Religionen: Friedensstifter oder Brandstifter

Wolfgang Huber

Hanns-Lilje-Stiftung Hannover

Das Thema, das Herrn Elyas und mir heute gestellt ist, ist gut für einen politischen Aschermittwoch geeignet. Vor allem in Bayern wird der Aschermittwoch vor allem für kräftige Anklagereden genutzt. Damit der Redner nicht zu viel Asche auf seinem eigenen Haupt sammeln muss, fordert er dann lieber vom jeweils anderen, vom jeweiligen Gegner, dass er in Sack und Asche zu gehen habe. Und so könnte man sich daran machen, in einem großen Schreckensgemälde darzustellen, in welchen Fällen in Geschichte und Gegenwart im Namen der Religion, im Namen Gottes, auch im Namen des christlichen Glaubens Kriege geführt, Gewalt verherrlicht, der Einsatz militärischer Mittel gerechtfertigt wurde – und, Gott sei es geklagt, gerechtfertigt wird.
Bis in unsere Gegenwart hinein erleben wir, dass religiöse Gegensätze in Verbindung mit ethnischen oder sozialen Konflikten konfliktverschärfend eingesetzt werden. In Nordirland, auf dem Balkan oder in diesen Tagen an den erschreckenden Vorgängen auf Borneo lässt sich das verdeutlichen.
Jedenfalls für die drei abrahamitischen Religionen gilt, dass sie in ihrer Geschichte nicht nur Boten des Friedens waren – so eindrucksvoll sie das in bestimmten Phasen auch gewesen sind. Sondern sie wurden auch Träger des Unfriedens und sind das bis zum heutigen Tag. In der christlichen Tradition selber ist dabei die Rechtfertigung von Gewalt bis zu den schrecklichen Formen vorgedrungen, in denen sie sich von einem christlichen Antijudaismus in einen christlichen Antisemitismus verwandelte und auf diese Weise von manchen als eine vermeintliche Rechtfertigung der Ausrottung des europäischen Judentums herangezogen wurde.

Ich werde in meinen knappen Überlegungen darauf verzichten, andere religiöse Traditionen wegen solcher Vorgänge anzuklagen. Ich werde, soweit ich darauf eingehe, mich darauf beschränken, meine eigene evangelische Tradition auch unter diesem Gesichtspunkt zu beleuchten.
Nach meiner Überzeugung gibt es keinen Zugang zur Friedensaufgabe der Religionen ohne selbstkritische Aufklärung darüber, in welchem Maß, auf welcher Grundlage, in welchem Umfang sie sich an der Verhinderung von Frieden beteiligt haben.

Mir ist es nicht möglich, dem Satz von Herrn Elyas zu folgen und zu sagen, die Religionen seien nur Friedensstifter und nicht Brandstifter, zu Brandstiftern seien vielmehr nur die Anhänger der Religionen geworden. Die Religion selbst, so sehe ich das, sind in das Brandstiften kräftig mit hineingezogen worden. Deswegen beschäftigt mich die Frage, ob der Titel dieser Veranstaltung uns vielleicht in eine falsche Alternative verlocken könnte: “Die Religionen – Bandstifter oder Friedensstifter?” Vielleicht liegt die Ambivalenz, der wir uns stellen müssen darin, dass sie jedenfalls in ihrer Geschichte bis in unsere Gegenwart hinein sich sowohl als Brandstifter als auch als Friedensstifter betätigt hat.

Wir werden uns schnell darüber einig sein, dass sie das Brandstiften beenden und das Friedenstiften ausbauen sollen. Doch wie das gehen kann, ist immer wieder umstritten. Und noch einmal sage ich: An der eigenen Geschichte vorbei, auch an der Leidensgeschichte derer, die im Namen von Religionen Opfer von Gewalt wurden, vorbei wird es keinen Weg dazu geben, dass die Religionen in klarer Weise Friedensstifter sind und die Zeit hinter sich lassen, in der sie auch Brandstifter waren.
Ein Zitat hat in meiner eigenen Biographie ein plötzliches Erschrecken ausgelöst. Und dieses Zitat will ich Ihnen nicht ersparen.

