragen, die Risiken dieses Prozesses der Liberalisierung von Gemeinschaft zu begrenzen und gleichzeitig dessen Chancen zu würdigen.

Pluralisierung

Pluralisierung heißt, dass Menschen heute in einer Vielzahl unterschiedlicher Gemeinschaften leben – von Familie und Nachbarschaft über Kollegenkreise, Clubs,

Freunde aus der Vergangenheit und der Gegenwart bis hin zu den Schulen der Kinder mit all ihren Aktivitäten. Für die Vereine – und für die Kirchen und Parteien lässt sich dasselbe sagen – stellt dies natürlich ein Problem dar, weil Menschen heute für jede einzelne Gemeinschaft, in der sie leben, viel weniger Zeit haben.

Der amerikanische Soziologe Mark Granovetter unterscheidet »starke« und »schwache« Beziehungen[i] und schreibt jeder unterschiedliche Funktionen zu. Starke Beziehungen sind jene in vertrauten Gruppen, die ursprünglich am engsten mit dem Begriff „Gemeinschaft“ verknüpft waren. Sie vermitteln in erster Linie tiefere Gefühle wie Liebe und Geborgenheit, sie erfordern eine Menge Zeit und sind von einem hohen Grad an Einsatz gekennzeichnet. Schwache Beziehungen sind dadurch gekennzeichnet, weniger zeitaufwendig zu sein und weniger emotionalen Einsatz mit sich zu bringen. Ihre größte Stärke liegt in dem Umstand, dass sie am Rande eines persönlichen Netzwerks angesiedelt zu sein pflegen und daher eine Art Brückenfunktion zu anderen Gemeinschaftskontexten erfüllen können. Über schwache Beziehungen entstehen Zugangspunkte zu anderen gesellschaftlichen Milieus.

Granovetter führte ein interessantes Experiment durch. Er brachte in der Gemeinschaft eine Nachricht in Umlauf, die lautete: »Ich brauche eine Stelle, wer kann mir eine Stelle verschaffen?« Dann verfolgte der Soziologe, in welchen Kreisen jene Nachricht die Runde machte. Und er stellte fest, sie verbreitete sich in Gemeinschaften aller Art, weiß, schwarz, einfach Gemeinschaften aller Art, sie verbreitete sich über die schwachen Beziehungen. Und letztendlich bekam die Person die Stelle aufgrund der schwachen Beziehungen, nicht aufgrund der starken Beziehungen. Daher sagen die Soziologen: Für die „sozialen Unterstützungsleistungen“ im Alltag sind die schwachen Beziehungen heute von besonderer Bedeutung.

Darum sage ich: Man sollte die schwachen Beziehungen nicht beargwöhnen und sie nicht immer nur schlechtmachen. Auch schwache Beziehungen sind sehr wichtige Beziehungen, sie sind Brücken zu anderen Gemeinschaften und sind daher besonders wichtig in einer pluralistischen Gesellschaft. Man kann es auch etwas salopper ausdrücken: damit wir nicht immer nur in unserem eigenen Saft kreiseln.

Die sozialen Netzwerke im Internet spielen dabei eine wachsende Rolle – mit Chancen und Risiken. Sie können ein Ort sein, um starke Beziehungen zu pflegen – zum Beispiel, wenn Vater und Sohn von verschiedenen Kontinenten aus ihren Alltag über digitale Kanäle miteinander teilen können. Gleichzeitig gefährden Hetzreden in Filterblasen unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt. Eine vordringliche Aufgabe wird es sein, für das Internet Regeln aufzustellen, die den kommerziell gesteuerten algorithmusbasierten Mechanismen, die extremistische Inhalte befördern, menschenwürdebasierte Grenzen setzen.

Individualisierung

Der zweite Aspekt, den ich erwähnen möchte, ist Individualisierung. Individualisierung ist keineswegs automatisch gleichzusetzen mit selbstzentriertem Individualismus, wie manchmal angenommen wird. Vielmehr bedeutet Individualisierung zunächst nur, dass Menschen heute die Freiheit haben, ihr eigenes Leben so zu gestalten, wie sie es wünschen, anstatt feste Rollen und Lebenswege zugewiesen zu bekommen. Der Einsatz zahlloser Freiwilliger in politischen Parteien, Kirchen und Vereinen zeigt, dass solche Individualisierung keineswegs zu Egoismus und Isolation führen muss. Freiheit und Solidarität wollen als Geschwister verstanden werden. Doch Gemeinschaft ist nun nicht mehr auf feste Hierarchien und soziale Kontrolle, sondern auf Freiheit gegründet!

