Vom Nutzen und Nachteil von Traditionen für das Leben. Die Kirchenväter und die Kirche von morgen

Wolfgang Huber

Vortrag in der Evangelischen Stadtakademie “Meister Eckhardt” am im Predigerkloster in Erfurt zum Abschluss der Jahrestagung der Patristischen Arbeitsgemeinschaft

Alfred Schindler dankbar zugeeignet

Ziemlich genau vor fünfunddreißig Jahren, im Februar 1966, wurde ich in Tübingen mit einer patristischen Dissertation zum Doktor der Theologie promoviert. Meine jugendliche Entscheidung für die Patristik hatte mit der Überzeugung zu tun, die Beschäftigung mit den altkirchlichen Schriftstellern eröffne den besten Zugang zur Sache der Theologie wie zum wissenschaftlichen Arbeiten in der Theologie. Meine patristischen Lehrer – Walther Eltester vor allem, aber auch Hermann Dörries, Carl Andresen und Hans-Dietrich Altendorf – hatten mir diese Überzeugung vermittelt, die auf die Generation ihrer eigenen Lehrer zurückging. Walther Eltester vor allem berief sich dafür immer wieder auf Hans Lietzmann, aber auch auf Karl Holl, auf Adolf von Harnack und nicht zuletzt auf Eduard Schwartz. Hermann Dörries behauptete, die Genauigkeit patristischen Arbeitens lerne man am ehesten in der Beschäftigung mit einem Autor, ja am besten mit einer seiner Schriften. Insofern war Dörries mit der Thematik meiner Dissertation überhaupt nicht zufrieden und fragte nach deren Abschluss, wann ich denn nun eine wirklich patristische Arbeit anpacken werde. Aber auch wenn ich keine so klar strukturierte Aufgabe hatte, wie sie mit einer Untersuchung über Theodor von Mopsuestia, Severian von Gabala oder Symeon von Mesopotamien gegeben ist, hatte das Thema, das Walther Eltester mir nahegelegt hatte, doch den für mich unschätzbaren Vorteil, dass es mich durch die Gesamtzeit der Alten Kirche führte und gleichzeitig, wie mir schien, von offenkundiger theologischer Relevanz war. Die Entwicklung vom quartodezimanischen Passa zur altkirchlichen Osterfeier sollte ich untersuchen; alle erreichbaren altkirchlichen Osterpredigten waren dabei zu berücksichtigen.
Unter dem Titel “Passa und Ostern. Untersuchungen zur Osterfeier der alten Kirche”  wurde das Ergebnis – nach einiger Zeit des Wartens auf den nötigen Druckkostenzuschuss – veröffentlicht.  Das trug mir bei meiner ersten Begegnung mit Alfred Schindler wenig später die Frage ein: “Sind Sie der Passa-und-Ostern-Huber”. Daraus entstand eine Freundschaft, der sich auch der heutige Vortrag verdankt. Ohne die Initiative von Alfred Schindler – und ohne das beharrliche Drängen von Christoph Markschies – hätte ich mich zu diesem Vortrag nicht verleiten lassen.
Ich habe ihm den Titel gegeben: “Vom Nutzen und Nachteil von Traditionen für das Leben. Die Kirchenväter und die Kirche von morgen”.. Dieser Titel soll, biographisch betrachtet, das Interesse für die Kirchenväter, das meine theologischen Anfänge bestimmte, mit der Frage nach der künftigen Gestalt der Kirche verbinden, der ich mich jetzt durch das Bischofsamt verpflichtet fühle.
Natürlich hat Nietzsches Unzeitgemäße Betrachtung “Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben” bei der Titelwahl Pate gestanden. So kurz nach dem Ende eines Nietzsche-Jahres erschien mir das als passende Reminiszenz. Als ich den Titel wählte, hatte ich nicht mehr im Sinn, dass Alfred Schindler genau vor zwanzig Jahren seiner Berner Antrittsvorlesung den Titel gegeben hat: “Vom Nutzen und Nachteil der Kirchengeschichte für das Verständnis der Bibel heute” . So kann ich nicht einmal für die Anwendung von Nietzsches Formulierung auf unser Problem Originalität beanspruchen. Umso mehr Grund habe ich dazu, diese Überlegungen Alfred Schindler in dankbarer Verbundenheit zu widmen – sozusagen als ein um Jahresfrist verspätetes Geschenk zu seinem 65. Geburtstag.
Ich will in diesem Vortrag zunächst der Anknüpfung an Nietzsche etwas mehr Substanz verleihen. Ich will sodann fragen, ob und wenn ja in welcher Hinsicht die Epoche der Kirchenväter für die evangelische Theologie eine herausgehobene Bedeutung beanspruchen kann. Eine Zwischenüberlegung zur Rolle von Tradition im Protestantismus führt mich zu der abschließenden Erwägung, ob die Klärung gegenwärtig strittiger Fragen durch einen Rückgriff auf die patristische Epoche gefördert werden kann.


I.

