Zur Rolle der Kirchen in der Politik

Robert Leicht

Magdeburg

Läßt sich das Thema dieses Abends eigentlich - schon - auf eine uns im Osten und Westen Deutschlands gemeinsame Weise beantworten?

Die staatliche Einheit haben wir nun seit bald acht Jahren - aber die Unterschiede zwischen den Gesellschaften sind doch mit Händen zu greifen, wenngleich keineswegs schon einfach auf den Begriff zu bringen. Dies gilt nun beileibe nicht nur für die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede, sondern viel mehr noch für die Unterschiede in den Biographien, Mentalitäten und in den Erwartungen an die Zukunft.

Wobei ich doch sehr davor warnen möchte, die Dinge zum Ausgleich an der falschen Stelle zu vereinfachen. Gewiß, in einer simplen Weise können wir leicht unterscheiden und sagen: Der oder die stammt aus dem Westen, aus dem Osten; irgendwie scheint das immer wieder auf der Hand zu liegen. Aber es beleidigt die Individualität des einzelnen Menschen und widerspricht jeglicher realistischen Soziologie, über all dem jeweils gemeinsamen "Stallgeruch" in Ost und West folgendes zu verkennen: Auch innerhalb der beiden deutschen Teilgesellschaften gibt es große Unterschiede.

Im Osten wie im Westen gibt es viele Bürger, die sich keinesfalls auf die ewige Rolle als "Ossi" und "Wessi" - und auf die dazu gehörenden Klischees - festlegen lassen wollen; und nicht zwischen allen Ostdeutschen und Westdeutschen wird Kannitverstan gesprochen. Im Osten gibt es Gewinner und Verlierer der Einheit, so wie es früher Täter und Opfer gab.

Im Westen gibt es nicht nur Menschen, die unter den Lasten der Einheit maulen - sondern auch viele Bürger, die sich über die wiedergewonnene Einheit freuen (und sich mit den Landsleuten darüber freuen) wollen; teils aus dem Bewußtsein einer gemeinsamen Haftung für die deutsche Vergangenheit der Jahre 1933-1945; teils, weil sie selber im Osten Deutschlands geboren wurden und nun zu einem ausgeblendeten Teil ihrer eigenen Biographie zurückfinden, teils, weil sie wissen, daß die deutsche Geschichte [und nun zumal die deutsche Kirchengeschichte, auch die Kirchenmusik-Geschichte] zu beachtlichen Teilen in dem Teil Deutschlands geschrieben wurde, der heute zu Recht Ostdeutschland heißt; teils, weil sie wissen, daß ohne Überwindung der inneren Teilung Deutschlands auch Europa nicht recht zusammenfinden kann. [ Und es gibt Westdeutsche, bei denen alle diese Gründe in Eins fallen - zum Beispiel ihren heutigen Gast.]

Sie sehen: Es ist gewiß nicht einfach, vielleicht sogar unmöglich, die Frage nach der Rolle der Kirchen in der Politik für Ost- und Westdeutschland so zu beantworten, daß die Dinge über einen Kamm geschoren werden. Nicht einmal die Rolle der Politik in der Politik ist in Ost und West die selbe - geschweige denn die Rolle der Kirchen als Kirche.

Kommt hinzu, daß noch nicht einmal Einigkeit herrscht - und zwar weder in Ost noch West - über die Rolle der ostdeutschen Kirchen im Staat vor 1989 und in der Umwälzung des Jahres 1989. Lange Jahre galten die Kirchen, vor allem die evangelischen Kirchen in der DDR, sowohl als die eigentliche politische Opposition und zugleich als die eigentliche Verkörperung der bürgerlichen Gesellschaft in der DDR; wer als Westdeutscher mit Pastoren und Superintendenten sprach, schien beides zugleich zu verstehen: den Zusammenhalt und den Widerspruch der ostdeutschen Gesellschaft. Und dann kurz nach der Einheit der Umschlag ins Gegenteil: Nun erschien mit einem Mal vielen (und zwar nicht nur in Westdeutschland - und nicht nur einem westdeutschen Kirchenhistoriker) die Evangelische Kirche geradezu als Stabilisator der SED-Herrschaft.

