Weihnachtspredigt 2000 in den Christvespern im Berliner Dom

Wolfgang Huber

"Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude." Deutlicher als mit diesem Prophetenwort kann man nicht beschreiben, was an Weihnachten vorgeht.

Aber was lässt uns jubeln an diesem Tag, liebe Gemeinde? Wodurch wird unsere Freude so groß? Wenn das Weihnachtsfest in Harmonie verläuft und ohne Mißklang bleibt, wenn der Weihnachtsfriede bei uns einkehrt - ja, dann besteht Grund zum Jubel, dann ist die Freude groß. Worauf warten wir also? Wir warten darauf, dass Weihnachten gelingt.

"Weihnachten ist gerettet." So kann man es in diesen Tagen hören und lesen. "Weihnachten ist gerettet." So heißt die große Verheißung derer, die wissen, wie man Werbung macht. Zur Begründung wird auf das Fernsehprogramm der nächsten Tage hingewiesen. Weihnachten gelingt wegen dieses Programms, den "Untergang der Titanic" eingeschlossen.

Ist Weihnachten damit gerettet? Ich bezweifle das.

2.


Kann man noch Weihnachten feiern? So hat in diesen Tagen jemand gefragt. Die Antwort liegt nahe: So jedenfalls nicht. Das Fernsehen, die verkaufsoffenen Sonntage, die Werbung: all das rettet Weihnachten nicht. Weihnachten wird nur gerettet, wenn wir uns dem verborgenen Sinn dieses Festes öffnen.

Weihnachten hat es mit einem großen Geheimnis zu tun. Die Heilige Nacht rührt uns stärker an als jede andere Nacht. Die Nacht, in der Gott Mensch wird, ist die wichtigste Nacht im Jahr.

Schon in der alttestamentlichen Prophetie wird die Geburt des Kindes angekündigt, dem wir die Wende der Zeit verdanken. Wir haben diese Verheißung zu Beginn unserer Christvesper gehört. "Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell." Mit diesen Worten beginnt die Verheißung des Propheten; über diesen Beginn habe ich im vergangenen Jahr gepredigt. Daran schließt sich der Fanfarenstoß an: "Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude." Das soll der Leitsatz für unser Weihnachtsfest im Jahr 2000 sein.

"Du weckst lauten Jubel; du machst groß die Freude." Wie gut, wenn Kinder und Erwachsene sich noch freuen können! Freuen kann sich, wer das einzelne noch wichtig nimmt: ein besonderes Geschenk, eine Botschaft, die Nähe zeigt, ein Zeichen für die Liebe eines Menschen, die zum Spiegel für die Liebe Gottes wird.

Gegen den allzu lauten Jubel hat die Erfahrung uns skeptisch gemacht; empfindsam werden wir eher für die leise Freude. "Unser Weihnachtsfest wird wieder normaler" sagte mir eine Gesprächspartnerin in diesen Tagen; "wir kommen dem Sinn dieses Festes wieder näher; wir brauchen nicht mehr so viele Sensationen. Auch auf die Zahl der Geschenke kommt es nicht mehr an. Dass wir zu uns kommen und dass wir Zeit für andere Menschen haben, ist uns wichtiger als jemals zuvor."

Der laute Jubel und die große Freude, von denen der Prophet spricht, verdanken sich nicht den Sensationen, die wir selbst hervorbringen, den Stapeln von Geschenken, die wir herbeischleppen, oder den Bergen von Essen, die wir bereitstellen. Der laute Jubel verdankt sich einem unscheinbaren Ereignis. Die große Freude breitet sich nur bei denen aus, die merken, worum es in diesem unscheinbaren Ereignis geht. Jubel wird laut, weil Gott die Welt nicht allein lässt. Die Freude bricht sich Bahn, weil Gott zu uns kommt.

3.


Weihnachten ist das größte Fest der Christenheit. Kein christliches Fest strahlt so weit über die Grenzen der Kirche und der Christenheit hinaus wie das Weihnachtsfest. Viele Menschen lassen sich vom Weihnachtslicht, von der Weihnachtsstimmung, von den Weihnachtsliedern anrühren und bewegen.

