Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetz

Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung der nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Nachhaltigkeitsgesetz)

  1. Einleitung

    Die Evangelische und die Katholische Kirche in Deutschland begrüßen das mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verfolgte Ziel, die Nachhaltigkeit und die Stabilität der gesetzlichen Rentenversicherung zu erhöhen und vor dem Hintergrund der demographischen und wirtschaftlichen Entwicklung eine größere Generationengerechtigkeit, namentlich durch eine Verbesserung der Lastenverteilung zwischen den Generationen, herzustellen. Einen Teil der anstehenden Probleme geht der Gesetzentwurf mit Erfolg versprechenden und auch aus kirchlicher Sicht angemessenen Maßnahmen an. Gleichzeitig vernachlässigt er wichtige Probleme, wie etwa die verfassungsrechtlich und sozialethisch gebotene Berücksichtigung der Erziehungsleistung von Eltern. An einigen Stellen sind neue Probleme vorprogrammiert, etwa eine Zunahme der Altersarmut bzw. der Sozialhilfebedürftigkeit im Alter.

    Die Grundprinzipien unseres Sozialstaates, wie sie maßgeblich aus christlichen Wurzeln entwickelt worden sind, dürfen aus ethischen, rechtlichen wie auch aus ökonomischen Gründen nicht aufgegeben werden. Deshalb wird jeder Ansatz unterstützt, der geeignet ist, die Nachhaltigkeit und den notwendigen sozialen Ausgleich in unseren sozialen Sicherungssystemen sicherzustellen und bei gleichzeitiger Vermeidung von Altersarmut eine gerechtere Lastenverteilung in der Gesellschaft zu erreichen.

    Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz haben sich im Jahr 2000 in der gemeinsamen Erklärung "Verantwortung und Weitsicht" ausführlich zur Reform der Alterssicherung in Deutschland geäußert. Diese Erklärung besitzt nach wie vor große Aktualität und gibt ethische Richtlinien für die anstehenden Schritte an die Hand.

    Wegen der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit kann im Folgenden nur zu einigen Aspekten des Entwurfs Stellung genommen werden.

  2. Zu den Grundlinien des Entwurfs

    1. "Nachhaltigkeitsfaktor"

      Die Einfügung eines "Nachhaltigkeitsfaktors" in die Rentenanpassungsformel wird begrüßt; bereits in der erwähnten gemeinsamen Erklärung wurde ein solcher Faktor vorgeschlagen, der dazu beitragen soll, die Entwicklung der Renten in angemessener Weise an Veränderungen im Verhältnis der Zahl der Rentenbezieher und der Zahl der Beitragszahler anzupassen. Allerdings wirft die nun vorgesehene Regelung eine Reihe von Fragen auf. So führt die im Grundsatz nachvollziehbare stärkere Orientierung an einem festen Beitragssatz (vgl. Begründung A.I.2) statt am Leistungsniveau zu einem sozialethisch nicht unbedenklichen Verlust an Verlässlichkeit und Vorausberechenbarkeit der Leistungen. Zugleich werden keine Vorkehrungen getroffen, um auch künftig so weit wie möglich Altersarmut zu vermeiden.

