Das Abendmahl

Eine Orientierungshilfe zu Verständnis und Praxis des Abendmahls in der evangelischen Kirche

1. Der biblische Befund

Der biblische Befund zum Abendmahl zeigt sowohl eine breite Übereinstimmung in den Kernaussagen als auch individuelle Akzente einzelner Autoren und Gemeinden: Nach den biblischen Zeugnissen vergegenwärtigen die Abendmahlsfeiern den gekreuzigten Christus und die durch ihn für alle Menschen eröffnete neue und ewige Gemeinschaft mit Gott. Die Vergebung der Sünden ist Grund und Ausdruck dieser neuen Gemeinschaft. Sie kann wie bei Matthäus explizit gemacht oder eher angedeutet werden. Ungeachtet aller theologischen Akzentunterschiede und liturgischen Differenzen sind sich die neutestamentlichen Berichte auch darin einig, daß im Abendmahl diese neue Gemeinschaft durch das Essen und Trinken erfahrbar wird, weil es der lebendige Christus selbst ist, der sich in dieser Mahlzeit denen schenkt, die Gäste an seinem Tisch sind.

Verständnis und Praxis des Abendmahls in evangelischen Kirchen und Gemeinden orientieren sich zuerst an den neutestamentlichen Berichten über das letzte Mahl Jesu (Mk 14,12-25 bzw. Mt 26,17-30 sowie Lk 22,7-23 und 1. Kor 11,23-25) und den übrigen besonders einschlägigen Passagen (vor allem 1. Kor 10,16-22 und Joh 6,22-59). Bereits diese biblischen Texte sind einerseits durch grundlegende Gemeinsamkeiten verbunden und repräsentieren andererseits eine gewisse Vielfalt von Deutungen des Abendmahls. So vermögen sie noch heute in einer vielfach ausdifferenzierten Situation über Verständnis und Praxis des Abendmahls ebenso deutlich zu orientieren, wie sie in der Vergangenheit – beispielsweise bei den innerevangelischen Lehrgesprächen des zwanzigsten Jahrhunderts (dazu s.u. S. 24-30) – orientiert haben.

1.1 Paulus

Der älteste unter den Abendmahlstexten ist der Abschnitt im ersten Korintherbrief, der wiederum eine ältere Tradition zitiert (1Kor 11,23: »Denn ich habe von dem Herrn empfangen, was ich euch weitergegeben habe«). Paulus reagiert mit dieser Passage auf konkrete Probleme in der korinthischen Gemeinde; er verlangt, daß das Mahl, das Jesus Christus als den auferstandenen Gekreuzigten vergegenwärtigt und seinen Tod verkündigt, gemeinsam gefeiert wird und einer bestimmten Ordnung folgt. Zugleich macht er aber auch deutlich, daß das Abendmahl ganz selbstverständlich zum gottesdienstlichen Leben der christlichen Gemeinde gehörte und bereits eine Reihe von unterschiedlichen Interpretationen ein und desselben Geschehens existierte. Paulus verbindet im ersten Korintherbrief verschiedene Deutungstraditionen des Abendmahls: An einer Stelle formuliert er, daß der gesegnete Kelch und das gebrochene Brot Teilhabe an Leib und Blut Jesu Christi vermitteln (1 Kor 10,16); an einer anderen Stelle deutet er das Abendmahl von seiner Bibel, dem Alten Testament der Kirche, her und bringt es mit der wunderbaren Speisung des Volkes Israel in der Wüste durch das Manna (2. Mose 16,4-35) zusammen. Die Vorstellung von einer »Gemeinschaft durch Teilhabe« (griechisch: koinonia) impliziert, daß die Glaubenden real an der Person, der Macht und den Segenskräften Jesu Christi partizipieren, durch Essen und Trinken also auch eine »geistliche Speise« und ein »geistlicher Trank« vermittelt werden (1Kor 10,3/4). Wenn die »Tischgenossen des Gekreuzigten« Anteil an Christi Leib und Blut bekommen und wenn die Glaubenden im Mahl als ein Leib verbunden werden, dann darf diese besondere Form der Gemeinschaft nicht mutwillig durch Selbstfixierung und soziale Rücksichtslosigkeit im Umgang miteinander beschädigt werden. Vor diesem Hintergrund formuliert Paulus seine Warnung: »Wer nun unwürdig« – d.h. in einer Weise, die die neue Gemeinschaft durch liebloses Verhalten mißachtet – »von diesem Brot ißt oder aus diesem Kelch trinkt, macht sich schuldig am Leib und Blut des Herrn« (1Kor 11,27).

