Ein starkes Stück Leben

Der Fußball ist Seismograph der Gesellschaft

Torwart hält Fußball fest
Fußball ist nach Ansicht des ehemaligen EKD-Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber Motor der Integration, verbindendes Element zwischen sozialen Schichten und wichtigstes Thema auf Plätzen, in Stadien, in Rundfunk und Fernsehen.

Fußball ist ein starkes Stück Leben. Unbekannte klatschen sich nach dem Siegtreffer ab, Freunde liegen sich in den Armen, die Stimmen sind heiser. Der Fußball weckt mehr Emotionen als irgendeine andere Tätigkeit, zu der sich viele Menschen zusammentun. Er bewegt die Menschen in der Tiefe ihres Gemüts. Auch wer nie selber einen Ball ins Tor schießt, weiß, wie es geht. Millionen kennen die Mannschaftsaufstellung, auf die nur der Trainer unbegreiflicherweise nicht gekommen ist. Auch wenn sie nie Schiedsrichter waren, durchschauen sie, warum der Elfmeter zu Unrecht gegeben und das angebliche Abseitstor zu Unrecht verweigert wurde.

Den vielen Laienschiedsrichtern und Laientrainern wird auch weiterhin die Arbeit nicht ausgehen. Bei einer Weltmeisterschaft laufen sie traditionell zu Hochform auf. Zwar wird der Videobeweis in Zukunft in vielen Fällen zur klaren Bestätigung oder zur begründeten Revision von Entscheidungen beitragen; aber eine absolute Gerechtigkeit wird es auch dann nicht geben. Wer will, kann sich auch weiterhin ereifern.

Brutstätten des Sports

Nicht nur die Fans, sondern auch die aktiven Fußballer zählen hierzulande nach Millionen. Der Fußball ist Seismograph der Gesellschaft, Motor der Integration, verbindendes Element zwischen sozialen Schichten, wichtigstes Thema auf Plätzen, in Stadien, in Rundfunk und Fernsehen, Hauptinteresse vieler Zeitungsleser, unerschöpflicher Gesprächsstoff.

Umso erstaunlicher ist es, dass es diese Sportart erst so kurz gibt. Zwar behaupten kluge Lexika, man finde schon auf antiken Reliefs Abbildungen von Ballspielen, bei denen die Füße oder die Oberschenkel Verwendung fanden. Dass sogar der Kopf eingesetzt werden kann, scheint spätere Zutat zu sein. Auch im Mittelalter soll es derartige Ballspiele gegeben haben. Doch irgendwie verschwand das Spiel immer wieder, erst gegen Mitte des 19. Jahrhunderts gewann es, zunächst in englischen Schulen, dauerhaften Bestand. Nun wurden auch Deutschlands Schulen zu Brutstätten dieses neuen Sports. Dennoch sucht man noch in Meyers großem Konversationslexikon von 1876 zwischen „Fußbad“ und „Fußboden“ den „Fußball“ vergebens. Das ändert sich danach aber schnell.

Eine magische Fähigkeit

Heute wollen wir kaum glauben, dass es eine Zeit ohne diese Sportart gab. Aber eine Zukunft ohne sie würden nur die wenigsten ertragen. Millionen von Menschen in unserem Land sind Fans ihres lokalen Clubs. Es kann auch der Club der eigenen Jugend sein, an dem man ein ganzes Leben hängen bleibt. Manche müssen sich im Lauf eines Wanderlebens auch im Fußball umorientieren.

Wer Liga- und Pokalspiele, Champions-League und Europaliga auf der Vereinsebene, Freundschaftsspiele der Nationalmannschaften, den im September 2018 neu beginnenden Nationen-Cup (Nations League) des europäischen Fußballverbands (uefa), die Qualifikationsrunden für Europa- und Weltmeisterschaften und schließlich auch diese Meisterschaften selbst verfolgen will, der stößt auf ein zentrales ethisches Problem dieses Sports. Es besteht in dessen magischer Fähigkeit, die Zeit seiner Anhänger in Anspruch zu nehmen.

Die Vereinbarkeit von Beruf und Fußball ist für viele Menschen eine weit größere Herausforderung als die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Nicht aus Zufall schart sich um diesen Sport der besondere Fan-Typus der „Ultras“, deren Leidenschaft für ihren Sport bis zum Äußersten geht. Für sie ist Fußball nicht ein Zeitvertreib am Wochenende. Ihr Zeitmanagement, aber auch Outfit und Verhalten dokumentieren Tag für Tag, worauf es in ihrer Lebensführung ankommt: Fußball.