“Ist auch kärglich des Krieges Brot, / schaff uns täglich den Feinden Tod / und zehnfältiges Wehe! / In barmherziger Langmut vergib / jede Kugel und jeden Hieb, / die wir vorbeigesendet. / In die Versuchung führe uns nicht, / dass unser Zorn dein Gottesgericht / allzu milde vollendet! / Uns und unseren Bundesfreund / gib Erlösung vom höllischen Feind / und seinen Dienern auf Erden. / Dein ist das Reich, das deutsche Land, / uns muss durch deine gepanzerte Hand / Kraft und Herrlichkeit werden.”

Dies ist ein blasphemisches Gedicht, dem Vater-Unser nachgebildet. Von einem evangelischen Pfarrer namens Dietrich Vorwerk wurde es im Jahre 1914 gedichtet und unter dem Titel ‘Hurra und Halleluja’ veröffentlicht.

Im Ersten Weltkrieg, aus dem dieses Gedicht stammt, protestierten Pfarrer und Theologiestudenten unserer evangelischen Kirche dagegen, dass sie nicht zum Kriegsdienst eingezogen wurden. Es hagelte Massenpetitionen von evangelischen Theologen an Kaiser Wilhelm II. und die anderen Landesfürsten. Manche von ihnen atmen einen Geist, der zwischen der staatsbürgerlichen Loyalität zur eigenen Nation und der religiösen Verherrlichung des Nationalismus nicht zu unterscheiden wusste. Auf diesen und anderen Wegen ist unsere Kirche in die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts in Deutschland besonders verstrickt. Das Erschrecken darüber hat nach 1945 Gegenbewegungen ausgelöst. Die Furcht vor der Rüstungseskalation, unter Einschluss von Massenvernichtungswaffen, hat große friedensethische Diskussionen ausgelöst. Sie haben auch dort, wo man sich nicht einigen konnte, das friedensethische Bewußtsein in unserer Kirche geschärft. Daran müssen wir heute in einer Situation anknüpfen, die in mancher Hinsicht durch eine “neue Unübersichtlichkeit” geprägt ist. Wir haben das beispielhaft in der Kosovokrise des Jahres 1999 gemerkt. Mögliche eigene Irrtümer sind dabei eingeschlossen.
Der Lernprozess, in dem wir uns in unserer Kirche befinden, und ebenso auch der Lernprozess, der sich auch zwischen den Kirchen und den Religionen entwickelt hat, sind gegen Rückfälle nicht gefeit. Noch immer haben wir es damit zu tun, dass die Unterschiedlichkeit von Konfessionen und Religionen mit ethnischen Konfliktlinien identifiziert wird. Das zerfallene Jugoslawien ist dafür das deutlichste Beispiel.
Mich beschäftigt dieses Thema seit mehr als drei Jahrzehnten intensiv. Trotzdem bin ich mit ihm nicht am Ende. Deswegen frage ich auch immer wieder: Gibt es denn zu den Problemen von Frieden und Gewalt eine klare biblische Weisung? Können wir sie in einer vergleichbaren Weise fruchtbar wachen, wie auch Herr Elyas seine Tradition in unser Gespräch eingebracht hat?