Und selbst innerhalb der evangelischen Kirchen in Ost und West waren und bleiben Spannungen spürbar. Es waren allerdings nicht nur ostdeutsche Protestanten, die unter dem Eindruck standen: Hier, in Ostdeutschland, finde Kirche in weitaus glaubwürdigerer Weise statt. "Es kostet viel, ein Christ zu sein" - dieses alte Kirchenlied schien eher nach Ost- als nach Westdeutschland zu passen. Und in einer bestimmten Weise traf dies ja auch tatsächlich zu. Aber war damit schon Entscheidendes darüber gesagt, ob in Ostdeutschland echte, in Westdeutschland un-echte Kirche gehalten wurde?

Und woher erklärt sich der rasante Bedeutungsverlust der Kirche in Ostdeutschland nach der Wende? Wobei ich - um das auch an diesem Abend zu vermerken - den Eindruck habe, dieser Bedeutungsverlust treffe den Protestantismus viel schärfer als die katholische Schwesterkirche; zumal da, wie mir scheint, die katholische Kirche und Elite viel schneller ihre Chancen wahrgenommen hat, nach der Wende Politik in Ostdeutschland zu gestalten, bis hin in die Personalpolitik.

Was ich als Nächstes sagen werde, soll - bitte! - keine Drohung sein: Im Grunde müßten wir also über unser heutiges Thema zwei Vorträge halten.

Das ist nun aber ein Ding der Unmöglichkeit - und zwar nicht nur aus Gründen der Höflichkeit und der Zumutbarkeit, sondern zu allererst aus theologischen Gründen: Wir sind ein Volk! - das ist ja nicht nur eine in ihrem Überschwang vergängliche politische Parole, sondern theologisch richtig verstanden ist uns doch verheißen: Wir sind das eine Volk Gottes - zusammen mit anderen weltlichen Völkern.

Man kann sehr wohl fragen nach dem Beitrag der Kirchen zur inneren Einheit unseres Volkes - und zwar ganz bestimmt, ohne die Kirchen zu Handlangern der National-Politik, gar des Nationalismus oder überhaupt: zu einer Nationalkirche zu machen. Aber wenn wir nach der inneren Einheit der Kirche suchen - und dies ganz ohne nur politische Zweckbestimmung -, so wird dies im Erfolgsfalle unvermeidlich ausstrahlen auf die innere Einheit unseres politischen Gemeinwesens. Und nur aus dieser Perspektive, dann aber ganz deutlich dürfen wir uns fragen: Wie sollen wir zur inneren Einheit als Kirche finden, wenn uns in der Gesellschaft noch so vieles trennt?

Theologisch gesprochen kommt der Einheit der Kirche jedenfalls der Vorrang vor der Einheit der Nation zu.

Erstens - aus einem systematischen Grund: Der Christ hat nun einmal Gott im Zweifel mehr zu gehorchen als den Menschen - und folglich ist für ihn die Christengemeinde der Bürgergemeinde vorgeordnet, freilich nicht im politisch luftleeren Raum; in diesem Sinne ist die Christengemeinde ihm zugleich Vorbild der Bürgergemeinde.

Zweitens - aus einem sozusagen charismatischen Grund: Der Christ versteht die Einheit in der Kirche wie im Gemeinwesen zuerst als Geschenk, das seine Kräfte übersteigt; er weiß, daß diese Einheit scheitern müßte, wenn sie allein auf sein Vermögen angewiesen wäre. Daß unsere politische Einheit hinter so vielen Erwartungen hinterherhinkt, hat - so gesehen - eben auch damit zu tun, daß wir uns zugetraut haben, solche Umwälzungen sozusagen mit links und aus der Portokasse zu bewältigen; auf diese Weise haben wir unsere wirtschaftlichen und finanziellen Fähigkeit maßlos unterschätzt - im Westen wie im Osten; wir haben aber vor allem überschätzt, was selbst im Falle eines hundertprozentigen Erfolgs der gelungene wirtschaftliche und soziale Ausgleich an Versöhnung der Schicksale leisten könnte, an Versöhnung aber auch der Schuld.