Vor etwas mehr als 125 Jahren, im Jahr 1874, veröffentlichte Friedrich Nietzsche seine Unzeitgemäße Betrachtung “Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben”.. Die Notwendigkeit, sich mit der Geschichte zu beschäftigen, erläuterte er folgendermaßen: “Gewiß brauchen wir die Historie, aber wir brauchen sie anders, als sie der verwöhnte Müssiggänger im Garten des Wissens braucht, mag derselbe auch vornehm auf unsere derben und anmuthlosen Bedürfnisse und Nöthe herabsehen. Das heißt, wir brauchen sie zum Leben und zur That, nicht zur bequemen Abkehr vom Leben und von der That oder gar zur Beschönigung des selbstsüchtigen Lebens und der feigen und schlechten That. Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen.”
Nietzsche erklärte die Lebensdienlichkeit zum Maßstab für den Gebrauch der Historie; er stemmte sich mit dieser Begründung gegen eine Historie als Wissenschaft, die zum Selbstzweck verkommt und die Menschen “an der Überschwemmung durch das Fremde und Vergangene, an der ‚Historie‘ zu Grunde” gehen läßt.  Das Chaos der Historie vermag nur zu organisieren, so hieß Nietzsches These, wer sich auf seine “ächten Bedürfnisse” besinnt, also eine klare Identität hat. Wer von einem seiner selbst gewissen Ausgangspunkt aus danach fragt, wie die Historie dem Leben zu dienen vermag, der stößt auf drei Hinsichten solcher Dienlichkeit: Er bekommt das Lebendige als Tätiges und Strebendes, als Bewahrendes und Verehrendes sowie schließlich als Leidendes und der Befreiung Bedürftiges in den Blick. Die Erinnerung an Tätigsein und Streben prägt den “monumentalischen” Charakter der Historie; der Wunsch, Vergangenes zu bewahren und zu verehren, motiviert das “Antiquarische” an der Historie; die Aufmerksamkeit für das Leiden und das Bedürfnis nach Befreiung bildet den Grund für den “kritischen” Umgang mit der Geschichte.
Das ist eine denkbar knappe Zusammenfassung von Nietzsches These. Seine breiten Darlegungen über die nachteiligen Folgen, die sich aus der Überschwemmung vor allem der Jugend mit historischem Faktenwissen ergeben, lasse ich auf sich beruhen. Denn darin wird man kaum unser heutiges Problem erblicken. Zwar werden wir auch heute mit Informationen überschwemmt; aber sie sind nur in begrenztem Umfang historischer Art. Womit die modernen Medien bis hin zum Internet uns im Übermaß eindecken, sind Informationen über die Gegenwart und ihre technischen Möglichkeiten. Aber auch von diesen Informationen gilt: Wer seiner Identität nicht gewiss ist und seine “ächten Bedürfnisse” nicht kennt, vermag auch dieses Chaos nicht zu organisieren. Doch was die Bedeutung der Vergangenheit für das Leben betrifft, leiden wir eher unter einem Vakuum als unter einer Überflutung.
An diesem Vakuum spüren wir, dass den drei von Nietzsche genannten Betrachtungsweisen der Historie – der monumentalischen, der antiquarischen und der kritischen – noch eine vierte hinzuzufügen ist, die ich die “orientierende” nennen will. Kurz und knapp lässt sich sagen: Zur Tradition wird die Historie, wenn sie orientierende Kraft für das gegenwärtige Leben entfaltet. Traditionalismus wird daraus, wenn der orientierende Bezug zum gegenwärtigen Leben zerbrochen ist und wenn die Formen der Verbindung mit vergangener Geschichte deshalb zur äußerlichen Konvention erstarren. Im Blick auf diesen Aspekt von Tradition verhält es sich mit der Kirche nicht anders als mit anderen Formen menschlicher Gemeinschaft: Sie braucht Tradition; Traditionslosigkeit ist für sie genauso lebensgefährlich wie Traditionalismus.
Schon eine solche Überlegung zeigt die elementare Bedeutung von Traditionsprozessen, auf welche die Kirche ebenso angewiesen ist wie die Gesellschaft im Ganzen. Wir spüren das gegenwärtig besonders am Fehlen von Tradition und Traditionsbewußtsein. Das kritisch-abfällige Reden von Traditionen ist ja in Deutschland weithin verstummt, seit das Phänomen des Traditionsabbruchs übermächtig geworden ist. In der Kirche spüren wir das besonders deutlich; aber es hat Folgen für die Gesellschaft im Ganzen. Exemplarisch läßt sich das am schwindenden Verständnis für die christliche Prägung unserer Gesellschaft verdeutlichen.
Die christlichen Einflüsse auf die europäische Kultur sind für viele Menschen zu einem nahezu unbekannten Gelände geworden. Die bildende Kunst, die ohne die Kenntnis ihrer christlichen Stoffe unverständlich sind, die biblischen Anspielungen in der Literatur – bis hin zu Bertolt Brecht – , die Geschichte der europäischen Musik, die gerade auf ihren Höhepunkten geistlichen Charakter trug: all das ist für viele weit entrückt. Die Spielregeln unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens sind eng an die christliche Herkunft unserer Kultur gebunden; wir spüren das am deutlichsten, wenn diese Spielregeln ihre Geltung verlieren, beispielsweise wenn die Kultur des Helfens in Vergessenheit gerät oder die Lebensform der Familie erodiert. Aber die christliche Herkunft dieser Spielregeln ist weithin unbekannt; die Quellen ihrer Erneuerung scheinen für viele Menschen verschüttet zu sein. Wer weiß noch, dass die strafrechtliche Figur der unterlassenen Hilfeleistung sich der Beispielgeschichte Jesu vom barmherzigen Samariter verdankt? Wer benennt noch den Zugewinn an Sozialkultur, für den diese Pflicht zur Hilfe bei Gefahr für Leib und Leben ein Beispiel ist? Die politische Kultur der modernen Demokratie verdankt dem Christentum entscheidende Impulse; am Konzept der gleichen, unantastbaren Würde jeder menschlichen Person zeigt sich das am deutlichsten. Die Beendigung der staatlichen Vormundschaft in den ostdeutschen Ländern vor einem guten Jahrzehnt wäre ohne wichtige Beiträge aus einem so motivierten christlichen Engagement nicht vorstellbar gewesen.
Statt solche Zusammenhänge aufzudecken, pflegt man inzwischen den erinnernswerten Stoff aus der Geschichte des Christentums auf die Stichworte Kreuzzüge, Inquisition und Hexenverbrennung zu reduzieren. Das jedenfalls bleibt allzu leicht von der Geschichte des Christentums übrig, wenn es zum Gegenstand eines staatlichen Pflichtfachs “Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde” (LER) wird. Nun ist die Erinnerung an die Schattenseiten der Christentumsgeschichte nicht nur berechtigt, sondern auch notwendig. Man übergeht jedoch bei dieser Erinnerung an die “Kriminalgeschichte des Christentums”,  dass die Maßstäbe für die Kritik an solchen Verbrechen im Namen des Christentums in diesem Christentum selbst enthalten und mit ihm mitgegeben sind. Der Widerspruch gegen die sündige Kirche ist in der Kirche selbst institutionalisiert. Das gerade unterscheidet sie von anderen Institutionen.
Weit über den Binnenraum der Theologie hinaus ist es heute nötig, wieder Anschluß an wichtige Traditionen zu gewinnen und sich die Zeugnisse einer vergangen geglaubten Geschichte neu anzueignen. Daraus kann eine neue Identität und damit auch ein neues Verhältnis zur Tradition entstehen. Das geschieht selten plötzlich; Tradition neu zu bilden dauert in der Regel länger als sie zu zerstören.
 

II.

Für diese allgemeine Überlegung bildet die christliche Frühzeit ein wichtiges, wenn auch oft verkanntes Beispiel. Unter drei Gesichtspunkten vor allem tritt der exemplarische Charakter dieser Epoche hervor. Ich bezeichne sie mit den Stichworten der Ökumenizität, der Inkulturation und der Traditionsfähigkeit.