Die katholische Bischofskonferenz in Deutschland hat vor wenigen Wochen ein Hirtenwort veröffentlicht, das den programmatischen Titel trägt: ‘Gerechter Frieden’. In diesem Hirtenwort erschließt sie den biblischen Zugang zur Friedensverantwortung der Glaubenden auf eine neue Weise. Ich habe diesen Zugang in diesem Dokument zum ersten Mal in der Autorität katholischer Bischöfe vorgebracht gefunden. Sie erschließt die Friedensverantwortung der Christen vom menschlichen Hang zur Gewalttätigkeit her; sie beschreibt die Aufgabe der Gewaltfreiheit auf dem Hintergrund einer Welt der Gewalt. Die biblische Friedensbotschaft, so heißt die zentrale – sehr stark durch René Girard und Raymund Schwager inspirierte These – zeigt ihr besonderes Profil erst auf dem Hintergrund der Tatsache, dass sich die biblische Überlieferung dem menschlichen Hang zur Gewalttätigkeit mit einer unglaublichen Intensität aussetzt.

Schon die biblische Urgeschichte macht das deutlich. Sie beschreibt die menschliche Ursünde in zwei Hinsichten. Die eine Hinsicht ist das Mißtrauen gegenüber Gott; die andere ist die gewaltsame Zerstörung der zwischenmenschlichen Harmonie –  jene gewaltsame Zerstörung, für die der Brudermord Kains an Abel steht.

Dieselbe Gewaltsamkeit tritt ein weiteres Mal in der Sintflutgeschichte auf. Nun kennt auch die Umwelt der Bibel Sintflutgeschichten. Aber diese Fassung der Sintflutgeschichte ist die einzige, die die große Katastrophe der Schöpfung auf die menschliche Gewalttätigkeit zurückführt. Die Botschaft des Friedens wird dieser Gewalttätigkeit sozusagen abgerungen. Der Frieden ist ein Resultat der Auseinandersetzung mit dem urtümlichen Hang des Menschen zur Gewalt. Der Regenbogen, der am Ende der Sintflutgeschichte steht, wird deswegen zu einem so eindringlichen Symbol des Friedens, weil er einen der Gewalt abgerungenen Frieden darstellt.

In einer dritten Stufe begegnet uns der Verfall des Völkerfriedens in der Geschichte vom Turmbau von Babel. Der Segen, der im Anschluss an diese Geschichte Abraham zugesprochen wird, ist wiederum ein diesem Zerfall abgerungener, ihm entgegengesetzter, ihm abgetrotzter Segen. Der Sinn der Geschichte des von Gott auserwählten Volkes liegt von daher darin, dass in ihm ein Friedenszeichen angesichts der Geschichte der Gewalt ein Friedenszeichen aufgerichtet wird. Dieser Frieden – der Schalom – ist ein Prozess, nicht einfach eine von Anfang an vorhandene Gewissheit. Übrigens spiegelt sich dieser Prozess auch im Bild Gottes selbst.

Ein Alttestamentler hat das einmal so beschrieben, dass er gesagt hat: Wir beobachten im Alten Testament eine allmähliche Distanzierung Gottes vom Krieg. Sie kommt zu ihrem Höhepunkt in den großen prophetischen Friedensvisionen.

Wir beobachten übrigens auch, wie der Versuch unternommen wird, die Gewaltneigung des Menschen von ihm abzuwerfen und einem Sündenbock aufzuladen. Eindringlich beschreibt das Alte Testament diesen Grundvorgang, den wir auch heute noch aus eigenem Verhalten selber kennen.
Wir beobachten schließlich, wenn ich diesen großen Bogen in der Kürze der Zeit schlaen darf, wie diese der Gewalt abgetrotzte Friedenshoffnung sich mit dem Namen des Jesus von Nazareth verbindet. Auch im Blick auf die Person Jesu kann diese Friedenshoffnung überhaupt nur ausgesprochen werden, weil er sich der Gewalt selbst aussetzt, ja ihr zum Opfer fällt. Das Bekenntnis “Christus ist unser Frieden” ist ein Bekenntnis zu dem Auferstandenen, der selber Opfer menschlicher Gewalt geworden ist.
Nicht eine Leugnung, nicht eine Abwendung, nicht eine Ignorierung dieser Gewaltneigung der Menschen, sondern eine innere Auseinandersetzung mit ihr ist der Kern des christlichen Friedensbekenntnisses und des Versuchs, für den Frieden tätig zu werden.