„Kommunikative Freiheit“ als eine Form von Individualisierung

Freiheit und gesellschaftlicher Einsatz dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern müssen als gegenseitige Ausdeutungen aufgefasst werden. Nichts verdeutlicht dieses spezifisch reformatorische Profil des Verständnisses von Freiheit besser, als die zwei zu Recht immer wieder zitierten Sätze, die Martin Luther seiner Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen vorangestellt hat: »Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.« In einer Zeit, in der häufiger als je zuvor die Frage gestellt wird, aus welchen Quellen sich heute eigentlich noch gesellschaftlicher Zusammenhalt speisen kann, ist diese These, jetzt über 500 Jahre alt, unerwartet modern.

„Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan« – das bedeutet, dass wir die modernen Freiheiten – die Möglichkeiten, unser eigenes Leben zu gestalten – aus unserem Glauben heraus von Herzen annehmen dürfen, dass wir uns jedem Rückfall in Autoritätsgläubigkeit, hierarchisches Denken oder rigide Rollenverständnisse entgegenstellen mögen und unsere eigene Individualität bejahen. Und gleichzeitig bedeutet es, dass wir diese Individualität nicht gegen andere – anstatt mit anderen – entwickeln können. »Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan“ – das bedeutet: Es gibt keinen besseren Weg, sich selbst zu verwirklichen und die gewonnene Freiheit zu einem erfüllten Leben führen zu lassen, als im Einsatz für die Gemeinschaft.

Gemeinschaft im gesellschaftlichen Leben von heute

Die Pluralisierung von Lebensstilen und Lebensplänen bietet großes Potential zur Bereicherung der Gesellschaft. Es ist wahr, dass der verbindliche Charakter der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gemeinschaft im Schwinden begriffen ist. Aber der Umstand, dass die Menschen – die sich heute in vielfältigen Netzwerkbeziehungen als modernen Formen von Gemeinschaft begegnen – unterschiedliche Erfahrungshintergründe mitbringen, muss auch als eine Ressource für Gemeinschaft angesehen werden, die in ihrer Dynamik nicht unterschätzt werden sollte. Kirchengemeinden können zu einer wesentlichen Quelle sozialen Zusammenhalts in der Gesellschaft werden, wenn sie soziale Milieubildung überwinden, wenn sie sich nach außen hin offen zeigen und enge Cliquenbildung eher hemmen als fördern.

Unter den Bedingungen der Liberalisierung von Gemeinschaft muss jeder sein eigenes Leben gestalten. Doch nicht jeder ist dazu in der Lage. Die kommunikativ weniger Begabten, die beruflich weniger Erfolgreichen, die Arbeitslosen oder jene, die von Armut betroffen sind, sind so etwas wie Liberalisierungsverlierer, weil sie es schwerer haben, Gemeinschaft zu finden. Kirchengemeinden müssen Orte sein, an denen nicht nur die Gewinner der Liberalisierung, sondern auch die Verlierer der Liberalisierung eine Heimat finden.

Kirchengemeinden sind Ausdruck eines Gemeinschaftsverständnisses, das sich auf kommunikative Freiheit gründet, weil sie entscheidende Akteure der Zivilgesellschaft und die idealen Mittler einer globalen Zivilgesellschaft darstellen. Sie sind weltweit vernetzt, aber gleichzeitig mit ihren Gemeinden in lokalen Kontexten tief verwurzelt. Genau solche Akteure brauchen wir, Akteure, die sich leidenschaftlich dafür einsetzen, dass irgendwann in der Zukunft jeder Mensch auf dieser Erde in Würde leben kann.

[1]  M. Granovetter, The strength of weak ties. A network theory revisited, in: American Journal of Sociology 78 (1973), 1360-1380 (1361).

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