Ökumenizität ist das erste. In den ersten christlichen Jahrhunderten wandelt sich eine auf die begrenzten Verhältnisse Palästinas bezogene Lehre zu einer Religion für den ganzen bewohnten Erdkreis, für die ganze Ökumene.  Sie behält die Einfachheit des Ursprungs, die sich um zwei Grundaxiome herum gruppiert: um den Glauben an den einen Gott und den Glauben an die Erlösung durch diesen Gott in der Gestalt Jesu Christi.  Sie bearbeitet die Spannung zwischen diesen beiden Grundaxiomen in einer Weise, die sie auch den Gebildeten als plausibel erscheinen lässt. Die Entwicklung des trinitarischen wie des christologischen Dogmas erschließt sich – man ist geneigt zu sagen: mühelos – , wenn man sie von dieser Frage aus rekonstruiert. Damit gewinnt das Christentum aber zugleich die Weite, ohne die es seine Integrationsleistung nicht hätte entfalten können.  Einfachheit und Weite zusammen bilden die Voraussetzung für den ökumenischen Charakter, den der christliche Glaube bereits in dieser formativen Phase annimmt. In dem Maß, in dem dieser Glaube sich ausbreitet, erhöht sich zugleich die Aufgabe, die Identität dieses Glaubens zu sichern und die Kommunikation zwischen den Gemeinden lebendig zu halten.
Die entscheidende Weichenstellung grundsätzlicher Art besteht darin, dass ein und dasselbe Wort “Kirche” (ekklesia) sowohl die Gesamtkirche als auch die Einzelgemeinde, sowohl die Christenheit an allen Orten als auch die Christenheit an einem Ort bezeichnet. Damit ist eine ökumenische Selbstverpflichtung statuiert, innerkirchliche Konflikte oder das Auseinanderbrechen kirchlicher Gemeinschaft nicht etwa als einen unausweichlichen Pluralisierungsprozess hinzunehmen, sondern sich um die Aufrechterhaltung oder Erneuerung von Gemeinschaft zu bemühen. Die Synodalstruktur und später das Instrument der Reichskonzilien dienen dieser Aufgabe. Die Ökumenizität der Kirche verbindet sich schon früh mit einer konziliaren Struktur. 

Inkulturation ist das zweite. Von seinen Anfängen an gibt es das Christentum nicht anders als in lebhafter Auseinandersetzung mit der Kultur. Die Entfaltung des christlichen Glaubens wäre nicht denkbar gewesen, wenn sich nicht die Glaubensbotschaft der christlichen Bibel mit der Kultur der griechisch-römischen Antike verbunden hätte.
Man hat dieses Miteinander von biblischer Botschaft und antiker Kultur die “Doppelhelix” der christlichen Tradition genannt. Angelehnt ist diese Bezeichnung  an Cricks und Watsons berühmte Metapher zur Beschreibung der DNA-Struktur.  So wie die Erbinformationen eines Organismus nicht in einer einfachen Kette, sondern in einer Doppelhelix gespeichert sind, so ist auch der christliche Glaube nicht einfach in einer Kette von Glaubensaussagen, sondern in der Doppelhelix von Christentum und Kultur wirkungskräftig geworden. Ohne diese Verbindung könnte man nicht erklären, wie sich das kulturelle Gedächtnis Europas entwickelt hat. Denn christliche Bibel und antike Kultur zusammen bilden “das Rückgrat des kulturellen Gedächtnisses der christlichen Welt des Mittelalters”. 
Seit den Apologeten des 2. Jahrhunderts zeigt sich ein ausdrückliches und ausgeprägtes Bewusstsein dafür, dass die Wahrheit des christlichen Glaubens in Auseinandersetzung mit dem Wahrheitsbewusstsein der jeweiligen Gegenwart zur Sprache gebracht werden muss. Seit dieser Zeit wird wieder und wieder etwas dargestellt, was ich die “Weltfähigkeit” des christlichen Glaubens nennen will: seine Fähigkeit, Ausgangspunkt zum Verstehen und Gestalten der Welt zu sein. Freilich gehört dazu auch ein Bewusstsein der bleibenden Differenz, wie es vor allem in den asketischen und monastischen Bewegungen zum Ausdruck gebracht wurde. Doch dieses Differenzbewusstsein ist gerade ein Element innerhalb der Weltfähigkeit des christlichen Glaubens. Schon früh symbolisiert das Nebeneinander der beiden Städte Athen und Jerusalem die Verbundenheit von Kultur und christlichem Glauben.  Der Name Athens steht dabei für die griechische Kultur, insbesondere für die von den Griechen inaugurierte Philosophie; Jerusalem aber steht nicht einfach für die Stadt des zerstörten zweiten Tempels, für die Stadt der Juden, in denen Jesu Leben am Kreuz ein Ende gefunden und mit seiner Auferweckung das Christusbekenntnis seinen Anfang genommen hatte. Jerusalem – das neue, himmlische Jerusalem, von dem die Offenbarung des Johannes und der Hebräerbrief sprechen  – steht für die Verheißung des Glaubens, der die Christen als ein wanderndes Gottesvolk entgegengehen.

Traditionsfähigkeit  ist als drittes zu nennen. Wenn man sich fragt, warum das aus einer Bewegung von Wanderradikalen hervorgegangene Christentum sich als Institution gestaltet, warum also die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden sich feste Verfassungsformen gibt, so heißt die nächstliegende Antwort: um der Dauerhaftigkeit willen. Die Aufgabe, das Evangelium an die jeweils nächste Generation weiterzugeben, ist der elementare Grund, aus dem die Kirche als Institution existiert. Um dieser Aufgabe willen braucht sie Klarheit über die Urkunde des Glaubens; deshalb wird der Kanon der heiligen Schriften definiert. Um dieser Aufgabe willen braucht sie eine lebendige Interpretation dieser Urkunden, aber auch Regeln für diese Interpretation; deshalb wird die regula fidei ausgebildet. Um dieser Aufgabe willen braucht sie ein Amt, das den Gottesdienst leitet und die kirchliche Lehre verantwortet; und sie braucht Regeln, nach denen dieses Amt verliehen wird; so kommt es zu der Ämterstruktur, das Amt des Bischofs eingeschlossen. Zur Traditionsfähigkeit gehört aber auch die Fähigkeit, solche Strukturen zu prüfen und weiterzuentwickeln; es gehört zu ihr auch die Arbeit an der kirchlichen Lehre selbst; so kommt es zur Ausbildung der Theologie als Reflexionsmedium des kirchlichen Lehrens und Handelns.
Die ersten christlichen Jahrhunderte sind nicht zuletzt deswegen so faszinierend, weil in ihnen die Traditionsfähigkeit einer neuen Religion aufgebaut wird. Freilich hat der Protestantismus insbesondere in Deutschland genau zu diesem Aspekt der altkirchlichen Entwicklung über lange Zeit nur ein sprödes Verhältnis entwickelt; das hing damit zusammen, dass er selbst seine Traditionsfähigkeit vier Jahrhunderte lang vom Staat entliehen und gerade nicht selbst aufgebaut hat. Der Aufbau eines eigenständigen Verhältnisses zur Aufgabe der Traditionsfähigkeit ist wohl nicht möglich ohne ein theologisch geklärtes Verhältnis zur Kirche als Institution; dafür kann gerade die Zeit der frühen Christenheit entscheidende Anstöße vermitteln.