Dabei hat Weihnachten es mit einem kleinen, unscheinbaren Geschehen zu tun. Irgendwo am Rand, dort, wo keiner darauf achtet, wegen Überfüllung der Gasthäuser sogar nur in einer Notunterkunft, wird ein Kind geboren. In ihm kommt Gott zur Welt.

Das ist ein Wunder. Gott bindet sich an die menschliche Geschichte, so wie sie wirklich ist. Er lässt sich auf das menschliche Leben ein, in all seiner Zweideutigkeit. Nötig hätte er das nicht. Trotzdem bleibt Gott nicht für sich, er kommt zu uns. Ein größeres Wunder gibt es nicht.

Das größte Wunder in der Geschichte Gottes mit seiner Welt ist nicht die Schöpfung, so gewaltig ihre Ausmaße und so groß ihr Geheimnis ist. Das größte Wunder in der Geschichte Gottes mit seiner Welt ist das Geschehen von Bethlehem, das zunächst an den Rand gedrängt und übersehen wurde. Dass Gott in einem Kind zur Welt kommt, das feiern wir Jahr für Jahr mit lautem Jubel, das begrüßen wir mit großer Freude. Für die Schöpfung des Kosmos in seinen gewaltigen Ausmaßen wird kein vergleichbares Fest gefeiert. Unser größtes Fest gilt dem unscheinbarsten Ereignis in Gottes Geschichte mit seiner Schöpfung: Als Kind kommt er zur Welt.

Ein einziges menschliches Herz, hat der Philosoph Blaise Pascal gesagt, stellt gegenüber der ganzen Weite des Kosmos eine neue Größenordnung dar. Die Erneuerung unseres Lebens fängt nicht mit gewaltigen Bauwerken an, auch nicht mit den neuen Bauwerken in Berlin. Sie beginnt vielmehr mit der Erneuerung der Herzen, mit einer Verwandlung im Innern der Menschen. Weihnachten rührt uns so an, weil es mit dieser Verwandlung zu tun hat. Gott thront nicht über den Wolken; er kommt nicht in der unnahbaren Majestät des Schöpfers; er droht uns nicht mit seiner Allmacht. Er kommt uns nahe als Kind; er setzt sich der äußersten Armseligkeit aus; er lässt sich auf uns ein. Dieses unscheinbare Kind ist Gottes Liebeserklärung an diese Welt, an uns. Deshalb ist lauter Jubel angebracht, deshalb ist die Freude groß.

Jetzt ist Gott nicht mehr fern und unnahbar, sondern er ist uns ganz nah. Er setzt sich mit uns gleich. Er rührt uns an und lässt sich von uns anrühren. Er geht auf uns zu und lässt sich von uns empfangen.

4.


Ich weiß, dass viele Menschen Schwierigkeiten haben, sich Gott vorzustellen. Sie suchen nach einem Bild Gottes und spüren das Ungenügen an jedem dieser Bilder. Gott als das Geheimnis der Welt ist unserem Begreifen entzogen. Wir können ihn in kein Bild pressen. "Du sollst dir kein Bildnis machen" - so warnen die zehn Gebote mit großem Recht.

Doch von dem Zwang, uns selbst ein Bild von Gott zu machen, werden wir befreit, weil Gott selbst ein Bild von sich macht. Als "Bild Gottes" wird Jesus im Neuen Testament ausdrücklich bezeichnet. Die Überzeugungskraft dieses Bildes beruht darauf, dass es Gottes Freiheit auf unnachahmliche Weise zeigt. So groß ist Gottes Freiheit, dass er sich ganz klein machen kann. So überlegen ist Gott über Zeit und Raum, dass er die Erde als Schauplatz seines Handelns wählt, dieses Staubkorn im Weltall. So umfassend ist Gottes Herrschaft über alles Geschehen, dass er sich auf unsere Geschichte einlässt. So allumspannend ist Gottes Wirklichkeit, dass er sich ein einzelnes Volk wählt, das machtlose Israel, das Träger seiner Geschichte wird. So sehr ist Gott an allen Orten gegenwärtig, dass er einen besonderen Ort wählen kann, an dem er zur Welt kommt: Bethlehem.