    2. Armutsrisiko bei Rentnerinnen und Rentnern

      Zu den wichtigsten Zielen der Rentenpolitik zählten in der Vergangenheit die Beseitigung und Verhinderung von Armut im Alter. Diese Politik ist insgesamt gesehen erfolgreich gewesen und hat das Armutsrisiko von Rentnerinnen und Rentnern wesentlich verringert. Außerdem ist eine nicht unerhebliche Gruppe von Rentnerinnen und Rentnern derzeit nicht nur auf die gesetzliche Rente angewiesen, sondern bezieht daneben weitere Einkünfte, so dass sie nicht selten in der Lage sind, auch einen Beitrag zur Sicherung der Nachhaltigkeit der Altersvorsorge zu erbringen. Der vorliegende Gesetzentwurf nimmt jedoch keine Rücksicht auf die ebenfalls große Zahl der Rentnerinnen und Rentner, denen solche zusätzlichen Einkünfte nicht zur Verfügung stehen und bei denen wegen der geringen Höhe der Rente eine pauschale Absenkung kein akzeptables sozialverträgliches Instrument sein kann. Nach Auskunft des Verbandes deutscher Rentenversicherungsträger (zitiert in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 08.02.2004) beträgt die Durchschnittsrente für Frauen in den neuen Bundesländern 655 €, in den alten Bundesländern nur 479 €; der Anteil der männlichen Rentner, die eine Rente von 1.050 € oder weniger im Monat erhalten, liegt in den alten Bundesländern bei etwa 50,5% und in den neuen Bundesländern sogar bei 56%. Schon heute muss man 24 Jahre lang durchschnittliche Beiträge einzahlen, um eine Rente auf Sozialhilfeniveau zu beziehen, so dass viele Rentnerinnen und Rentner von einer gesetzlichen Rente leben, die nur wenig über dem Sozialhilfesatz (= Grundsicherungsniveau) liegt. Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf wird die Zeit der durchschnittlichen Beitragszahlung für eine gesetzliche Rente auf Sozialhilfeniveau auf ca. 26 bis 30 Jahre ansteigen. Durch die im Alterseinkünftegesetz ohnehin schon vorgesehene Streichung der Niveausicherungsklausel des § 154 SGB VI wird diese Situation zusätzlich verschärft. Während der Sozialhilfesatz aus verfassungsrechtlichen Gründen regelmäßig an die Lebenshaltungskosten angepasst wird, der Anstieg der Rentenleistungen jedoch aufgrund der neuen Rentenanpassungsformel dahinter zurückbleibt, wird zwangsläufig eine wachsende Zahl von Rentnern sozialhilfebedürftig werden und auf ergänzende Sozialhilfe bzw. Grundsicherung im Alter angewiesen sein. Dies gilt auch für die in Werkstätten für Behinderte beschäftigten Personen. Angesichts der Zunahme von Brüchen und Unterbrechungen in der (rentenversicherungsrechtlich relevanten) Erwerbsbiographie muss davon ausgegangen werden, dass zusätzlich die Zahl der Rentnerinnen und Rentner steigen wird, die eine Regelaltersrente nicht erreichen und auch deshalb Bezüge aus der gesetzlichen Rentenversicherung erhalten, die unter Sozialhilfeniveau liegen. Dies ist aus Sicht der Kirchen nicht akzeptabel, die stets die Armutsfestigkeit der sozialen Sicherungssysteme gefordert haben, die der Sozialhilfe vorgelagert sind.

    3. Berücksichtigung der Erziehungsleistung von Eltern

      Die Kirchen fordern seit langem, die Erziehungsleistung von Eltern, insbesondere von Frauen, in einer eigenständigen Rentenbiographie angemessen zu berücksichtigen (vgl. Verantwortung und Weitsicht S. 11). In dem vorliegenden Gesetzentwurf fehlt jedoch bedauerlicherweise jeder Hinweis auf eine Verbesserung der Situation von Familien im System der gesetzlichen Rentenversicherung. Dies ist angesichts der strukturellen Hindernisse, denen sich Familien in Deutschland nach wie vor gegenüber sehen, und angesichts des auch dadurch bedingten demographischen Wandels in unserer Gesellschaft, dessen dramatische Auswirkungen gerade auch im Hinblick auf die gesetzliche Rentenversicherung und die Alterssicherung überhaupt offenbar werden, nicht zu vertreten.

      Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem "Trümmerfrauenurteil" (vom 7. Juli 1992, 1 BvL 51/86, 50/87 und 1 BvR 873/90, 761/91, BVerfGE 87, 1ff, Leitsatz 2 sowie S. 41) ausdrücklich festgestellt, dass der Gesetzgeber verpflichtet ist, bei jeder Veränderung im Rentenrecht die Benachteiligung der Familie tatsächlich zu verringern. Dieses Urteil wird im vorliegenden Entwurf und seiner Begründung vollständig ignoriert.