Ökumenizität, Inkulturation und Traditionsfähigkeit sind in meinen Augen also die drei Gesichtspunkte, unter denen die ersten christlichen Jahrhunderten eine besondere Beachtung verdienen. Sich mit dieser formativen Phase des Christentums zu beschäftigen, ist freilich, wie wir sahen, nicht nur aus spezifischen Gründen der Christentumsgeschichte nötig. Es ist auch aus allgemein kulturellen Gründen notwendig. Die Theologie hat an ihrem Teil zur Rekonstruktion des kulturellen Gedächtnisses beizutragen. Dessen Erosion kann sie nicht widerstandslos zusehen. Man braucht nicht um ein ganzes Jahrhundert in die Zeit Adolf von Harnacks zurückzugehen, um zu wissen, dass unter Gebildeten schon einmal ein anderes Verhältnis zur formativen Phase des Christentums bestand, als wir es heute vorfinden. Noch vor vier Jahrzehnten konnte man Hans von Campenhausens Urban-Bücher über die griechischen und die lateinischen Kirchenväter in vielen nicht-theologischen Privatbibliotheken finden, manchmal sogar in gelesenem Zustand.  Es ist nicht sinnvoll, sich nach solchen Zeiten nostalgisch zurückzusehnen. Aber es ist sinnvoll, die Bedeutung der patristischen Epoche für die europäische Geistesgeschichte allgemein genauso im Bewusstsein zu halten wie für die Ökumenizität, die Inkulturation und die Traditionsfähigkeit des christlichen Glaubens selbst.

 

III.