Für Paulus und die ihm vorliegende Tradition steht im Mittelpunkt des Mahls die Verkündigung des heilbringenden Todes Jesu und die reale Gemeinschaft mit dem lebendigen Herrn in Brot und Wein. Also wird im Abendmahl der Tod Jesu so verkündigt, daß die, die am Mahl teilnehmen, darin die große Befreiung und zugleich den Grund der Versöhnung mit Gott ebenso wie untereinander erfahren. In der Formulierung »Das tut zu meinem Gedächtnis« (1Kor 11,24/25) ist also nicht nur eine Erinnerung an ein vergangenes Geschehen gemeint, sondern eine unmittelbare Vergegenwärtigung der heilsamen Wirkungen des vergangenen Geschehens. Durch ein Essen und Trinken, das dieser neuen Gemeinschaft entspricht, wird zugleich der Tod Jesu als ein heilschaffender Tod verkündigt. Dieser Tod wird im Abendmahl offenbar gemacht, »bis er« – Jesus Christus selbst – »kommt« (1Kor 11,26). Mit dieser Formulierung ist bei Paulus die neutestamentliche Hoffnung präsent, daß das Reich Gottes im Kommen ist und auf diese Weise die endgültige Gestalt der guten Herrschaft Jesu Christi einmal Wirklichkeit werden wird: »Dein Reich komme!« (Mt 6,10/ Lk 11,2). Das Abendmahl ist Wegzehrung für die Zwischenzeit bis zum endgültigen Kommen des Reiches Gottes, ist Vorschein des großen Abendmahls im Reich Gottes.

Die Betonung der durch den Tod Jesu eröffneten Gemeinschaft wird durch die paulinische Fassung der Einsetzungsworte verstärkt: Der Kelch ist der neue Bund zwischen Gott und den Menschen, der Leib Jesu Christi wird »für euch«, d.h. zur Versöhnung aller Menschen gegeben, die gebeten sind: »Laßt euch versöhnen mit Gott« (2Kor 5,20). Die ersten christlichen Gemeinden wußten, daß die Rede vom »neuen Bund« auf eine Passage im Propheten Jeremia anspielte, in der davon die Rede ist, daß Gott »mit dem Hause Israel und dem Hause Juda einen neuen Bund« schließen und so für alle Ewigkeit erneuern wird, was durch menschliche Schuld an Gemeinschaft mit Gott und untereinander zerstört worden ist (Jer 31,31-34).

Ob diese spezifische Form der Einsetzungsworte die älteste Fassung ist, bleibt zwar in der exegetischen Wissenschaft umstritten, ist aber angesichts der relativen Ähnlichkeit der bereits für den liturgischen Gebrauch bearbeiteten Formulierungen auch nicht von entscheidender Bedeutung. Auf die Frage, wie sich diese bereits erkennbar liturgisch bearbeitete Fassung der Einsetzungsworte zum letzten Mahl Jesu verhält, wird noch eigens eingegangen (s.u. S. 19f.).

1.2 Matthäus, Markus und Lukas

In den drei synoptischen Evangelien nach Matthäus, Markus und Lukas sind die Abendmahlsberichte im Unterschied zu Paulus Bestandteile der Erzählungen über Leiden und Sterben Jesu Christi. Geschildert wird ein besonderes Passa- bzw. Pesach-Mahl, das Jesus am Vorabend seiner Hinrichtung mit seinen Jüngern gefeiert hat. Diese Überlieferung ist an sich nicht unwahrscheinlich, weil die Evangelien auch an anderen Stellen berichten, daß der historische Jesus die großen jüdischen Wallfahrtsfeste gefeiert hat. Allerdings weicht das berichtete Mahl sehr deutlich von der damals üblichen Liturgie eines jüdischen Passa-Mahls ab, entscheidende Elemente wie beispielsweise das gemeinsame Essen eines Passa-Lammes fehlen bzw. werden nur bei Lukas berichtet. Außerdem haben die ersten Gemeinden, für die die drei Evangelisten schreiben, das Abendmahl nicht wie das Passa-Mahl einmal jährlich gefeiert, sondern einmal wöchentlich. Schließlich wurde Jesus nach der Chronologie des Johannes-Evangeliums, die heute von den meisten Forschern bevorzugt wird, am Tag vor Passa bzw. Pesach hingerichtet.