Aufgabe der Kirchen war es gewesen, wäre es gewesen und ist es immer noch: Das Zustandekommen der Einheit als ein unverdientes und un-verdienbares Befreiungsgeschehen zu verstehen und zu predigen, als Befreiung von Schuld, Leid und Last, als Befreiung zur Versöhnung mit der Trennung und zur Solidarität im Zusammenwachsen. Christliche Theologie ist keinesfalls nur politisch und keinesfalls nur mit politischer Absicht, sondern ganz theologisch: Befreiungstheologie. Je theologisch glaubenswürdiger die Kirche von dieser Befreiung spricht, desto stärker relativieren sich die Unvollkommenheiten, Enttäuschungen, ja Verbitterungen des politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, geistigen und seelischen Zusammenwachsens - wobei freilich niemand der Illusion anhängen darf, die Politik habe das Werk vollkommener Seligkeit auf Erden auszurichten. Ein politisches, ein demokratisches Gemeinwesen ist keine säkularisierte Heilsordnung, sondern nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine Einrichtung, in der handfeste Konflikte als legitim anerkannt werden - aber dann nach dem Gesetz allgemeiner Freiheit in rechtlich geordneten Bahnen und in sozialer Verantwortung, also: zivilisiert abgearbeitet werden.

Dialektisch formuliert: Mit ihrer radikalen Befreiungstheologie relativiert die Kirche die politischen und sozialen Spannungen radikal. Aber gerade mit dieser radikalen Relativierung der Defizite an gemeinsamer Freiheit und an Freiheit in Gleichheit fördert sie recht eigentlich die Überwindung der politischen, sozialen und geistigen Trennung. Und zwar, indem sie die Trennungen zurückweist auf den Rang des Vorläufigen, dem keine absolute Macht über uns, keine Übermacht zukommt - und dessen wir uns also gestaltend bemächtigen können.

Fundamental ausgedrückt: Die entscheidende Rolle der Kirche in der Politik ist - daß sie Kirche ist. Und bleibt. Und immer wieder wird.

Ich bitte Sie sehr um Nachsicht, daß ich Sie zunächst mit dieser grundsätzlichen Verhältnisbestimmung traktiert habe, ja traktieren mußte. Aber über pragmatische Fragen kann man erst reden, wenn die prinzipiellen Verhältnisse geklärt sind. Zugleich aber haben wir auf diese Weise, wie mir scheint, den archimedischen Punkt bezeichnet, aus dem sich die Frage nach der Rolle der Kirche in der Politik für Ost- wie Westdeutschland - und im Zusammenwachsen beider - als gemeinsame Frage beantworten läßt.

Wenn es aber stimmt, daß die zunächst entscheidende Aufgabe der Kirche in der Politik darin besteht, daß sie Kirche bleibt, dann ist freilich eine sehr praktische und aktuelle Bemerkung fällig - und zwar just in dieser Stadt und in dieser Woche:

Der größte denkbare Bedeutungsverlust für die Kirche, und zwar in erster Linie für die evangelische Kirche in der Politik gerade dieses Bundeslandes war in den vergangenen Wochen darin zu sehen, daß es nicht gelungen ist, zwei führende Politiker Sachsen-Anhalts, die anerkannt als evangelische Christen gelten, an einen Tisch zu bringen - sie also dazu zu bewegen, ihre persönliche Feindseligkeit soweit zu domestizieren, daß normale demokratische Gespräche unter normal demokratischen Parteien möglich und ertragreich werden. Ich habe mich gefragt, was wohl geschehen wäre, wenn der hier zuständige Bischof öffentlich wahrnehmbar Herrn Höppner und Herrn Bergner zu einem Gespräch unter Christen gebeten hätte? Wäre dies nicht ein Beitrag zur politischen Diakonie gewesen? Oder war ein solcher Versuch von vorneherein aussichtslos gewesen? Der geistliche Flurschaden, den dieses Freund-Feind-Denken zwischen zwei politisch hervorgetretenen Christen - auch im Ansehen der evangelischen Sache - angerichtet haben muß, sollte jedenfalls nicht unterschätzt werden. Wie soll man da noch der evangelischen Botschaft Glauben schenken und darauf vertrauen, daß Christen in der Politik einen speziellen Beitrag leisten können, wenn sie doch nur miteinander umgehen wie Hund und Katze? Und welche Rolle kann angesichts dessen die Kirche in der Politik überhaupt noch beanspruchen?

Die Kirche muß also, darin liegt ihr erster Beitrag zur Politik, als Kirche offenkundig und glaubwürdig bleiben. Aber sofort danach gilt dann nicht weniger: Die Kirche darf nicht nur Kirche in ihrem eigenen Bereich und im engeren Sinne bleiben wollen. Verkündigung ist eine öffentliche Sache - und deshalb kann die Kirche nicht anders als zu öffentlichen Sachen Stellung nehmen. Sie kann nicht aufgehen und aufhören im politischen Geschäft; aber sie kann auch nicht das politische Geschäft aufgeben und davor aufhören. Folglich muß sie auch Position beziehen zu der Ordnung, in der die Politik verfaßt ist, sie muß sich in Beziehung setzen zu der jeweils gegebenen politischen Verfassung.