Nun ist die vorrangige Haltung des Protestantismus zur Tradition die Traditionskritik. Ihr unterwirft man bekanntlich am liebsten alles – außer sich selbst. Auch die traditionskritischste Position kennt kritikfreie Zonen. Sie belegt auf ihre Weise das Angewiesensein auf Tradition. Die prinzipielle Negation der Tradition führt deshalb als ihre wichtigste Folge mit sich, dass man genau diejenigen Traditionen gegen Kritik immunisiert, von denen man sich selbst abhängig macht; denn diese Abhängigkeit wird im Verborgenen gehalten. Dass im Protestantismus Schrift und Tradition gegeneinander ausgespielt wurden, hat diesen Prozess auf seine Weise verstärkt. In einer Zeit verbreiteter Traditionslosigkeit aber wirkt die Entgegensetzung von Schrift und Tradition eigentümlich kraftlos. Denn die Schrift selbst ist nichts anderes als ein Stück Tradition, das am Verblassen aller Traditionen Anteil hat.
Aber auch in einer solchen Situation zeigt sich, dass das menschliche Bewusstsein auf Vergangenheit angewiesen bleibt. . “Die Vergangenheit”, so formuliert der Historiker Eric Hobsbawn, ist “eine dauerhafte Dimension des menschlichen Bewußtseins, ein unausweichlicher Bestandteil der menschlichen Institutionen, Werte und anderen Strukturen der menschlichen Gesellschaft.”  Auch für die Kirche gilt, dass die Vergangenheit ein unaufgebbares Element ihrer gegenwärtigen Gestalt und Botschaft darstellt. Auch die Kirche braucht ein “kulturelles Gedächtnis”.  Auch sie braucht neben Erinnerungselementen von großer Alltagsnähe auch ein kollektives Gedächtnis für alltagstranszendente Inhalte. Keine menschliche Gemeinschaft kommt ohne solche Erinnerungsfigurationen aus. Denn an ihnen bildet sich die Identität dieser Gemeinschaft wie die Identität der einzelnen. Grundelemente des kulturellen Gedächtnisses sind ein wichtiges Potential der Erneuerung, der Selbstkritik oder der Reform. Mit dem “kulturellen Gedächtnis” bewahrt eine Gemeinschaft nicht nur ein gemeinsames Bild der Vergangenheit auf. Sondern im kulturellen Gedächtnis sind zugleich die Potentiale zur Deutung der Gegenwart wie zum Entwurf der Zukunft enthalten. Eine Verständigung über die Wahrnehmung der eigenen Zeit gelingt ohne Grundbestände eines kulturellen Gedächtnisses ebenso wenig wie eine Vision der Zukunft. In aller Regel bleibt das kulturelle Gedächtnis so lange relativ unbeachtet, so lange es selbstverständlich eingelebt ist. Es wird zum Thema, wenn es gefährdet, bedroht oder umstritten ist. “Nur deshalb spricht man so viel vom Gedächtnis, weil es keines mehr gibt”, heißt ein viel zitierter Satz von Pierre Nora.  So wie die Notwendigkeit des Umweltschutzes erst erkannt wurde, als die Ausbeutung der Ressourcen und die Verwüstung der Umwelt durch Abfälle ein besorgniserregendes Maß erreicht hatten, so sorgen wir uns um die Bewahrung des kulturellen Gedächtnisses erst, seit es im Verschwinden ist. So wie man sich um ökologische Nachhaltigkeit erst bemüht, seit sie durch die Auswirkungen menschlichen Handelns massiv gefährdet ist, so tritt auch die Notwendigkeit einer kulturellen Nachhaltigkeit erst in den Blick, wenn die Bestände des kulturellen Gedächtnisses jede Selbstverständlichkeit verloren haben.
Das ist die Situation, in der wir neu nach der Aneignung wichtiger christlicher Traditionen fragen. Das kulturelle Gedächtnis der Kirche selbst steht ebenso auf dem Spiel wie ihr Beitrag zum kulturellen Gedächtnis der Gesellschaft. Angesichts einer verbreiteten Amnesie, einer verbreiteten Erinnerungslosigkeit also fragen wir heute, wie Tradition wieder gebildet werden kann. Tradition bildet sich dort, wo Vergangenes so erinnert wird, dass daraus Orientierung in der Gegenwart und Richtungsweisung für die Zukunft entsteht.
Tradition in diesem Sinn gehört zum Kernbestand des jüdischen wie des christlichen Glaubens. Die Weitergabe und Weiterentwicklung dieser Tradition vollzieht sich in der Form des Erinnerns. Das Gedenken gehört zu den Grundelementen der jüdischen und christlichen Überlieferung.  Im Volk Israel wird der Glaube an den “Gott der Väter” dadurch weitergegeben, daß die Älteren den Jüngeren die Erfahrungen des Volkes Israel mit seinem Gott erklären. “Wenn dich nun dein Sohn morgen fragen wird: Was sind das für Vermahnungen, Gebote und Rechte, die euch der Herr, unser Gott, geboten hat?, so sollst du deinem Sohn sagen: Wir waren Knechte des Pharao in Ägypten, und der Herr führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand. ... Und der Herr hat uns geboten, nach all diesen Rechten zu tun, auf dass wir den Herrn, unsern Gott, fürchten, auf dass es uns wohlgehe unser Leben lang, so wie es heute ist.”  Das ist eine eindrucksvolle Umschreibung von Tradition: Erinnerung an vergangenes Geschehen wird mit der Orientierung für das Leben in der Gegenwart verbunden.
Die Aufgabe des Gedenkens findet auch Eingang in den Dekalog, in die Summierung der alttestamentlichen Weisung in Gestalt der zehn Gebote: “Gedenke des Sabatttages, dass du ihn heiligst.”  Die Erinnerung an das Ruhen Gottes von seinen Werken wird zur Anleitung für die Gestaltung von Kultur. An vielen Stellen beschreibt das Alte Testament rituelle Gestaltungsformen des Gedenkens; die Feste des Jahreslaufs erhalten durchweg neben den jahreszeitlichen Bezügen Begründungen aus der Geschichte Israels.
Das Neue Testament setzt diese Kultur des Gedenkens voraus. Im christlichen Gottesdienst wird sie an zentraler Stelle verankert; das Abendmahl wird als Erinnerungsmahl gefeiert: “Solches tut zu meinem Gedächtnis.”  Leben und Wirken, Tod und Auferweckung des Jesus von Nazareth treten nun in das Zentrum des Erinnerns; sie werden zum Mittelpunkt der christlichen Tradition. Christi Tod wird dabei als Erlösungstat Gottes den Menschen zugute verstanden; die Vergegenwärtigung dieses Todes wird deshalb zum Mittelpunkt des Gottesdienstes. Dadurch rücken aber menschliches Leiden und Sterben in den Deutungshorizont dieses einen Todes. Die zugesagte Erlösung wird zum Angelpunkt für das Verständnis gelingenden Lebens - eines Lebens nämlich, das nicht mehr den Mächten der Sünde und des Todes unterworfen ist. So entfaltet sich eine ganze Kultur des Lebens aus der einen Weisung: “Solches tut zu meinem Gedächtnis.”
In Korrektur eines verbreiteten kontroverstheologischen Pauschalbildes ist also festzuhalten: Tradition in dem beschriebenen Sinn ist ein Grundzug biblischen Denkens und christlichen Glaubens. Insofern führt die Entgegensetzung von “Schrift und Tradition” in die Irre. Dieses Begriffspaar verweist auf ein ganz anderes Problem: auf die Frage, ob kirchliche Instanzen die Herrschaft über die Traditionsprozesse in Anspruch nehmen dürfen, die sich im biblischen Zeugnis niederschlagen und von ihm aus weiterwirken. Diese Frage entscheidet sich am Verständnis des kirchlichen Amtes, das nach wie vor das kontroverse Thema zwischen katholischer und evangelischer Kirche und Theologie darstellt.
Die knappe Erinnerung an die biblische Verankerung dessen, was wir Tradition nennen, zeigt auch schon die drei grundlegenden Formen, in denen erkannte Wahrheit weitergegeben und neu angeeignet wird. Diese drei Formen sind die erzählende und auslegende Vergegenwärtigung von Wahrheit, die rituelle Gestaltung einer um diese Wahrheit versammelten Gemeinschaft und die Anleitung zu einer Lebensführung im Licht dieser Wahrheit. Narrative, rituelle und ethische Zusammenhänge konstituieren insofern die Kirche. Gerd Theißen hat die Kirche deshalb “eine semiotische Kathedrale aus narrativen, rituellen und ethischen Materialien, eine Zeichen- und Lebenswelt” genannt. Das ist, wie ich finde, eine überaus treffende Bezeichnung. 
Die Strukturen von Traditionsfähigkeit, die sich in der frühen Kirche bilden, sind im Zusammenhang des Aufbaus dieser “semiotischen Kathedrale”, dieser “Zeichen- und Lebenswelt” zu sehen. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Ausbildung von Traditionsfähigkeit während der ersten christlichen Jahrhunderten auch in der evangelischen Theologie als historische Leistung zu würdigen. Dass die Bewegung der Dogmen, die nach einer glücklichen Formulierung von Alfred Schindler das Thema der Dogmengeschichtsschreibung ist, einen positiven Sinn hat,  weil sie nämlich wirkliche Klärungen herbeiführte, braucht nicht unter einem allgemeinen Antidogmatismus begraben zu werden. Dass die Ausbildung eigenständiger kirchlicher Verfassungsstrukturen eine interessierte Würdigung verdient, ist auch im Protestantismus zum Bewusstsein gekommen, seit er sich selbst um solche eigenständigen Verfassungsstrukturen bemühen musste.
Aber eine solche Würdigung gerät auf eine schiefe Bahn, wenn sie in das Schema einer Verfallsgeschichte eingezeichnet wird, das nur dem zeitlich Ursprünglichen den Charakter des sachlich Urspünglichen, der anfänglichen Reinheit zuerkennt. Der Umgang mit der Epoche der Kirchenväter war von dieser Gefahr nie gänzlich frei. Ein lange herrschendes und noch immer geläufiges Bild von der Kirchengeschichte folgt einem Schema, nach welchem “nur in den frühesten (Zuständen) das eigentümliche Wesen am reinsten zur Anschauung” kommt.  Das unaufgebbare Element einer solchen Betrachtungsweise besteht darin, dass Tradition nur bewahren kann, wer zur Traditionskritik bereit ist. Dazu gehört der kritische Vergleich zwischen dem Gewordenen und seinen Ursprüngen. Dieser kritische Vergleich ist für den Protestantismus durch das Prinzip sola scriptura, das sogenannte Schriftprinzip, auf Dauer gestellt worden. Doch diese Aufforderung zur kritischen Prüfung verbindet sich oft mit dem Schema des Abfalls vom Ursprung und des unvermeidlichen Niedergangs, der daraus folgt. Ein solches Schema jedoch wird weder der geschichtlichen Wirklichkeit gerecht noch ist es in der Lage, die wirklichen Antriebskräfte für Prozesse der Traditionsbildung in der Geschichte der Christenheit erkennbar zu machen.
Denn unberücksichtigt bleibt dabei, daß mit dem Auftreten Jesu und mit seiner Lehre, mit seinem Tod und seiner Auferweckung nicht eine neue Weltanschauung kreiert wurde, die von den folgenden Generationen möglichst rein zu bewahren war, deren Wirkungslinien aber mit wachsender historischer Distanz immer schwächer wurden. Sondern es ging um den Anbruch einer neuen Wirklichkeit, nämlich der in der Person Jesu verbürgten Nähe Gottes. Diese neue Wirklichkeit kann in jeder geschichtlichen Epoche in der gleichen Unmittelbarkeit hervortreten wie in der anfänglichen Gemeinschaft Jesu mit seinen Jüngern, den heilenden Begegnungen Jesu mit den Ausgestoßenen seiner Zeit, den missionarischen Aufbrüchen der frühen Christenheit oder dem Zeugnis der ältesten christlichen Märtyrer.
Am Ende des Matthäusevangeliums gibt der auferstandene Christus Auskunft über die Art und Weise seiner bleibenden Gegenwart: “Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.”
Das Leben der christlichen Kirche beruht also nicht auf der Reminiszenz eines historisch immer ferner rückenden Ereignisses, sondern auf der immer wieder neuen Nähe Gottes in Jesus Christus und der Verheißung, die sich daraus ergibt. Auf diese Erinnerung und diese Verheißung antwortet die Gemeinde in ihrem Handeln. Dieses Handeln ist nichts anderes als die Konsequenz der Zusage, aus der sie lebt: “Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf dem Berge liegt, nicht verborgen bleiben.”  Die christliche Kirche ist deshalb Erinnerungsgemeinschaft, Handlungsgemeinschaft und Hoffnungsgemeinschaft in einem.
Eine herausgehobene Bedeutung der patristischen Epoche hat also nicht darin ihren Grund, dass diese dem Ursprung noch näher und deshalb von Verfälschungen und menschlichen Irrtümern noch freier war als spätere Epochen der Christenheit. Eine Sonderstellung der ersten fünf Jahrhunderte auf der Grundlage einer umgekehrten Fortschrittsgeschichte, nämlich auf Grund einer verfallsgeschichtlichen Konstruktion der Entwicklung des Christentums, scheidet also aus. Ein christlich betrachtetes ad fontes meint immer eine Rückwendung zur biblischen Botschaft selbst; es ist damit nicht gemeint, dass der Auslegung der biblischen Botschaft durch die Kirchenväter eine normative Überlegenheit über andere Stränge der Auslegungsgeschichte zuerkannt wird. Das schließt aber gerade nicht aus, sondern ein, dass man die Anregungskraft altkirchlicher Bibelinterpretationen auf sich wirken lässt; bis hin zur Predigtvorbereitung kann das von Nutzen sein.
Dass zugleich traditionskritische Überlegungen bereits auf die patristische Epoche und ihren Umgang mit der Heiligen Schrift angewandt werden müssen, ist immer wieder am prominenten Beispiel Augustins, des für die westliche Entwicklung wohl wichtigsten Kirchenvaters, deutlich gemacht worden. Zur Rechtfertigung der Zwangsmaßnahmen gegen die Donatisten berief er sich auf den Schluss von Jesu Gastmahlgleichnis, wo der gastgebende Hausherr seinen Knecht mit dem Auftrag ausschickt, das Volk an den Straßen und Zäunen zu nötigen, dass sie in den Festsaal hineinkommen. “Nötige sie, hereinzukommen” (“compelle intrare”)  wurde zur Belegstelle für das Recht der herrschenden Mehrheitskirche, Abweichler mit den Mitteln staatlichen Zwangs zur Mitgliedschaft in der einen wahren Kirche zu zwingen. 
Dass ein so gebildeter, an Schriftkenntnis den meisten heutigen Theologen weit überlegener Gelehrter sich zu einem derartigen Missbrauch der Schrift hinreißen ließ, kann vor allen kurzschlüssigen Verherrlichungen der altkirchlichen Epoche bewahren. Doch umgekehrt kann eine Beschäftigung mit der Schriftauslegung der alten Kirche oder anderer Epochen uns davor bewahren, die Heilige Schrift im Ganzen auf unsere derzeitigen exegetischen Vorlieben oder auch ganz unexegetischen Lieblingsideen zu reduzieren. Denn die selektive Emphase, mit welcher wir die Bibel lesen, ist ja nicht weniger radikal als diejenige früherer Epochen. Was wir ausblenden, ist jedoch nicht nur im biblischen Text selbst, sondern auch in der Auslegung früherer Epochen aufbewahrt. Darin ist die Chance überraschender Neuentdeckungen enthalten, die Theologie und Glauben vor sterilen Verengungen zu bewahren vermögen. Als Beispiel aus meiner jugendlichen Beschäftigung nenne ich den Mythos von Jesu Abstieg in das Totenreich, dem descensus ad inferos, als ein Interpretament des Kreuzestodes wie der Auferweckung Jesu Christi, das weiter reicht als gängige Oberflächlichkeiten in manchen heutigen Texten zu Tod und Auferweckung Christi.  Ein Gegengewicht gegen unsere selektiven Emphasen zu bilden, ist nicht die geringste Bedeutung der Kirchengeschichte, die zwar nicht ausschließlich, aber doch wesentlich auch als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift zu verstehen ist.