Die Evangelisten Matthäus, Markus und Lukas setzen eigene theologische Akzente. So wird bei allen dreien vor dem eigentlichen Kernstück des Mahls, den Einsetzungsworten, berichtet, wie Jesus beim Essen den Verräter identifiziert (Mt 26,20-25; Mk 14,17-21; vgl. Lk 22,14.21-23 und Joh 13,21-30); die Nacht des letzten Mahls ist zugleich auch die Nacht des Verrates. Manche Akzentunterschiede gegenüber den Texten des Paulus lassen sich literarisch erklären: Da die Passagen im Zusammenhang eines Berichtes über die letzten Stunden des Lebens Jesu stehen, findet sich bei den Evangelisten Matthäus und Markus im Unterschied zu Paulus (und Lukas) kein Hinweis auf die Wiederholung des Mahls und das Gedächtnis Jesu. Stattdessen steht bei Matthäus und Markus im Anschluß an die Einsetzungsworte (bei Lukas zwischen ihnen) der Hinweis Jesu, daß er nicht mehr von dem Gewächs des Weinstocks trinken werde bis zu dem Tag, an dem er es neu trinken werde im Reich Gottes (Mt 26,29/Mk 14,25; vgl. Lk 22,18). Auf diese Weise ist – wenngleich in anderer Form als bei Paulus – auch bei den drei Evangelisten der Ausblick auf das Reich Gottes präsent; er dürfte also auf den historischen Jesus zurückgehen.

Auch die Einsetzungsworte ähneln sich trotz aller Unterschiede in allen vier Fassungen: Zwar sprechen Matthäus und Markus von Leib und Blut und nicht, wie Paulus und Lukas, von Leib und Kelch, aber in allen Fällen ist der neue Bund gemeint bzw. das neue Testament, wie Luther übersetzt hat und vielfach in den Gemeinden zitiert wird. Auch bei Matthäus, Markus und Lukas wird also die neue Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch, die der Tod Jesu am Kreuz eröffnet hat, in das Zentrum der Deutung der beiden Elemente Brot und Wein gestellt. Sie steht (außer bei Lukas) ausdrücklich »für viele« offen; damit sind in der hebräischen Sprache »alle« gemeint. Neben den erwähnten Aspekt der Gemeinschaft tritt der Aspekt der Sündenvergebung, der traditionell zum Passa-Fest gehört. Vor allem Matthäus betont, daß der Tod Jesu die Kraft hat, Sünden zu vergeben, und daß diese Vergebung die neue Gemeinschaft ermöglicht: »Das ist mein Blut des (neuen) Bundes, das vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden« (Mt 26,27). Diese Ausrichtung auf die Sündenvergebung ist in den anderen Fassungen zwar nicht explizit gemacht, aber wohl vorausgesetzt. Auch beim Propheten Jeremia gehört zur Verheißung des neuen Bundes, daß Gott die Verfehlungen vergeben und der Sünden nicht mehr gedenken will (Jer 31,34). Matthäus legt mit seiner Formulierung also aus, was die anderen implizieren. Im Lukasevangelium finden sich weitere Bezüge auf das Passa-Fest und dessen Liturgie, wenn beispielsweise vor und nach dem Brotwort ein Kelch mit Wein gesegnet wird (Lk 22,17 und 22,20).

1.3 Jesus von Nazareth und die ersten Christen

Auch wenn es vermutlich die nachösterliche Gemeinde in Jerusalem war, die eine regelmäßige, wöchentliche Gedächtnisfeier an das letzte Abendmahl Jesu ins Leben rief, fällt doch auf, wie schnell diese Feier sich in theologisch sehr unterschiedlich geprägten Gemeinden ausbreitete. Man feierte in den Häusern, und vermutlich sprachen wie im Judentum zunächst die Gastgebenden die wichtigsten Teile der neuen Liturgie. Ob in jedem Falle von Anfang an stets die Einsetzungsworte dazugehörten, ist umstritten; bis heute verwenden Gemeinden der ursprünglich im Irak und Iran beheimateten assyrischen Kirche in ihrer Liturgie ein Hochgebet, das kein wörtliches Zitat des Einsetzungsberichtes enthält (Hochgebet der Apostel Addai und Mari). Freilich hat sich die Praxis, die Einsetzungsworte zu rezitieren und so in das Zentrum der Liturgie zu stellen, schon im zweiten Jahrhundert in den allermeisten Gemeinden verbreitet. Die Teilnahme am Abendmahl war offensichtlich schon für die ersten christlichen Gemeinden an die Taufe gebunden, wie die erste erhaltene Kirchenordnung aus dem späten ersten oder frühen zweiten Jahrhundert, die Didache, auch explizit sagt (Kapitel 9,5). Paulus kritisiert im ersten Korintherbrief Menschen, die sich noch nicht endgültig vom heidnischen Kult abgewendet haben und gleichzeitig »den Kelch des Herrn trinken und den Kelch der bösen Geister«. Solchen unentschiedenen Christen wirft er vor, Gott herauszufordern, und warnt sie eindringlich (1 Kor 10,21/22).