"Du sollst dir kein Bildnis machen" - das gilt aber nicht nur von Gott. Wenn Gott ein menschliches Antlitz gewählt hat, um in unserer Welt heimisch zu werden, dann brauchen wir uns auch vom Menschen kein Bild mehr zu machen. Wir brauchen den andern oder die andere nicht in ein Bild zu pressen, dem er oder sie sich zu fügen hat. Wir brauchen das auch in diesen weihnachtlichen Tagen nicht zu tun, in denen wir so gern all unsere Nächsten auf ein solches Bild festlegen wollen, damit nur nichts Unerwartetes oder Unangenehmes passiert. Wir brauchen das nicht. In unserer Verschiedenheit können wir uns annehmen und lieben; denn Gott hat uns zuerst geliebt.

Wir brauchen auch die Fremden unter uns nicht länger auf ein Bild festzulegen, das uns nicht behagt. Auch die Zeit der Feindbilder ist vorbei. Ebenso wenig brauchen wir freilich uns selbst oder andere zu idealisieren und so zu tun, als gäbe es keine Schwierigkeiten - und seien es die Schwierigkeiten im Zusammenleben derer, die sich nicht kennen. Das Zusammenleben zwischen Fremden ist kein Spaziergang. Doch solche Nüchternheit verträgt sich mit der Kraft der Einfühlung, die den Fremden Raum gibt in der Herberge. Als Fremder kam auch Jesus zur Welt. Die Flucht nach Ägypten hätten wir ihm alle gern erspart. Heute liegt es an uns selbst, dass eine solche Flucht nicht nötig wird.

Aber auch von der Menschheit schlechthin brauchen wir uns kein Bild zu machen. Die Fortschritte in der Erforschung des menschlichen Erbguts zwingen uns nicht dazu, uns einem Bild vom vollkommenen und makellosen Menschen hinzugeben. Therapeutisches Klonen, Präimplantationsdiagnostik, aktive Sterbehilfe - solche Signalwörter bestimmten die Diskussion im Jahr 2000. Ihnen ist gemeinsam, dass ein Bild vom vollkommenen und makellosen Menschen entworfen wird, dem wir uns fügen sollen. Die Endlichkeit des Menschen soll geleugnet, seine Verletzlichkeit soll überwunden werden. Die wünschenswerten Fortschritte in der Heilung schwerer Krankheiten rücken dadurch in einen verhängnisvollen Zusammenhang.

Wir dürften die Zukunft des Menschen nicht länger Gott überlassen, titelte eine Zeitung, die damit die abgründige Verführungskraft des wissenschaftlichen Fortschritts deutlich kennzeichnete. An Weihnachten feiern wir, dass Gott Mensch wurde. Wir wollen die restliche Zeit des Jahres nicht dem Ziel widmen, dass der Mensch Gott wird.

Ein solches Vorhaben ist zwar zum Scheitern verurteilt. Aber es führt zur Perversion der Fortschritte, die möglich und wünschenswert sind. Bei diesen Fortschritten wird die Endlichkeit unseres Lebens nicht aufgehoben. Aber unzeitiger Tod wird vermieden. Das menschliche Leiden wird nicht beseitigt. Aber das Leid wird gelindert und überwindbares Leid wird überwunden. Leid zu lindern, ohne die Endlichkeit des Menschen zu leugnen, Menschen aufzurichten, ohne dass sie Gott gleich sein wollen - das ist ein Ziel, das unserer Weihnachtsfreude gemäß ist.

Gott ist nicht mehr jenseits, sondern kommt uns nahe. Er ist nicht mehr unbegreifbar, sondern lässt sich auf uns ein. Liebe zu Gott und Liebe zum Nächsten sind die selbstverständlichen Folgen aus dem, was in Bethlehem geschah. Gottesdienst und Dienst am Nächsten gehören zusammen. Wenn wir das verstanden haben, warum solllten wir dann nicht einstimmen in den lauten Jubel und in die große Freude? Ja - "Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude".

Amen.