Die Grundlage für die Abkehr von der Gewaltneigung der Religion liegt im Christentum in der Zusage, dass Christus unser Friede ist. Auf diesem Hintergrund verstehen wir die entscheidende Friedensweisung, nämlich die Weisung der Bergpredigt zur Gewaltlosigkeit.

Wie aber fügt sich die Bergpredigt in diejenige Auseinandersetzung mit dem Gewaltphänomen, die ich gerade beschrieben habe? Sie fügt sich hinein, wenn wir auf die Realitätsbezogenheit achten, die für die Bergpredigt kennzeichnend ist. Ganz gegen eine Deutung, die in der Bergpredigt ein weltfremdes Dokument sieht, finde ich diesen Realitätsbezug das eigentlich Überraschende an der Bergpredigt. Ich will das in aller Kürze mit vier Hinweisen beschreiben.

Realitätsbezogen ist die Bergpredigt darin, wie sie die Konfliktdynamik menschlichen Lebens aufdeckt. Das geschieht in einer bewegenden Weise in den Antithesen vom Töten, vom Ehebruch, vom Schwören, vom Vergelten oder von der Feindesliebe. Deren Pointe besteht darin, dass sie den Hörer oder Leser zunächst einmal in aller Übertreibung darauf hinweisen, wie es um ihn steht: Du neigst zum Angriff auf das Leben der anderen; du neigst dazu, dich in Liebesbeziehungen anderer Menschen hineinzumischen; du neigst dazu, der Wahrheit auszuweichen; du suchst Vergeltung; du kultivierst Feindschaften.  All diese präzisen Übertreibungen treffen unsere Wirklichkeit.

Realitätsbezogen ist die Bergpredigt sodann darin, wie sie Gottes Nähe ansagt. Vor allem in den Seligpreisungen am Beginn der Bergpredigt geschieht das. Sie beziehen sich in ihrer ältesten erreichbaren Fassung in einer ungeheuren sozialen Direktheit auf die Armen, die Hungrigen und diejenigen, die um einen anderen Menschen trauern.

Realitätsbezogen ist die Bergpredigt schließlich darin, dass sie Chancen der Gewaltfreiheit auslotet und nicht etwa Gewaltfreiheit als Prinzip in utopischer Weise fordert. Derjenige, der einen ehrverletzenden Schlag mit dem Handrücken auf die rechte Backe erhält, bietet auch noch die linke dar. Derjenige, der in einem Pfändungsstreit um seinen Rock gebracht wird, bietet freiwillig den Mantel an. Der Israelit, der von einem Vertreter der Besatzungsmacht zu Spanndiensten zwangsverpflichtet wird, trägt dessen Gepäck aus freien Stücken über die erzwungene Distanz hinaus. Überraschende Chancen der Gewaltfreiheit in einer noch nicht erlösten, also auch noch von der Realität der Gewalt geprägten Welt werden hier gezeigt. Das ist die eigentliche Inspiration der Bergpredigt.

Was bedeutet das – so muss ich wegen der Kürze der Zeit schon zum Schluss fragen – für eine Dekade zur Überwindung von Gewalt, wie der Ökumenische Rat der Kirchen sie am 4. Februar in Berlin, am 95. Geburtstag Dietrich Bonhoeffers übrigens, ausgerufen und weltweit in Gang gesetzt hat?
Aus dem Gesagten ergibt sich erstens die Verpflichtung, die Konfliktdynamik in unserer Welt wirklich ernst zu nehmen und nicht zu leugnen. Es ist nötig, auf die Vielfalt von Gewaltphänomenen zu achten, mit denen wir es zu tun haben. Zu ihnen gehört die Gewalt gegen Kindern und Frauen, auch in ihren vielen verdeckten Formen. Zu ihnen gehört dieGewalt gegenüber Fremden und Minderheiten, auch in den Formen, in denen sie mit einem religiösen Gegensatz scheinbar legitimiert wird, dessentwegen dann die Solidarität mit den Opfern der Gewalt unter Umständen verweigert wird. Herr Elyas hat das beschrieben und in meinen Augen zu Recht beklagt. Zu der Realität, in der wir leben, gehört dann aber auch die Gewalt in den Konflikten zwischen Ländern, Völkern und Bevölkerungsgruppen. In der Grundlinie der biblischen Friedensbotschaft liegt es, diese Gewaltdynamik wahrzunehmen und sie nicht zu leugnen.