IV.

Über die Kirche von morgen kann man so sprechen, dass man die Gesichtspunkte hervorhebt, die heute die Zukunft der Kirche fragwürdig und unsicher machen: das hohe Maß an Säkularisierung und Entkirchlichung gerade hierzulande, den Individualisierungsschub, der allen Formen verbindlicher Gemeinschaft entgegensteht, die Pluralisierung, die einer lange gewohnten Vorrangstellung der christlichen Kirchen in der Gesellschaft ein Ende bereitet.  Man kann über die Kirche von morgen so sprechen, dass man neue Formen kirchlichen Handelns beschreibt, die sich angesichts der gewandelten Situation abzeichnen; dabei muss dann insbesondere von neuen Versuchen missionarischer Präsenz in der Gesellschaft gesprochen werden.  Man kann über die Kirche von morgen schließlich aber auch so sprechen, dass man Kriterien für die Zukunftsfähigkeit der Kirche entwickelt, dass man also angesichts des heute Dringlichen das bleibend Wichtige hervorhebt. 
Ich will heute diesen dritten Weg wählen. Dabei ist es naheliegend, auf diejenigen Elemente zurückzugreifen, die uns in der Entwicklung der Alten Kirche als besonders bedeutungsvoll entgegengetreten sind. Ich habe sie mit den Stichworten der Ökumenizität, der Inkulturation und der Traditionsfähigkeit bezeichnet.

