Von Hamburg aus ging „Stille Nacht“ in die Welt
Diakonie-Gründer Wichern entdeckte das österreichische Weihnachtslied für sein Liederbuch
Hamburg (epd). Im Archiv der Hamburger Stiftung „Das Rauhe Haus“ lagert ein unscheinbares kleines Büchlein – 48 Seiten gebunden in schwarzem Karton. Es ist das Liederbuch von Diakonie-Gründer Johann Hinrich Wichern (1808-1881), das dazu beitrug, dass sich das österreichische Lied „Stille Nacht, heilige Nacht“ in ganz Deutschland und auch weltweit verbreitete. Allerdings verlor es dabei drei seiner sechs Strophen.
200 Jahre alt wird „Stille Nacht“ in diesem Jahr. Am 25. Dezember 1818 wurde es erstmals aufgeführt. Weil die Orgel im österreichischen Oberndorf kaputt war, musste Organist Franz Xaver Gruber für die Mitternachtsmesse noch ein Lied zur Gitarre komponieren. Zwei Jahre zuvor hatte Pfarrer Joseph Mohr bereits den Text dazu verfasst.
Der Orgelbaumeister Mauracher, der die Oberndorfer Orgel reparierte, brachte das Lied dann in seinen Heimatort Fügen im Zillertal, von wo aus es die tourenden Sängerfamilien Strasser und Rainer bekanntmachten. Die erste belegbare Aufführung außerhalb Österreichs fand 1832 in Leipzig statt, 1839 sangen die Rainers es in New York.
Zu dieser Zeit gründete Johann Hinrich Wichern 1833 vor den Toren Hamburgs ein Heim für verwahrloste Kinder aus den Hamburger Elendsvierteln. Mittelpunkt war eine Bauernkate mit dem Namen „Ruges Hus“, deren Nachbau heute noch auf dem Gelände der Stiftung steht. Zum Konzept gehörte, dass Wichern als Erzieher fromme, gestandene Handwerker einstellte, die eine pädagogische Schulung erhielten.
„Hier wurde viel gefeiert“
Gesang und Klaviermusik waren Teil des Alltags im Rauhen Haus. „Hier wurde auch viel gefeiert“, sagt Pastor Friedemann Green, Vorsteher des Rauhen Hauses. Auf seinen Reisen sammelte Wichern Lieder für seine Kinder und brachte 1844 ein eigenes Liederheft mit 132 Texten heraus. Neben Kirchenliedern enthielt es auch Volkslieder wie „Es tanzt ein Bi-Ba-Butzemann“ oder „Alle Vögel sind schon da“. Da das Rauhe Haus eine eigene Druckerei besaß, wurde schnell eine Auflage von mehreren tausend Stück erreicht.
Lied Nr. 111 ist das heutige „Stille Nacht“, das damals noch „Freude am Christkind“ hieß. Allerdings hat Wichern das Lied stark verändert. So strich er drei der ursprünglich sechs Strophen. Als Ausdruck der Friedenssehnsucht während der Napoleonischen Kriege hieß es in der fünften Strophe: „Stille Nacht! Heilige Nacht!/ Lange schon uns bedacht,/ Als der Herr vom Grimme befreit,/ In der Väter urgrauer Zeit/ Aller Welt Schonung verhieß!“ Die Strophen drei, vier und fünf wurden gestrichen und die sechste Strophe zwischen die ersten beiden platziert – und so steht es heute auch im Evangelischen Gesangbuch.
Wichern nahm auch einige theologische Änderungen vor: Aus „Jesus! in deiner Geburt“ wurde „Christ, in deiner Geburt“. Nach Einschätzung von Pastor Green wollte Wichern damit den Gottessohn Christus stärker betonen als das Menschenkind Jesus. Aus dem „hochheiligen Paar“ wurde ein „seliges Paar“, weil das der evangelischen Frömmigkeit offenbar mehr entsprach. Wichern habe hier „theologisch etwas abgerüstet“, so Green. Allerdings setzte sich diese Formulierung nicht durch, so dass sie in späteren Auflagen des Liederheftes wieder zurückgenommen wurde.
Die Lieder zogen mit den Auswanderern in die Welt
Die Auswandererarbeit des Rauhen Hauses war es dann, die zur Verbreitung von „Stille Nacht“ in Übersee beitrug: Viele deutsche Auswanderer, die im Hamburger Hafen an Bord gingen, verbrachten einige Zeit in den Auswandererhallen unter ärmlichsten Bedingungen. Hier waren Männer des Rauhen Hauses engagiert, um die Not zu lindern. Zu ihrer Arbeit gehörte auch gemeinsamer Gesang – und so zogen die Lieder mit den Auswanderern in die Welt.
Der Tiroler „Stille Nacht“-Forscher Martin Reiter geht davon aus, dass das Lied heute in knapp 350 Sprachen gesungen wird. Dazu zählen afrikanische Dialekte ebenso wie Chinesisch oder Koreanisch. Im März 2011 wurde es in Österreich in die nationale Liste des immateriellen Unesco-Kulturerbes aufgenommen.
In den evangelischen Gesangbüchern dagegen fand man das Lied lange Zeit nur in den Regionalteilen oder unter der Rubrik „Geistliche Volkslieder“. Erst Mitte der 1990er Jahre wurde „Stille Nacht“ gemeinsam mit „O du fröhliche“ und „Ihr Kinderlein kommet“ offiziell in den Weihnachtsteil übernommen (EG 46), allerdings nur mit Wicherns drei Strophen.
Vielen gilt das Lied heute als zu süßlich. Auch Pastor Green hat „Stille Nacht“ anfangs nicht besonders gemocht. In seinem ersten Weihnachtsgottesdienst in der Gemeinde Sörup bei Flensburg ließ er das Lied daher weg. „Das habe ich dann aber nur einmal gemacht“, erinnert er sich. Der „Sturm der Entrüstung“ sei unüberhörbar gewesen. Seitdem gehört auch für ihn „Stille Nacht“ zu jedem Weihnachtsgottesdienst dazu.