Dazu tritt nun aber zweitens ein Ernstnehmen der vorrangigen Option für die Gewaltfreiheit. Dem christlichen Glauben geht es um die Überwindung der Gewalt in der Vielfalt ihrer Formen: in der Erziehung, in den Familien, auf den Straßen, auf den Schulhöfen undsofort. Wenn die Religionen miteinander im Sinn einer Überwindung der Gewalt für eine Kultur des Friedens Zeichen setzen würden, hätte das in unserer Gesellschaft mehr Wirkung, als wir uns bisher träumen lassen.

Die Religionen sollten miteinander in den internationalen Beziehungen dafür eintreten, dass die konfliktpräventive und gewaltpräventive Konfliktbeilegung den Vorrang vor der nachträglichen militärischen Intervention hat. Sie sollten ihre Beziehungen über Grenzen hinweg für ein Frühwarnsystem einsetzen, das uns dabei hilft, dass wir nicht immer erst dann erschrecken, wenn die Gewalt ausgebrochen ist. Sie sollten die Bereitschaft zum Engagement bei Menschen jeden Alters dafür nutzen, dass sich die Basis für einen Zivilen Friedensdienst verbreitert. Wenn all das geschähe, würde Gewalt nicht in jedem Einzelfall überwunden, aber in vielen Fällen durch eine gemeinsame Anstrengung zurückgedrängt.

Gewiss werden wir auch dann der Frage nicht ausweichen können, ob es Situationen von Notwehr und Nothilfe gibt, in denen auf die faktisch ausgeübte Gewalt nicht anders geantwortet werden kann als dadurch, dass ihr mit Gegengewalt ein Ende gemacht wird. Aber niemals mehr sollten wir zurückfallen in Vorstellungen, die auf solche Situationen mit einer Lehre vom gerechten Krieg antworten. Immer sollten wir darauf achten, dass in der Perspektive des christlichen Glaubens, und – davon bin ich überzeugt – auch in der Perspektive anderer Religionen der gerechte Frieden liegt und nicht der gerechte Krieg.
Gewiss muss man sich mit solchen Fragen als Grenzfragen auseinandersetzen. Aber meine große Hoffnung ist, dass die Dekade zur Überwindung von Gewalt einen Beitrag dazu leistet, dass wir mehr Phantasie und Initiative für die Suche nach Wegen aufwenden, um mit Konfliktsituationen ohne den Einsatz von Gewalt umzugehen, als dass wir uns wieder ganz und gar darauf konzentrieren, vermeintliche Rechtfertigungen für den Einsatz von Gewalt zu suchen.