Die Ökumenizität der Kirche ist durch Auseinandersetzungen der letzten Monate neu zur Diskussion gestellt worden. Wird sie dadurch gewährleistet, dass eine – die römisch-katholische – Kirche für sich selbst in Anspruch nimmt, allein Kirche “im eigentlichen Sinn” zu sein – also die Fülle des Kircheseins allein in angemessener Weise abzubilden? Die Erklärung der vatikanischen Glaubenskongregation “Dominus Iesus” hat diese Frage mit kaum überbietbarer Deutlichkeit aufgeworfen.  Mit dem Titel des Dokuments wird an das älteste christliche Bekenntnis erinnert, von dem Paulus gesagt hat, dass niemand so reden kann, es sei denn im Heiligen Geist.  Das Bekenntnis Kyrios Jesus drückt eine einmalige und unvergleichliche Heilsbedeutung Jesu Christi aus. “Wer aber mit dem Munde bekennt Herr ist Jesus und in seinem Herzen glaubt, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat, der wird gerettet.”  Die Exklusivität dieses Christusbekenntnisses verbietet es geradezu, dass ihm ein Bekenntnis zur Domina Ecclesia gleichberechtigt zur Seite gestellt wird. 
Man kann für diese Unterscheidung zwischen dem Christusbekenntnis und dem Bekenntnis zur Kirche eindringliche Belege auch in der altkirchlichen Bekenntnisbildung und ihrer Auslegung finden. Häufig wird dafür Rufin von Aquileia zitiert. Er weist ausdrücklich auf die Differenz zwischen dem Bekenntnis zu Gott in den drei göttlichen Personen und dem Bekenntnis zu Kirche, Sündenvergebung und Auferstehung des Fleisches hin. Nur den göttlichen Personen ist nämlich die Präposition in vorangestellt, während Kirche, Sündenvergebung und Auferstehung des Fleisches im bloßen Akkusativ stehen. “Bei den übrigen Glaubenssätzen aber, wo nicht von der Gottheit, sondern von den Geschöpfen und den Geheimnissen die Rede ist, wird das Wörtchen ‚an‘ nicht beigefügt; es wird also nicht gesagt ‚ an eine heilige Kirche‘, sondern ‚eine heilige Kirche‘ sei zu glauben, nicht so, wie Gott geglaubt wird, sondern als die für Gott versammelte Gemeinschaft. ... Durch Setzung des Wörtchens ‚an‘ wird der Schöpfer von den Geschöpfen unterschieden, das Göttliche vom Menschlichen getrennt.” 
Man kann diesen ekklesiologischen Grundsatz auf unterschiedliche Weise ausdrücken. Doch in jedem Fall gehört die These vom unumkehrbaren Gefälle zwischen Christologie und Ekklesiologie, zwischen dem Glauben an den dreieinigen Gott und dem Glauben an die “eine, heilige, katholische und apostolische Kirche” zu den unaufgebbaren, den bleibend wichtigen Einsichten der patristischen Epoche. Ihre ökumenische Bedeutung erschließt sich uns heute auf neue Weise. Ökumenefähig werden die Kirchen nur dann, wenn sie zwischen dem Bekenntnis zu dem Kyrios Jesus und dem Glauben an die Kirche unterscheiden. Denn nur dann werden sie erkennen, inwiefern das von ihnen gemeinsam Bekannte gewichtiger ist als die in ihren Grenzen durchaus zu würdigenden Unterschiede kirchlicher Traditionen und Konfessionen. Gerade in einer Situation, in der Ökumene auch in Zukunft nur als Gemeinschaft von Gemeinschaften vorstellbar ist, gewinnt die Unterscheidung zwischen dem Bekenntnis zu Christus als dem Herrn und dem Glauben an die Kirche fundamentale Bedeutung.
Auf diesem Hintergrund kann man auch die vielzitierten ekklesiologischen Spitzensätze Cyprians nicht in dem Sinn interpretieren, dass eine kirchliche Institution die Qualität des Kircheseins für sich allein in Anspruch nimmt. “Der häufig variierte Satz, dass nur in der Kirche Heil ist, ... spricht die allgemeine Überzeugung der alten Kirche aus”  – die Überzeugung nämlich, dass die Gemeinschaft der Kirche für das Leben aus Glauben genauso notwendig ist wie die Arche Noahs für das Überleben der Sintflut.  Neu ist bei Cyprian und in der von ihm begründeten Traditionslinie die überragende Stellung, die dem Bischofsamt zugewiesen wird. Gewichtig ist vor allem die Tatsache, dass der Bischof als Garant der Einheit der Gemeinde angesehen wird. “Der Bischof ist in der Kirche und die Kirche ist im Bischof”; Gemeinschaft mit dem Bischof bedeutet Gemeinschaft mit der Kirche.  Doch schon die altkirchliche Entwicklung selbst zeigt, dass damit nicht so sehr eine Garantie kirchlicher Einheit durch das bischöfliche Amt, sondern eine Verpflichtung dieses Amtes selbst auf die Einheit der Kirche beschrieben wird. So gewendet erinnert schon die altkirchliche Entwicklung daran, dass alle kirchlichen Ämter, aber das Bischofsamt in herausgehobener Weise Ämter der Einheit sind und damit unter einer ökumenischen Verpflichtung stehen. Auch zur Verhältnisbestimmung von Ökumenizität der Kirche und kirchlichem Amt gewinnt man also dann ein weiterführendes Verhältnis, wenn man die altkirchliche Verknüpfung als die Beschreibung einer für das kirchliche Amt konstitutiven Aufgabe begreift.
Die Diskussion über “Dominus Iesus” hat für den evangelischen Bereich die Aufgabe eingeschärft, die eigenständige Gestalt des evangelischen Kirchenverständnisses klarer, profilierter und auch selbstbewusster zur Geltung zu bringen, als dies in der Vergangenheit bisweilen geschehen ist. Bei Neuansätzen, die dieser Zielsetzung dienen, ist häufig zu beobachten, dass sie sich im Interesse eines evangelischen Profils vorrangig an den reformatorischen Bekenntnisschriften und reformatorischen oder nachreformatorischen Aussagen ausrichten. Damit wird aber ganz zu Unrecht der Eindruck erweckt, als gehöre die vorreformatorische Theologie in irgendeinem Sinn ausschließlich oder vorrangig in den Besitz der römisch-katholischen Kirche beziehungsweise der orthodoxen Kirchen. Die Reformatoren selbst haben sich jedoch ständig und mit guten Gründen gegen den Vorwurf gewehrt, sie hätten eine “neue Kirche” begründet. Ihr Anspruch bestand ganz im Gegenteil darin, die “rechte alte Kirche” geblieben zu sein, die sich wegen der “Neuerungen” der Papstkirche von dieser trennen musste. Denn die eine apostolische Kirche ist die, in der das Evangelium rein verkündigt und die Sakramente dem Evangelium gemäß gefeiert werden.  Insofern besteht aller Anlass, für die Grundzüge eines reformatorischen Kirchenverständnisses auch die Dokumente der vorreformatorischen Ekklesiologie heranzuziehen und fruchtbar zu machen. In ganz besonderem Maß gilt das für das Kirchenverständnis der alten Kirche. Wenn heute an dieses Kirchenverständnis angeknüpft wird, dann nicht, um die Vorstellung eines consensus quinquesaecularis zu erneuern, sondern um diejenige Epoche der Christentumsgeschichte fruchtbar zu machen, in welcher die Grundfragen der geschichtlichen Existenz der Kirche zum ersten Mal durchdacht werden mussten. Unbestreitbar ist freilich zugleich, dass eine solche Bezugnahme auf Dokumente der ersten christlichen Jahrhunderte zugleich die Basis des ökumenischen Dialogs verbreitert.