Nur eine Leidenschaft

So wird das starke Stück zum ganzen Leben. Andere Interessen, auch andere Menschen treten in den Hintergrund. Nur eine Leidenschaft zählt und oft auch nur eine Anhängerschaft: die für den eigenen Verein. Am Fußball wird exerziert, was Amartya Sen in einem klugen Essay die „Identitätsfalle“ genannt hat. Die Falle, die er meint, besteht darin, dass die vielschichtige Identität des Menschen auf ein einziges Identitätsmerkmal reduziert wird. Man kennt diese Falle in ihrer Anwendung auf Fremde, die man ausschließlich mit ihrer Religion, ihrer Herkunft oder ihrem sozialen Status identifiziert. Aber es gibt auch die Anwendung der Identitätsfalle auf sich selbst: eine Selbststilisierung, bei der man aus freien Stücken nur noch ein einziges Thema kennt.

Fußball ist jedoch nicht das ganze Leben, sondern nur ein starkes Stück davon. Freude und Leid, Jubel und Frust liegen dicht beieinander. Hier lässt sich lernen, auch in der Niederlage, ja sogar im Abstieg treu zu bleiben und auch im Jubel Augenmaß zu behalten. Im Fußball spiegelt sich der Geist der Zeit. Er war für Nationalismus anfällig und fügte sich kriegerischem Denken. Er bot Juden in der Zeit ihrer Diskriminierung eine Nische, die doch nicht den Schutz bot, den wir ihnen im Rückblick so sehr wünschen würden. Er wurde durch die Teilung Deutschlands angefochten und hatte den Weg zur Einheit auf seine Weise mitzugestalten. Er hat teil an den Vorurteilen der jeweiligen Zeit; aber er trägt zugleich starke Potenziale in sich, Vorurteile zu überwinden.

Im Kampf gegen Rassismus verfügt er heute über eine starke Stimme. Jeder Fußball-Fan hätte Jérôme Boateng gern zum Nachbarn – und inzwischen auch seinen älteren Halbbruder, den einst ungebärdigen Kevin-Prince, der inzwischen mit seinen 31 Jahren in Frankfurt zum weisen Anführer wurde. Und den Sexismus im Fußball werden nicht nur erfolgreiche Frauenmannschaften, sondern ebenso die Männer überwinden, die machohaftes Gehabe leid sind.

Haltung zu bewahren, wird immer schwieriger

Nicht nur für Fans und Freizeitfußballer, sondern auch für Profis und Heranwachsende, die es werden wollen, ist der Fußball Chance und Gefährdung zugleich. Für Fußballbegabte enthält er eine ungewöhnliche Aufstiegschance. Die in der jüngsten Vergangenheit stark professionalisierte Nachwuchsarbeit kann Talente entdecken und fördern. Doch mit dieser Chance verbindet sich die Gefahr der Enttäuschung; wird sie nicht verarbeitet und verwunden, können die persönlichen Folgen dramatisch sein. Uneinlösbarer Erwartungsdruck – sei es von Eltern oder Trainern – kann Biografien zerstören; die jugendliche Identifikation mit Neuer oder Özil kann das auch. Scheitert die erhoffte Profi-Karriere, ist es für andere Möglichkeiten der beruflichen Entwicklung oft zu spät.

Beeindruckend sind die Beispiele von Fußballern, die an ihre aktive Karriere vorbildhafte berufliche Entwicklungen, sei es im Sportbereich oder in anderen Tätigkeitsfeldern, anschließen. Bewundernswert sind diejenigen, die ihren Erfolg als Sportler in ein langfristiges gemeinnütziges Engagement umsetzen und dadurch auch über die Zeit als aktive Sportler hinaus ein gutes Beispiel geben. Denn in der Kommerzialisierung des Sports Haltung zu bewahren, wird immer schwieriger. Erfolgreiche Fußballer verdienen in jungen Jahren mehr als die meisten Altersgenossen. Doch ihnen wird auch sehr früh Reife abverlangt; denn unweigerlich werden sie zu role models für Kinder und Jugendliche, ob sie das wollen oder nicht. Es hängt viel davon ab, dass sie sich nicht einreden lassen, sie seien Fußballgötter, sondern Menschen bleiben, die auch zu ihren Fehlern stehen.