Hier scheint mir eines der vielen deutschen Verständigungsprobleme zwischen Ost und West zu liegen: Vor 1989 hätte die Kirche im Osten schon dann eine höchst politische Funktion gehabt, wenn sie nichts anderes hätte sein wollen, als Kirche für sich allein. Und manche Kirchenleute wollten ja nicht mehr - aus der Distanz zum herrschenden politischen System, aus Sorge um die Möglichkeiten der Kirche, aus der Befürchtung, die Gemeindemitglieder zu überfordern - oder aus ganz traditioneller vor-sozialistischer Distanz zur Kirche. Ich erinnere mich noch eines Treffens der Ephoren der sächsischen Landeskirche im November 1989 - nach Honeckers Sturz, aber noch vor dem Mauerfall: Wann, so lautete damals die Frage, können wir endlich wieder Kirche sein - müssen wir uns also nicht mehr um das ungewohnte Volk der Demonstranten und der Besucher der Friedensgebete kümmern?

Vor 1989 also war die Kirche in Ostdeutschland schon im engsten Kreise, ganz ohne es eigentlich zu wollen, ein politischer Faktor; das war riskant - aber irgendwie auch heroisch. Nun aber mit einem Mal: die offene Gesellschaft. Die Kirche rein als solche war mit einem Mal weder gefährlich noch ein politischer Faktor. Wenn sie nur im engsten Sinn Kirche hätte bleiben wollen, so wäre sie von Bedeutungsarmut bedroht gewesen - hätte sie aber Bedeutung erlangen wollen, hätte sie sich sehr weit in die doppelt unbekannte Terra icognita der Politik in einer offenen Gesellschaft hinauswagen müssen; beides aber war vielen unbekannt: die Politik und die offene Gesellschaft. Daraus erklären sich nicht nur manche Skepsis, manche Ablehnung, manche Suche nach einem dritten Weg, manche uneingestandene Nischen-Nostalgie. Und manchmal, wie mir scheint, das Gefühl, letztlich doch der falschen Geschichte gefolgt und unterlegen zu sein.

Die Kirche kann in einer offenen demokratischen Gesellschaft nur aus innerer Überzeugungskraft und aus der Bereitschaft, sich auf diese offene Gesellschaft einzulassen, Wirkung entfalten. In einer Diktatur, auch in einer Diktatur des Proletariats, wirkt auch die Kirche schon allein aus der Tatsache des Widerspruchs; jeder, der einer solchen Diktatur widerspricht, wird ihr gefährlich - und ist schon deshalb ein politischer Faktor, selbst in der faktischen Ohnmacht. In einer offenen Gesellschaft hingegen ist der Widerspruch, das macht ja gerade ihre Freiheitlichkeit aus, als solcher ungefährlich - und deshalb rein als solcher noch nicht bedeutend. Bedeutung erlangt dieser Widerspruch, oder: Einspruch, oder: diese Ein- und Mitrede nicht, insofern die Mächtigen verängstigt reagieren, sondern erst und allein in dem Maße, in dem die Bürger sachlich überzeugt werden. (Diese Tatsache erklärt im übrigen auch in der Hauptsache den gewaltigen Bedeutungsverlust der Kirche in Ostdeutschland: Es war einfach, Erich Honecker und seine Partei in Angst und Schrecken zu versetzen - aber es ist sehr viel schwieriger, Bürger, die keine Macht mehr zu fürchten haben, zu gewinnen.)

Kirche in der Demokratie: Die rechtsstaatlich verfaßte, freiheitliche Demokratie ist in der Tat jene Staatsform, die den christlichen Vorstellungen von einem wohlgeordneten Gemeinwesen am nächsten kommt. Nicht weil die Demokratie als solche eine christliche Staatsform wäre, sondern weil sie

  1. allen, und damit: auch den Christen am ehesten die Möglichkeit gibt, ihre Überzeugungen frei zu bekennen
  2. allen, und damit: auch den Christen am ehesten die Möglichkeit gibt, ihren Überzeugungen gemäß sich an der politischen Gestaltung zu beteiligen
  3. zwischen Staat und Kirche, zwischen Politik und Religion unterscheidet, also den Staat vor ideologischer und die Kirche vor politischer Anmaßung bewahrt
  4. ein beiderseits freies Miteinander von Staat und Kirche in Kritik und Zustimmung zu einzelnen Entscheidungen ermöglicht.