Für Prozess und Aufgabe der Inkulturation hat sich in den letzten Jahren  im Protestantismus ein neues Interesse entwickelt. Nach langen Jahrzehnten einer zumindest theoretisch kultivierten Diastase von Glauben und Kultur  zeigt sich eine neue Aufmerksamkeit für das Verhältnis von Religion und Kultur.  Man beginnt einen Sachverhalt neu wahrzunehmen, den Johann Baptist Metz einmal pointiert so ausgedrückt hat: “Man kann das Christentum nicht kulturell entblättern, ohne seine Identität preiszugeben. ... Kulturen sind nicht der Rost, den man vom Eisen des Christentums klopfen kann, um es als blankes dann zurückzubehalten. Ein kulturell entblößtes, ein kulturell nacktes Christentum ist nicht möglich. ‚Jesus war kein Christ, sondern Jude.‘ Wer nur das Christentum kennt, kennt das Christentum eben nicht.”
Freilich besteht gegenwärtig die Gefahr, dass in einer Überreaktion gegen die Phase einer diastatischen Verhältnisbestimmung von Glaube und Kultur nun einer erneuten Identifikation das Wort geredet wird. Häufig geschieht das dergestalt, dass  Religion als Teil von Kultur betrachtet oder dass von einer “Religionskultur” gesprochen wird.  Dabei bleibt jedoch sowohl die Eigenständigkeit von Religion als Lebensbereich als auch die Differenz des christlichen Glaubens zur jeweiligen kulturellen Lebenswelt unterbestimmt.
Ein Rückblick auf die ersten Jahrhunderte der Christentumsgeschichte kann uns ein Modell von Inkulturation vor Augen stellen, in dem nicht nur der Austausch mit den kulturellen Lebensformen der jeweiligen Zeit gestaltet, sondern zugleich die Eigenständigkeit des Glaubens erkennbar gemacht wurde. Nicht die These von der “Hellenisierung des Christentums” wird eine solche Betrachtung bestimmen, sondern eine differenzierte Beobachtung dazu, wie die christliche Theologie der ersten Jahrhunderte die Denkformen antiker Philosophie benutzte, um die christliche Botschaft in ihrer Eigenständigkeit verständlich zu machen.
Freilich verbindet sich mit dieser positiven Würdigung sofort die Frage, ob nicht mit der “konstantinischen Wende” ein Bruch eingetreten ist, durch den das Christentum in ein Kartell mit den herrschenden Mächten und ebenso auch mit der herrschenden Kultur eingetreten ist. Die These von einem solchen Umbruch im Verhältnis zwischen christlichem Glauben und Kultur ist zu einem beherrschenden Motiv des protestantischen Geschichtsbildes geworden, seit Günter Jacob – öffentlich zuerst 1956, aber in persönlichen Aufzeichnungen schon während des Zweiten Weltkriegs – die These vom Ende des Konstantinischen Zeitalters vertreten hat.  Doch es handelt sich bei dieser These im Kern um eine geschichtstheologische Konstruktion, die ihre Plausibilität eher aus den zeitgeschichtlichen Erfahrungen des Autors als aus den geschichtlichen Bedingungen der konstantinischen Ära gewinnt.
Historisch betrachtet war die Erklärung des Christentums zur religio licita, auf die knapp sieben Jahrzehnte später die Privilegierung des Christentums als Staatsreligion folgte, nicht ein voraussetzungsloses, plötzliches Ereignis, sondern der Abschluss eines lange vorbereiteten Prozesses. Dennoch ist nicht zu verkennen, dass die kaiserliche Fürsorge für die Einheit der Kirche und die Übernahme staatlicher Organisationsformen in den kirchlichen Bereich Rückwirkungen von erheblichem Ausmaß hatten. Doch am wichtigsten war, dass der christliche Glaube nun nicht mehr nur an der Kultur seiner jeweiligen Zeit partizipierte, sondern für sie in einem unmittelbaren Sinn Verantwortung übernahm. Genau in diesem Sinn aber kann es ein Ende des Konstantinischen Zeitalters im Sinn eines Abschieds von dieser kulturellen Mitverantwortung schlechterdings nicht geben. Die Weltfähigkeit des christlichen Glaubens und seine Teilhabe an der Verantwortung für die kulturellen Lebensbedingungen einer Gesellschaft lassen sich nicht widerrufen.

Traditionsfähigkeit habe ich als letztes Stichwort genannt. Sie bildet den Zug an der patristischen Epoche, der mich derzeit am meisten beschäftigt. Das hängt natürlich mit der Erfahrung des Traditionsabbruchs und der Verantwortung für den Neuaufbau von Traditionsfähigkeit zusammen, vor dem wir in Deutschland, insbesondere im Osten Deutschlands, stehen. Angesichts dieser Aufgabe stellt sich heraus, dass der Protestantismus auf diese Aufgabe besonders schlecht vorbereitet ist. Dass sein Verhältnis zur Tradition vor allem die Gestalt der Traditionskritik annahm, erschien als unproblematisch, so lange die Kräfte der Kontinuität als ausreichend wahrgenommen wurden. Dass er sich um die institutionellen Voraussetzungen für die Weitergabe des Evangeliums an die nächste Generation nicht selbst zu kümmern brauchte, mochte so lange hingehen, so lange die staatlichen Obrigkeiten dafür als verantwortlich galten – obgleich man das Problematische an dieser Gestaltungsform nicht geringschätzen sollte.
Denn mit dem reformatorischen Grundverständnis christlicher Freiheit vertrug sich all das in Wahrheit nicht. Denn es handelt nicht nur von den kritischen Folgen der Freiheit, sondern auch von der Fähigkeit, in der Freiheit zu bestehen, zu der uns Christus befreit hat. Insofern ist die christliche Freiheit nicht eine beliebige, sondern eine verpflichtende Freiheit.
Dieser Verpflichtungscharakter christlicher Freiheit ist im Protestantismus über lange Zeit in den Hintergrund getreten. Das hat sich vor allem darin Ausdruck verschafft, dass die Gemeinschaftsgestalt des Glaubens weithin mit Gleichgültigkeit behandelt wurde. Der Abbruch der Kirchenmitgliedschaft in der Zeit der DDR wie die Tatsache, dass es im Verantwortungsbereich der ostdeutschen Kirchen derzeit nur einzelne Menschen sind, die einen Anlass verspüren, ihre Abkehr von der Kirche zu revidieren – all das ist auch eine Folge des vermeintlich protestantischen Grundsatzes “Glaube ja – Kirche nein”.. Dass die Gemeinschaft in der Kirche um des Glaubens selbst willen notwendig ist, muss im Protestantismus gerade heute buchstabiert werden – in einer Zeit, in der die gesellschaftlichen Bedingungen einem solchen Lernprozess nicht gerade günstig sind. Dass diese Einsicht in der vorkonstantinischen Epoche schon einmal gewonnen wurde, kann dabei hilfreich sein. Man braucht ja nicht die damalige Ämterstruktur für eine Struktur göttlichen Rechts zu halten; man braucht auch vom Bischofsamt nicht so zu denken wie Cyprian und seine Nachfolger. Aber dass der Glaubende um seines Glaubens willen auf die Kirche so angewiesen ist wie Noah und die Seinen auf die Arche – das bleibt ein nachdenkenswerter Impuls dafür, dass der Protestantismus endlich entwickelt, was er so dringend braucht: ein theologisches Begreifen der Kirche als Institution.