Da unvergorener Traubensaft in der Antike nur während der Beerenreife zur Verfügung stand und alkoholische Gärung das einzige damals bekannte Mittel war, Fruchtsäfte zu konservieren, hat man wahrscheinlich bei der Feier des Abendmahls von Anfang an normalerweise Wein verwendet, der nach damaliger Praxis mit Wasser verdünnt war. Gelegentliche Versuche einzelner Gruppen, aus asketischen Gründen andere Flüssigkeiten wie beispielsweise reines Wasser zu verwenden, trafen in der Antike auf Widerspruch und wurden nicht allgemein akzeptiert. Allerdings verwendete man schon damals in Missionsgemeinden des asiatischen Raumes, in denen der Wein unbekannt war, Wasser oder Tee als Ersatzstoff (vgl. VELKD-Texte 8/1979, 6f.).

Von Anfang an war das Abendmahl eine der stärksten Klammern, die die verschiedenen Gemeinden mit ihrem lebendigen Herrn Jesus Christus und zugleich miteinander verband. Seine Präsenz erfuhr und bekannte man im Abendmahl. Diese erstaunlich schnelle Verbreitung einer gottesdienstlichen Feier, die trotz aller theologischen Akzentunterschiede und liturgischen Differenzen einen gemeinsamen Kernbestand umfaßte, wird man kaum anders erklären können als dadurch, daß man mit dieser regelmäßigen Feier Intentionen des historischen Jesus folgte. Anders formuliert: Es ist zwar in der Forschung umstritten, welche Elemente der gottesdienstlichen Feier der ersten Christen, wie sie Paulus berichtet und die Evangelien widerspiegeln, im Einzelnen auf Jesus selbst zurückgehen. Aber man kann trotzdem sagen, daß die Feier eines gemeinschaftlichen Mahles, das die heilbringenden Wirkungen des Todes Jesu vergegenwärtigt, ihren Ursprung in seinem letzten Essen kurz vor seiner Verhaftung hat. In diesem Mahl wurde zugleich die besondere Bedeutung aufgenommen, die das gemeinsame Essen schon während des irdischen Lebens Jesu gehabt hatte: Er hatte den Anbruch der Gottesherrschaft mehrfach durch das aussagekräftige Zeichen eines Festmahles »für die vielen« zum Ereignis werden lassen; seine Mahlgemeinschaften integrierten auch ausgegrenzte Gruppen der damaligen Gesellschaft und dokumentierten, daß gerade diese Gruppen Adressaten der Botschaft Jesu waren. Auch wenn das exakte Verhältnis zwischen diesen zeichenhaften Festmählern Jesu, seinem Abschiedsmahl und dem Abendmahl der ersten Gemeinden bis heute in der exegetischen Wissenschaft unterschiedlich bestimmt wird, machen die neutestamentlichen Geschichten wie die von den Brotvermehrungen (Mk 6,30-44 bzw. 8,1-10 und Parallelen) deutlich, daß die Mahlgemeinschaft mit Jesus als eine besondere Form heilbringender Gemeinschaft empfunden wurde. In Gleichnissen hatte er zudem die neue Gemeinschaft des Gottesreiches durch das Bild eines gemeinsamen Essens und Trinkens anschaulich gemacht. So waren zu den vorösterlichen Festmählern ohne Unterschied alle eingeladen, während das Abschiedsmahl im Kreis der Seinen gefeiert wird und zum Abendmahl nur die Getauften zugelassen sind (vgl. unten, 3.10).

Im Johannesevangelium, das einen von den übrigen Evangelien abweichenden Bericht über das Abschiedsmahl Jesu enthält (nämlich die Geschichte von der Fußwaschung: Joh 13,1-20), werden nach der Erzählung über die Brotvermehrung (Joh 6,1-13) Jesu Worte über das Brot des Lebens (Joh 6,22-50) und über sein Fleisch und sein Blut mitgeteilt (Joh 6,51-58). Auch hier wird wie in allen anderen Überlieferungen die besondere Gemeinschaft betont, die durch das Essen und Trinken im Auftrag und in der Gegenwart Jesu Christi entsteht. So wie der bei Jeremia verheißene und in den Einsetzungsworten erwähnte neue Bund ewig bestehen wird, vermitteln die Elemente des Abendmahls nach Johannes das ewige Leben (Joh 6,54): »Wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich in ihm« (Joh 6,56). Das Johannesevangelium löst also das Abendmahl aus dem unmittelbaren historischen Kontext der letzten Lebenstage Jesu; in ihm ist die heilschaffende und gemeinschaftsbildende Wirkung besonders eng mit den Elementen verbunden.

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