Deshalb hat die "Demokratie-Denkschrift" der EKD im Jahr 1985 zu Recht formuliert:

"Als evangelische Christen stimmen wir der Demokratie als einer Verfassungsform zu, die die unantastbare Würde der Person als Grundlage anerkennt und achtet. Den demokratischen Staat begreifen wir als Angebot und Aufgabe für die politische Verantwortung aller Bürger und so auch für evangelische Christen. In der Demokratie haben sie den von Gott dem Staat gegebenen Auftrag wahrzunehmen und zu gestalten."

Diese Denkschrift war seinerzeit von leitenden Christen in der DDR, gelinde gesagt, mit großem Vorbehalt aufgenommen worden - als ob damit die Demokratie gewissermaßen heilig gesprochen werden sollte und als solle damit bestritten werden, daß man unter anderen politischen Ordnungen als Christ leben könnte. Das war aber nie die Frage. Man kann im Nachhinein vielleicht verstehen, daß die westdeutschen kirchlichen Gesprächspartner ihre Denkschrift nicht offensiver gegenüber ihren ostdeutschen Schwestern und Brüdern vertreten haben - wie dies Uwe-Peter Heidingsfeld kürzlich in einem Vortrag bemerkt hat -: schon um sie nicht besonderen politischen Verlegenheiten auszusetzen. Aber Gründe für ein deutlicheres Vertreten der Sache hätte es in der Sache schon gegeben.

Der hohe Wert der Demokratie liegt für Christen gerade darin begründet, daß sie keine Herrschaft über die Gewissen begründet, sondern sich selber die Freiheit der Gewissen zugrundelegt. Gerade weil die Demokratie nicht beansprucht, heilig gesprochen zu werden, ist sie eine heilsame Staatsordnung; eben weil sie - anders als etwa der Sozialismus - keinen geistigen Monopolanspruch erhebt, hat sie fast einen Monopolanspruch auf Wertschätzung auch durch Christen. Dies ist nicht nur ein pragmatischer, sondern ein durchaus auch theologisch relevanter Tatbestand.

Die Freiheit des Christseins und der Mitwirkung der Christen an der Politik, die in der Demokratie größer ist als in anderen Staatsformen, garantiert freilich keineswegs eine christliche Politik - und schon gar keinen privilegierten Einfluß der Christen oder gar der Kirchen auf die Politik. Die Freiheit der Christen und ihres Gewissen verweist diese Christen (und die Kirchen) vielmehr auf die Freiheit der Gewissen der anderen Bürger - und auf das Risiko des Mißlingens dieses Überzeugungsprozesses wie des Mißlingens christlicher Politik, sofern es so etwas wie christliche Politik als einheitliche Vorstellung je geben könnte. Dieses Risiko spricht aber nicht gegen die Demokratie als Staatsform, sondern allenfalls gegen die Überzeugungskraft der Christen und ihrer politischer Vorstellungen. Dieses Risiko ist zum einen der unabänderliche Preis der Freiheit. Dieses Risiko gehört aber auch zur eigentümlichen Würde der Demokratie, insofern diese Verfassungsform - ein Zeichen ihrer Aufgeklärtheit! - zu trennen versteht: nicht nur zwischen Staat und Kirche, zwischen Politik und Religion (oder Weltanschauung, ja Ideologie), sondern eben auch zwischen Staatsform und Politik, zwischen Staat als konstanter Form und Politik als wechselvollem Inhalt. Wer diese Differenz im Interesse der ein für allemal richtigen Politik aufgeben wollte, müßte die Freiheit demokratischer Entscheidung, ja die Freiheit selber aufgeben.

So unvollkommen und kritikwürdig also demokratische Politik in den Augen der jeweils aktuellen Minderheit bleiben muß, so gefährlich wäre es, diese spezifische Kritik an der Politik in eine General-Kritik an der Demokratie umschlagen zu lassen. Hier also gilt nun wirklich Churchills Wort von der Demokratie als der schlechtesten Staatsform - außer all den anderen, die wir von Zeit zu Zeit ausprobiert haben.