Das kann man im Fußball besonders gut lernen. Denn er ist eine außerordentlich fehleranfällige Tätigkeit. Wenn die moderne Technik in Auto, Bahn oder Flugzeug die Fehlerquote eines durchschnittlichen Fußballspiels aufwiese, würden alle lieber zu Fuß gehen. Zum Glück gleichen sich im Fußball Fehler häufiger aus als im normalen Leben. Der Verteidiger verfehlt den Ball, der Stürmer schießt über das Tor – und alles ist gut.

Steil, nah und laut

Der Fußball ist ein Teil unseres Lebens und geht mit der Zeit. Die Digitalisierung greift mit Macht nach ihm. Sie zu nutzen ist aller Ehren wert. Durch digitale Medien den Kontakt mit den Fans zu stärken, eine gewaltfreie, auf Pyrotechnik verzichtende Fankultur zu fördern – das ist eine große und wichtige Aufgabe. Im Netz die Interaktion zwischen Spielern und Fans zu ermöglichen, ist großartig – vorausgesetzt, die Spieler kommen noch zum Atmen. Der Fußball selbst bleibt zum Glück analog: ein unberechenbares Spiel – und die Atmosphäre steil, nah und laut.

Dass die Kommerzialisierung nach dem Fußball greift, lässt sich gar nicht vermeiden, wenn man Profisport wirtschaftlich erfolgreich gestalten will. Aber die Grenze zum Menschenhandel muss unverbrüchlich sein. Wenn ein Spieler auf dem Transfermarkt mehr als Handelsware denn als Person erscheint, wird diese Grenze überschritten. Niemand sollte sich in die Bewusstseinsspaltung verstricken, mit der auf der einen Seite horrende Managervergütungen immer massiver kritisiert und auf der anderen Seite ebenso horrende Spielergehälter achselzuckend hingenommen werden. Wenn ein erfolgreicher Profi zugibt, die Summen seien überzogen, ist das ein erster Schritt. Von einem Investment-Banker würde man das auch gern hören.

Große Bewährungsprobe

Der Fußball steht auch aus anderen Gründen vor einer großen Bewährungsprobe. Der Verdacht von Bestechung und Bestechlichkeit steht im Raum. Die Schatten fallen weit zurück, auch auf das „Sommermärchen“ von 2006. Im Kreis von Fachleuten zum Thema Sport und Korruption ist das Wort „Weltsportkorruption“ zu hören. Wie soll man Spielern, Trainern und Verantwortlichen im eigenen Land den Rücken für ihre Vorbildrolle stärken, wenn der internationale Sport, so ein anderes Wort, als „weitflächig verrottet“ gilt? Im Fall Katar wurde auf Zeit gespielt, um dann zu sagen, an der Entscheidung für die dortige Fußball-Weltmeisterschaft im Weihnachtsmonat 2022 lasse sich sowieso nichts mehr ändern. So entsteht kein neues Vertrauen - im Gegenteil. Es kann die Fußballnation Deutschland und ihre Vereine nicht mehr unberührt lassen, wenn es mit der „Weltsportkorruption“ so weitergeht. Und andere auch nicht.

In der Korruptionsanfälligkeit des internationalen Sports hat sich die Vorstellung schon längst verflüchtigt, internationale Wettbewerbe könnten einen Beitrag zur Förderung von Frieden und Menschenrechten leisten. Trotzdem kann niemand dem Konflikt zwischen den politischen Verhältnissen in einem Land und seiner Rolle als Gastgeber für Sportveranstaltungen ausweichen. Philipp Lahm, der Südafrika vor der Weltmeisterschaft 2010 besuchte, um eine Vorstellung von dem Land zu gewinnen, in dem er für Deutschland auflaufen sollte, ist ein gutes Beispiel. Aber Sportler können nur begrenzt für die Klarheit sorgen, die in solchen Fällen nötig ist. Noch wichtiger ist Mut in der gesellschaftlichen Debatte; sie ist eine unerlässliche Voraussetzung dafür, diesen Mut auch von politischen Repräsentanten zu fordern. Diplomatie ist eine hohe Kunst; aber sie setzt politische Wahrhaftigkeit voraus. Wenn Königshaus und Regierung von Großbritannien auf Reisen zur Weltmeisterschaft in Russland verzichten, kann das zu einem Zeichen werden, das Nachahmung verdient.

Wer die Kapelle im Berliner Olympiastadion besucht, begegnet innen wie außen einem nachdenklichen Wort Jesu: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“ Vor jedem Spiel können die Sportler diesen Satz lesen. Er passt zum Fußball, einem starken Stück Leben.

Wolfgang Huber (für zeitzeichen)