"Europa, gegen Antisemitismus - für eine Einheit in Vielfalt"

Wir können es formulieren, wie wir wollen, um eines kommen wir nicht herum: es gibt Antisemitismus in Europa und wir sind herausgefordert darauf zu reagieren. Nicht in ferner Zukunft, sondern heute noch. Denn es stellt sich die Frage: wollen wir uns mit einem vereinten Europa abfinden, in dem es antisemitische Stimmungen gibt? Wenn Grenzen fallen, gibt es leider oft gleichzeitig regressive Tendenzen der Abgrenzung und Stereotypen.

Zwei Punkte sollen im Folgenden dargelegt werden: zuerst die Bemühungen der EKD, Antisemitismus zu bekämpfen und zweitens unsere Vision von Europa

  1. Antisemitismus

    Eine anti-jüdische Stimmung ist virulent in Europa, ja sogar weltweit. Wir haben heute schon viel über die möglichen aktuellen Gründe dafür gehört. Als Deutsche haben wir zu diesem Thema ein ganz besonderes Verhältnis. Es lässt sich nicht leugnen, die Jahrhunderte alte Krankheit des Antisemitismus ist nicht nur durch Feigheit und Böswilligkeit genährt worden, auch die Kirchen haben daran ihren Anteil gehabt. Nach den schrecklichen Erlebnissen der Shoah haben das die protestantischen Kirche auch theologisch in Deutschland schmerzlich erkannt. Zentrale Aussagen unseres Glaubens- und Bibel-Verständnisses haben eine anti-jüdische Stimmung gefördert, die schließlich im Genozid des Hitler Regimes kulminierte.

    Diese Mitschuld haben die deutschen, protestantischen Kirchen 1950 in der "Weissensee Erklärung" bekannt.

    Ein ganz wichtiger Punkt im Verhältnis von Christen und Juden heute ist die Ablehnung jeder möglichen "Ersatz-Theorie". Damit ist die Idee gemeint, dass die christliche Kirche Gottes Bund mit dem Volk Israel übernommen und sich sogar an dessen Stelle gesetzt habe. Stattdessen glauben wir: Das Wesen der Kirche Christi kann nur verstanden werden in bezug auf Gottes Bund mit Israel. Durch Christus ermöglichte Gott den Völkern der Welt, an diesem Bund teilzuhaben und mit dem Volk Israel auf eine bessere Welt zu hoffen.

    Bei dem Bekenntnis der Mitschuld blieb es nicht. Ein jahrelanger Prozess der Reue und des Umdenkens setzt sich bis heute fort:

    • Der christliche-jüdische Dialog ist seit 1961 immer ein zentrales Thema auf den großen Laien-Treffen, den "Kirchentagen". Oft sind Tausende von Zuhörern in großen Messehallen dabei, wenn über dieses Thema diskutiert wird.

    • In allen Regionen und in zahlreichen Städten gibt es ständige Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit.

    • Die EKD und ihre Landeskirchen unterstützen das Projekt "Studium in Israel" für junge Theologen

    • Wir unterstützen die "Aktion Sühnezeichen Friedensdienste", die regelmäßig junge Menschen in soziale und diakonische Einrichtungen in Israel schickt. Dabei erleben die jungen Deutschen ganz bewegende Momente, wenn sie zum Beispiel in einem Altenheim alte Menschen pflegen, die das Hitler-Regime überlebt haben.

    • Die EKD koordiniert alle dieses Aktivitäten und unter unterstützt diese mit durchaus beträchtlichen finanziellen Mitteln.

    • Einige Kirchen unterstützen sogar Synagogen in ihrem Gebiet und treffen sich regelmäßig mit Mitgliedern der jüdischen Gemeinschaften.

    • In Wuppertal-Barmen gab es vor zwei Jahren eine ganz besondere Geste: Die evangelische Kirche im Rheinland hat der örtlichen Synagogengemeinde ein Grundstück neben der Kirche geschenkt, um eine neue Synagoge zu errichten. Die jüdische Gemeinschaft wiederum beschloss einen christlichen Architekten mit dem Bau zu beauftragen.