Es müßte mit einem Wunder zugehen, wenn die Kirche nichts an der jeweils gegebenen Politik auszusetzen hätte; sie hat in aller Regel guten Grund, auf eine bessere Politik zu hoffen und für sie entschieden zu werben. Sie würde allerdings diese Hoffnung in pure Illusion verkehren, wollte sie auf eine bessere Staatsform hoffen - und sich von einem Wechsel der Staatsform auf Dauer eine bessere Politik versprechen. Und oft genug ist auch die Hoffnung auf einen bloßen Regierungswechsel, jedenfalls theologisch, eine gewagte Sache...

Was also hätte die Kirche in der gegenwärtigen Lage sozusagen verfassungspolitisch zu tun? Ich denke, sie hätte im Osten Deutschlands, unter den vielen Bürgern, die in dieser Demokratie innerlich noch nicht richtig angekommen sind, für dieses politische Modell zu werben, ohne Hoffnung oder Illusion, die sich auf dritte oder vierte Wege richtet - und nähmen sie von Erfurt ihren Ausgang. Sie hätte aber unter denen, die im Westen und in dieser Demokratie schon zu selbstzufrieden leben, immer wieder das Bewußtsein wachzuhalten, für die Vorläufigkeit und Unvollständigkeit aller politischen Ordnung, auch der Demokratie. Ein Verhältnis also der kritischen Loyalität - hier eine stärkere Betonung auf der Loyalität, dort auf der Kritik, in jedem Fall aber die Differenz des Zusammengehörenden.

Diese Differenz läßt sich an einem aktuellen Beispiel demonstrieren:

Wenn die Kirche - um mit Bonhoeffer zu sprechen - immer nur Kirche für andere sein kann, und das heißt heute, um Bonhoeffers Anstoß ganz deutlich zu machen: Kirche für (potentiell) alle anderen, dann ist Raum und Botschaft der Kirche weit, offen und universell in einer Weise konkret bestimmt, in der es der konkrete, partikulare Staat nie sein kann. Diese Differenz wird aktuell nirgendwo sonst so plastisch wie beim Streit um das sogenannte Kirchenasyl. Die Kirche muß mit der Grenze des Staates (und zwischen Staaten) leben - und indem sie dies als Tatsache anerkennt, die sie selber nicht durch prinzipiell andere Ordnung ersetzen kann, macht sie den Staat zugleich auf seine Begrenztheit aufmerksam - freilich, ohne sich selber an die Stelle des Staates setzen zu können oder zu wollen. Es gibt eben keinen Kirchenstaat - was immer dabei herauskäme: es wäre keine freie Kirche und kein freier Staat.

Ich hatte Ihnen versprochen, nur einen Vortrag zu halten. Folglich muß ich es unterlassen, nun auch noch in an sich gebotener Ausführlichkeit über die Rolle der Kirche in der Wirtschaft und über das Verhältnis der Kirche zu einer freien, sozialen und ökologischen Marktwirtschaft zu sprechen - obwohl, wie mir scheint, die Verständigungsprobleme dort noch viel größer sein dürften. Aber was in politischer Absicht zu sagen war über die Notwendigkeit, sich als Kirche, als Christ auf dem freien - wenngleich rechtlich geordneten - Markt der Meinungen frei und verantwortlich zu bewegen, gilt in übertragener Weise auch für den Markt der Güter und Dienstleistungen. Natürlich muß auch dieser Markt vom Staat rechtlich verfasst werden und im Rahmen des faktisch möglichen sozial und ökologisch an Vorgaben gebunden werden; anders kann nämlich ein freier Markt gar nicht funktionieren. Dies vorausgesetzt, gilt es dann aber auch, sich mit dem Markt als einem Instrument der sparsamen Zuweisung der Ressourcen, als einem Such- und Findungsprozess, als einem Medium der Entscheidungsfreiheit, vor allem aber als einem Instrument der Machtkontrolle, ja: der Machtverhinderung auseinanderzusetzen. Und wiederum gewährleistet - wie auf dem Markt der Meinungen in der Politik - auf dem Markt der Güter und Dienstleistungen der freie Markt keineswegs die richtigen Entscheidungen jedes einzelnen Teilnehmers, schon gar nicht: der Mehrheit der Teilnehmer. Aber der Markt macht es möglich, daß diese Entscheidungen so weit wie möglich frei getroffen werden. Freiheit und Risiko stehen auch hier in einer notwendigen Wechselbeziehung. Wer die Freiheit aufheben will, wird freilich nur die Freiheit verlieren, nicht das Risiko der Fehlentscheidungen: das nämlich erhöht sich nach allen historischen Erfahrungen, je weiter man sich von der Freiheit aller, und ich betone: aller Marktbürger entfernt.