Orientierung in solchen Fragen zu vermitteln, ist gewiss notwendig. Aber wichtiger ist, dass die Kirchen und die Religionen selbst ein Beispiel friedlichen, gewaltfreien Zusammenlebens geben. Dass die Versöhnungsarbeit der Kirchen und der Religionen in Konfliktregionen und Konfliktsituationen bisher keine größere Rolle spielt, ist für mich das eigentlich Schmerzliche. Dass diejenigen, die etwa im zerfallenen Jugoslawien sich um eine solche Versöhnungsarbeit bemühen, kein größeres Gewicht in der Region haben, ist das, was mich bekümmert. Wenn wir im eigenen Land durch neue Formen des Zusammenlebens über die Grenzen der Religionen hinweg, durch neue Formen, sich wechselseitig wahrzunehmen, durch neue Formen einer aktiven, auf eigenen Überzeugungen gegründeten Toleranz und nicht eines vergleichgültigenden Relativismus und durch andere Versuche Beispiele dafür setzen, dass Versöhnungsarbeit über die Grenzen hinweg möglich ist, dann ist dies der wichtigste Beitrag der Religionen.
Es kommt nicht nur darauf an, dass die Religionen sich an der einen oder anderen Stelle gesellschaftlich einsetzen. Wichtiger ist, dass sie zeigen, wie es möglich ist, auch über Gott friedlich zu streiten. Das könnte heute sogar der wichtigste Beitrag der Religionen zum Frieden sein. Denn dann würden sie einen wichtigen Schritt weg von ihrer Rolle als Brandstifter und hin zu ihrer Rolle als Friedensstifter gehen.

 
Diskussion
Ich möchte auf  alle drei Bemerkungen von Herrn Elyas kurz reagieren.
Das erste: Unter den verschiedenen Versuchen, den Begriff der Religion auch sprachlich zu erklären, leuchtet mir derjenige am meisten ein, der sagt, das Wort Religion komme von dem lateinischen Wort ‚religere‘, das wörtlich übersetzt heißt: ‚wieder lesen‘. Es geht um ein regelmäßiges Wiederholen, um eine stetige Praxis.  Religion ist demnach diejenige menschliche Lebenspraxis, in der Menschen ihrem Verhältnis zu Gott, zum Göttlichen, zum Heiligen, zum unbedingten Grund ihres Lebens eine dauerhafte und verlässliche Gestalt geben. Diese Lebenspraxis kennt Riten und andere wiederholbare Formen der Frömmigkeit; darin besteht das ‚Wiederlesen‘, das Wiederholen der Religion. Religion ist also nicht einfach eine von dieser Lebenspraxis abgehobene Kernidee; es handelt sich nicht um einen reinen, von menschlichem Handeln unbeeinflussten und unbeeinflussbaren Kern. Sondern Religion ist immer gelebte Religion. Sie ist immer eine in menschliche Riten, in menschliche Verhaltensweisen, in menschliche Geschichte inkarnierte Gottesverehrung. Deswegen gehört zu den bitteren, aber gerade für glaubende Menschen unausweichlichen Einsichten, dass es nicht nur gute Religion gibt. Es gibt vielmehr auch böse Religion. Es gibt verkehrte und verkehrende Formen, in denen Menschen ihrem Gottesverhältnis Ausdruck geben. Deshalb sind, jedenfalls nach evangelischem Bekenntnis, nicht nur die einzelnen Christen der rechtfertigenden Gnade Gottes bedürftig, sondern auch die Gemeinschaft der Christen, auch die Kirche.
Im Unterschied zu einem Votum der päpstlichen Theologenkommission im Zusammenhang mit dem päpstlichen Schuldbekenntnis im März 2000 sagen wir als evangelische Kirche, dass nicht nur “die Söhne und Töchter der Kirche” gesündigt haben, sondern auch die Kirche selbst. In ihrer eigenen Geschichte ist sie schuldig geworden und bedarf der Vergebung.

Es gibt zwischen Herrn Elyas und mir an dieser Stelle eine wirkliche Differenz. Es gibt, jedenfalls nach meiner tiefen Überzeugung, keinen Zugang der Kirche zu ihrer Friedensverantwortung ohne ein Bekenntnis von Sünde und Schuld. Alles andere müsste ich als einen ziemlich selbstgerechten Zugang zur Friedensverantwortung ansehen, der genau deswegen dazu geeignet sein könnte, den Frieden zu verhindern.