      Nicht berücksichtigt ist auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Pflegeversicherung (vom 3. April 2001, 1 - BvR 1629/94), in dem festgestellt wurde, dass bei einem "umlagefinanzierten Sozialversicherungssystem, das der Deckung eines maßgeblich vom Älterwer-den der Versicherten bestimmten Risikos dient" (Rn 56) eine "die Beitragslast der Eltern berücksichtigende Kinderkomponente" (Rn 62) geboten ist. An diesem an Klarheit nicht zu überbietenden und ganz offensichtlich auch für die Gesetzliche Rentenversicherung Geltung beanspruchenden (Rn 69) Urteil, das im übrigen eine Verpflichtung zur Überprüfung der anderen Zweige der Sozialversicherung, also auch der GRV, innerhalb der bis zum 31. Dez. 2004 gesetzten Frist vorschreibt, muss sich auch der vorliegende Gesetzentwurf orientieren. Zur Vermeidung weiterer verfassungsrechtlicher Auseinandersetzungen ist es daher dringend angeraten, in diesem Gesetzgebungsverfahren auf die ethisch begründete und vom Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber ausdrücklich gestellte Frage umfassend einzugehen. Es ist davon auszugehen, dass die dafür notwendigen Überlegungen zu einer deutlichen Besserstel-lung von Familien führen werden.

  3. Zu Einzelfragen:

    1. Zu Art. 1, Nr. 6b) (Änderung §48 (5) SGB VI) und Art. 3, Nr. 2 (Änderung §67 (5) SGB VII:

      Durch die Streichung der Anrechnung eines freiwilligen sozialen oder ökologischen Jahres auf die Altersbegrenzung für den Bezug der Waisenrente wird es für Waisen, die ein Studium beabsichtigen, nahezu unmöglich, ein freiwilliges soziales oder ökologisches Jahr anzutreten. Da sie spätestens mit 27 Jahren ihren Anspruch auf Waisenrente verlieren, würden sie sich der Gefahr einer erheblichen Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Situation in der Endphase des Studiums aussetzen. Eine Aussetzung der Waisenrente während des freiwilligen sozialen oder ökologischen Jahres wäre im Gegensatz zum Wehr- und Zivildienst nicht hinnehmbar, da lediglich ein Taschengeld gewährt wird. Ein pauschaler Verweis auf diese Dienste (vgl. Begründung S. 50) kann die Neuregelung nicht begründen. Angesichts der absehbar geringen Zahl von Betroffenen und der damit verbundenen überschaubaren Gesamtkosten, der sehr großen Relevanz für die Lebensplanung und für die Bereitschaft der Einzelnen zu sozialem Engagement sollte diese Regelung gestrichen und das freiwillige soziale oder ökologische Jahr ausdrücklich in die gleichgestellten Dienste i.S.v. Satz 1 einbezogen werden.

    2. Zur Veränderung der Möglichkeit einer vorzeitigen Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeit (Frühverrentung)

      Es ist zutreffend, dass die gegenwärtigen Regelungen zum Vorruhestand und zum Übergang von Arbeitslosigkeit in den Ruhestand auch als Instrument des Arbeitsplatzabbaus und der Entlassung älterer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter missbraucht werden. Die Spannung zwischen den Zielen, einerseits diesen Missbrauch zu erschweren und andererseits eine angemessene Absicherung von Menschen sicherzustellen, die nach vieljähriger Beschäftigung unverschuldet im fortgeschrittenen Alter arbeitslos werden, ist mit den zurzeit zur Verfügung stehenden Mitteln nicht lösbar. Beide Ziele sind gleichermaßen wichtig. In dieser Konfliktsituation wäre es deshalb sinnvoll, die Entlassung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu erschweren.

Berlin, den 11. Februar 2004