Wenn sich die Kirche - und dies zu Recht - kritisch an der wirtschaftspolitischen Debatte beteiligt, sollten ihre Sprecher sich aber kundig und einigermaßen auf der Höhe der wirtschaftspolitischen Debatte bewegen. Mit Vorurteilen, auch mit populären, gar: populistischen Vorurteilen ist letztlich niemandem gedient. Und unter denen, die wirtschaftliche Entscheidungen tatsächlich zu treffen haben, bringt man sich um die Chance, ernst genommen zu werden.

Aber auch hier bleibt eine unauflösliche Differenz - wie in der Politik zwischen dem - mit Luther zu sprechen - Reich zur Rechten und dem Reich zur Linken.

Jedes wirtschaftliche Denken ist wirksam, aber eben auch gefangen in den Gesetzen der Ökonomie. Die Preise einer Entscheidung können und müssen berechnet werden - und dort, wo sie aus der Berechnung herausfallen, wie in weiten Bereichen der Ökologie, müssen sie in die Gesamtrechnung der Ökonomie endlich einbezogen werden. Das Rechnen ist also ein Mittel der Durchsichtigkeit, der Kontrolle, des Vergleichs - und in gewisser Weise auch der Gerechtigkeit. Aber eben nur einer vorläufigen Stufe der Gerechtigkeit, wenn es um den Menschen selber geht, der mehr und noch etwas anderes ist, als die Summe seiner zu kalkulierenden Leistungen.

Die Rolle der Kirche in der wirtschaftlichen und sozialen Diskussion kann es also nicht sein, die Gesetze der Ökonomie als solche aufheben zu wollen. Und solange es, wie in der Politik zur rechtlich verfaßten Demokratie, in der Wirtschaft zum rechtlich geordneten Markt keine bessere Alternative gibt, würde die Kirche problematische Illusionen fördern, wollte sie den Menschen vormachen, allein durch moralische Anstrengungen finde man dritte und vierte Wege wenigstens hier. Indem sie aber die Gesetze der Ökonomie als solche erkennt (und anerkennt), schafft sie die Voraussetzungen, alsdann über die Begrenztheit des rein ökonomischen Denkens kritisch zu reden. Verweigert sie jedoch die Kenntnis der Gesetze, wird sie deren wirkliche Grenzen nie erkennen.

Die Rolle der Kirche in der Politik: Es kann nicht die Rolle der Kirche sein, zu allem ihr Ja und Amen zu sagen und zu all dem, was ohnehin geschieht, den Weihwasserwedel zu schwingen. Es ist also nicht die Aufgabe der Kirche, die religiöse Hintergrundmusik zu dem politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Treiben zu liefern, das die Welt für sich selber schon organisiert, aber ohne eine gewisse religiöse Weihe dann doch wieder ein wenig ärmlich empfindet; die Weihe darf freilich nicht ernstlich stören bei den Alltagsgeschäften.

Nein, christliche Theologie hält der Welt mit all ihren Gesetzen der politischen und wirtschaftlichen Machtkämpfe einen kritischen Spiegel vor - und seien diese Gesetze noch so freiheitlich geordnet; denselben Spiegel, den sie jedem Einzelnen vorhält, der sich immer wieder in den scheinbar frei gewählten Gesetzen der Selbstverwirklichung und Selbst-Beherrschung fesselt. Diese kritische Funktion ist nicht ausreichend beschrieben, wenn mit Kritik nur Zurückweisung oder gar nur Verurteilung gemeint ist. Diese kritische Funktion kann und muß auch heißen: die Welt und die einzelnen Menschen an bessere Möglichkeiten zu erinnern; muß auch heißen. zwischen dem Vorläufigen und dem endlich Gültigen, zwischen dem Vorletzten und dem Letzten zu unterscheiden. Und nur die christliche Theologie, das aber ist der Ausgangspunkt all unserer Überlegungen - wie auch der Rolle der Kirche in der Politik - : nur die christliche Theologie kennt überhaupt diesen welt- und himmelweiten Unterschied, der wahrhaftige Kritik und wahre Freiheit möglich macht.

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