Das zweite: In der Tat ist die Sintflutgeschichte eine rätselhafte Geschichte, weil sie nicht nur von der Gewalt des Menschen handelt, sondern auch von göttlicher Gewalt. Der Gedanke, es sei wirklich Gottes Absicht, seine ganze Schöpfung mit wenigen Ausnahmen zu vernichten, weil der Mensch sich in seiner Gewalt gegen Gott auflehnt, ist einer der rätselhaftesten Gedanken in der biblischen Botschaft insgesamt. Er macht es uns im übrigen sehr schwer, eine ungebrochene und durchgängige Linie zu zeichnen, nach welcher das Bekenntnis zu Gott es immer nur mit dem Gott zu tun hat, der den Menschen freundlich ist, der den Frieden will, der sich in großer Distanz zur Gewalt befindet. Es ist vielmehr eines der großen Rätsel für den Glauben, dass die Gewaltneigung, mit der wir uns als Menschen auseinandersetzen müssen – und  nun mag man das mit einer Feuerbachschen Projektionsthese verknüpfen oder nicht – in den Gottesbegriff selbst hineingelegt wird. In der Sintflutgeschichte äußert sie sich sogar in der Form einer kosmischen Gewalt. Aber in den Traditionen des heiligen Krieges, die uns im Alten Testament sehr kräftig entgegentreten, äußert sich diese göttliche Gewalt aber auch in Gestalt einer Legitimation der kriegerischen Gewalt.

Deswegen ist die prophetische Vision einer Welt ohne Gewalt nicht das erste, was uns in der Geschichte des biblischen Glaubens entgegentritt. Diese Vision gewinnnt ihre Überzeugungskraft vielmehr gerade dadurch, dass sie nicht das erste ist, sondern dass sie anderen, gewaltsamen Erfahrungen abgerungen  werden muss. Aber gerade weil das so ist, verpflichtet es darauf, dass jedenfalls die Glaubenden, diejenigen, die von dieser Botschaft herkommen, trotz der Gewalterfahrung am Ziel der Gewaltfreiheit festhalten. Ihre Aufgabe liegt darfin, dass sie nach der Welt ohne Gewalt Ausschau halten und sich für sie einsetzen, ohne falsche Kompromisse einzugehen.

Schließlich das dritte: Wie ist das nun mit der Toleranz und dem aktiven Respekt vor dem religiösen Selbstverständnis der anderen? Nehme ich in diesem Respekt die besondere Geschichte Gottes mit dem Volk Israel, diese besondere Geschichte des Auszugs aus Ägypten, der Wiederheimführung aus dem babylonischen Exil, ernst? Nehme ich als Christ ernst, dass wir als Christen aus den Heiden in diese Geschichte gar nicht hineingekommen wären, wenn es diese Erwählungsgeschichte Gottes mit einem besonderen Volk, dem Volk Israel, nicht gäbe? Gewiss weiß ich, dass es wie bei allem, so auch hier die Möglichkeit des Missbrauchs und der Missdeutung gibt. Doch jenseits des Missbrauchs und der Missdeutung ist es für Christen unumgänglich anzuerkennen, dass es die Bundesgeschichte Gottes mit diesem einen Volk gibt.  Es handelt sich um einen Bund, der von Gottes Seite nicht gekündigt ist Als Christen haben wir darüber hinaus auch die Pflicht, Folgerungen aus dem zu ziehen, was geschah, als wir behaupteten, dies sei ein aufgekündigter und aufgelöster, durch die Schuld der Juden selbst zerstörter Bund. Dies alles verpflichtet uns in meinen Augen, die Bundesgeschichte Gottes mit seinem Volk sehr ernst zu nehmen. Dies geschieht nicht in der Meinung, dass damit andere Menschen und andere Völker aus der Möglichkeit eines Bundesverhältnisses mit Gott ausgeschlossen wären. Die kritische Auseinandersetzung mit denen, die den Bund zwischen Gott und Israel als ein exklusives Bundesverhältnis deuten, ist unausweichlich. Aber ein besonderes Bundesverhältnis müssen wir gerade als Christen im Verhältnis zwischen Gott und dem Volk Israel sehen. Denn Jesus war Jude.