    Vor diesem Hintergrund ist die Kirche mit Israel auch solidarisch verbunden. Dies gilt auch dann, wenn Kirchen zum arabisch-israelischen Konflikt und zu aktuellen politischen Entscheidungen der Regierung des Staates Israel kritisch Stellung nehmen. Die Kirchen unterstützen alle Bemühungen des Staates Israel und seiner Nachbarn, insbesondere des palästinensischen Volkes, in gegenseitiger Achtung einen sicheren, dauerhaften und gerechten Frieden zu finden. Dieses besondere Verhältnis zum Volk Israel ist für die protestantischen Kirchen Europas Anlass genug aktiv gegen aufflammenden Judenhass und Judenfeindschaft vorzugehen. Auf ausdrücklichem Antrag einiger protestantischer Kirchen, hauptsächlich aus Deutschland, wurde dies auch 2003 in die "Charta Oecumenica" aufgenommen. Dieses Grundsatzpapier der Ökumene haben alle europäischen Kirchen, protestantisch, katholisch und orthodox anerkannt. Dort verpflichten sich die Kirchen allen Formen von Antisemitismus und Antijudaismus entgegenzutreten und den Dialog mit unseren jüdischen Geschwistern zu suchen.

  2. Europa in Vielfalt geeint

    Europa ist kein einheitlicher Block. Europa lässt sich nur schwer geographisch definieren, auch seine Identität ist so offen wie seine Grenzen. Unser Kontinent hat sich aus einer Vielzahl von Traditionen, Religionen und Nationalitäten entwickelt. Die geistige Wegweisung Europas kann nicht von einzelnen Gruppen oder einzelnen Gemeinschaften übernommen werden. Es kann nur durch einen grenzüberschreitenden Dialog mit einer öffentlichen Theologie gelingen. Sie kann nur erfolgreich sein in der Überwindung von allen Versuchen der Monopolisierung, durch Pluralismus und Austausch zwischen den unterschiedlichen Kirchen und Religionen, d.h. einschließlich des Judentums und des Islam.

    Für den europäischen Integrationsprozess müssen wir unterscheiden zwischen der staatlichen und der religiösen Ebene. Die staatliche Institutionen können und wollen den Dialog der Religionen nicht führen, der interreligiöse Dialog findet unter den Religionen und Religionsgemeinschaften statt.

    Die protestantischen Kirchen in Europa haben schon einen langen Weg hinter sich – hin zur Einheit aller Kirchen. Ein Meilenstein auf diesem Weg ist für uns Protestanten die sog. "Leuenberger Konkordie" aus dem Jahr 1973. Mittlerweile haben sie 103 protestantische Kirche in Europa anerkannt. Sie besagt, dass trotz aller kulturellen und konfessionellen Unterschiede eine Einheit im Kern besteht, in dem gemeinsamen Verständnis des Evangeliums. Die äußeren Formen mögen sich unterscheiden, aber im Glauben an Gottes Wort sind wir eins.

    Für dieses Modell der Einheit gibt es ein Schlagwort: "versöhnte Verschiedenheit": Gemeinsames Gebet, Glaube, Hoffnung mit dem Wissen um die verschiedenen Traditionen und Hintergründe.

    "Versöhnten Verschiedenheit" bedeutet:

    • Die Vielfalt in den Glaubensüberzeugungen von anderen zu achten;

    • Diskussion und Dialog von unten her beginnen, ohne hierarchischen Druck;

    • Mit einer göttliche Inspiration rechnen, die uns zeigt, was für die wahre Einheit unentbehrlich ist.

    Dieses Modell der "versöhnten Verschiedenheit" betrifft auch den Dialog mit der römisch-katholischen Kirche und der orthodoxen Kirchen-Familie.

    2001 hat die fünfte Generalversammlung der Vereinigung der protestantischen Kirchen in Europa einmütig eine Studie über "Kirche und Israel - ein Beitrag der Reformationskirchen in Europa zum Verhältnis zwischen Christen und Juden" angenommen. In Teil I § 1.4 lesen Sie: "Das Leben des zeitgenössischen Judentums ist auch nach mehr als fünfzig Jahren durch die Schoah geprägt. Die Schoah stellt eine bleibende Herausforderung für die Kirchen und ihre Theologie dar: Sie ist eine Aufgabe für alle Kirchen in Europa, auch für diejenigen, deren Glieder an der Schoah nicht beteiligt waren. Die Schoah bleibt Anlaß zu ständiger theologischer Selbstprüfung und Erneuerung; sie zwingt dazu, den Ursachen für den immer wieder aufflammenden Judenhass und für eine auch heute noch zu findende Judenfeindschaft nachzugehen."

    Staatliche Institutionen können Foren wie das heutige Seminar und damit den grenzüberschreitenden Dialog mit einer öffentlichen Theologie fördern. Denkbar ist auch eine Unterstützung von konkreten Projekten. Sollten europäische Institutionen Projekte für den jüdisch-christlichen oder den jüdisch-christlichen-moslemischen Dialog fördern, würde sich die EKD bei der Planung und Durchführung gerne beteiligen.

Sabine von Zanthier, Leiterin des EKD-Büro Brüssel
Wilfried Neusel, Evangelische Kirche im Rheinland