Stellungnahme des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD zum Konsultationspapier des Beratergremiums für europäische Politik

Soziale Wirklichkeit in Europa

„Stärkung der Resilienz Europas“

Stellungnahme des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD zum Konsultationspapier des Beratergremiums für europäische Politik:

Soziale Wirklichkeit in Europa

von Roger Liddle und Fréderic Lerais

 

 

I.

Es ist ausgesprochen begrüßenswert, dass mit dem Papier „Soziale Wirklichkeit in Europa“ von Roger Liddle und Fréderic Lerais zum ersten Mal der Versuch gemacht wird, eine umfassende Bestandsaufnahme der sozialen und kulturellen Situation in Europa unter dem Blickwinkel des Wohlergehens seiner Bürger vorzulegen. Das Papier „denkt“ auf diese Weise Europa als einen politisch zu gestaltenden und im Blick auf Handlungsziele zu evaluierenden Raum zusammen, was ebenfalls sehr zu begrüßen ist. Mit diesem Ziel reiht sich das Papier in vielfältige Versuche ein, valide Bestandsaufnahmen der Lebenswirklichkeit  bzw. Lebensqualität in Europa zu erstellen. In der Regel erfolgt dies so, dass eine Reihe von Indikatoren für diese Größe definiert und dann entsprechende Listen erstellt werden.

 

Es ist zudem ebenfalls sehr zu begrüßen, dass dieses Papier eindeutig die Situation der Menschen Europas in den Vordergrund rückt und nicht nur auf die Stärkung seiner Wirtschaftskraft oder anderer – eigentlich diesem Ziel dienender – Faktoren abhebt. Zudem macht das Papier auch deutlich, dass längst nicht alles – und wahrscheinlich viel weniger, als man oft denkt – von der Globalisierung abhängig ist. Es bleiben große Gestaltungsräume europäischer Politik und sie sollten auch entschlossen angegangen werden. Vor allem muss es darum gehen, die Lebenschancen in Europa immer deutlicher aneinander anzugleichen. Gerade zur Erreichung dieses Ziels ist die Diskussion um Papiere wie dieses sehr hilfreich. Wenn im Folgenden auch Kritik angemeldet wird, so bezieht sie sich jedenfalls nicht auf diese Qualitäten und Ziele des Papiers – wie es ohnehin was die sozialen Ziele anbetrifft – entschlossene Bekämpfung von Armut und Exklusion, Verringerung von Ungleichheiten – keinen Dissens gibt.

 

Das Besondere dieses Papiers besteht nun darin, dass es sich nicht auf die Auflistung bestimmte Faktoren beschränkt, sondern auch zu Querbetrachtungen und vor allem zu begründeten Bewertungen vordringt und auf diese Weise einen entscheidenden Schritt zu einer sozialwissenschaftlichen Politikberatung macht. Auf der Grundlage dieses und ähnlicher Papiere ist die Entwicklung von kohärenten Politikansätzen zwischen verschiedenen politischen Bereichen, wie insbesondere der Sozial- und Wirtschafts-, aber auch der Bildungs- und Kulturpolitik, in Europa durchaus denkbar. Ja, im Grunde genommen kann nur auf diese Weise den nationalen Egoismen in Europa entgegengewirkt werden und der immer wieder zu erneuernde Versuch gemacht werden, Zielsetzungen für Gesamteuropa, ja, eine Vision für die Menschen in Europa, die nicht nur in den Himmel gemalt, sondern auf Erden begründet ist, zu schaffen.

 

 

II.

Für die Ausarbeitung einer solchen Gesamtschau auf die Lebenssituation der Menschen in ganz Europa ist entscheidend, wie die einzelnen Aspekte angeordnet werden und welchen leitenden Wertorientierungskriterien und Fragestellungen die Gesamtaufstellung folgt. Es hat deswegen wenig Sinn, sich über einzelne Statistiken oder Details zu streiten – in dieser Hinsicht gibt es aus unserer Sicht tatsächlich auch nicht viel Korrekturbedarf. Es muss um das Gesamtbild gehen. Je nachdem, wie diese Kriterien im Einzelnen ausgewählt und bestimmt werden, fällt die Beschreibung anders aus – dies kann im Einzelnen in der Deutung von Daten bis zu völlig gegensätzlichen Auffassungen führen, z.B. je nachdem, was man z.B. unter sozialer Gerechtigkeit versteht.

 

Im Hintergrund von entsprechenden leitenden Anordnungsentscheidungen für eine solche Übersicht verbergen sich so auch Ziele für die Gestaltung Europas in politischer, kultureller, sozialer oder ökonomischer Hinsicht. Sie können explizit ausgedrückt werden, aber auf jeden Fall sind sie implizit in einer solchen Beschreibung immer vorhanden, sei dies nun in einer Defizit- (= diese oder jene Situation beeinträchtigt eine menschenwürdige Lebensqualität und muss abgestellt werden) oder einer Differenzorientierung (= diese oder jene Situation sollte gegenüber anderen bevorzugt werden). Letztlich kommen auch Bezüge auf Grundüberzeugungen – „Menschenbilder“ – zum Ausdruck.

 

Will man das vorliegende Papier folglich angemessen würdigen und kritisch diskutieren, dann müssen an erster Stelle seine leitenden Entscheidungen bewertet werden. So zeigt sich schon in einer ersten Durchsicht, dass kirchliche bzw. christliche Stellungnahmen durchaus zu z. T. grundlegend anderen Akzentuierungen in der Sichtweise auf Europa kommen können, weil sie anderen Wertorientierungen als denen der Verfasser folgen. Das berührt im Einzelnen nicht unbedingt bestimmte Daten und Tatbestände des Papiers, die z. T. in einer hervorragenden Objektivität aufgelistet werden. Es berührt aber schon den Gesamtblick und damit die Frage, welche Ziele für eine kohärente europäische Politik in Zukunft entwickelt werden sollen.

 

III.

Was sind nun die leitenden Wertentscheidungen, Maximen und Kriterien von Roger Liddle und Fréderic Lerais? Das Papier macht die Erfassung dieser Orientierungen sehr einfach, indem es die entscheidende Frage gleich als ersten Satz auf S. 5 stellt: „Wie kann das soziale Wohlergehen aller Bürger Europas in einer globalisierten Welt am besten gesteigert werden?“ Damit ist das Kriterium der Steigerung des sozialen Wohlergehens der Bürger Europas als Hauptgewichtungspunkt aller vorliegenden Daten benannt. Damit ist zugleich auch eine Vision und eine Zielsetzung für eine gesamteuropäische Politik benannt. Im Näheren wird dann das soziale Wohlergehen anhand einer ganzen Reihe von Unterpunkten näher definiert. Auf jeden Fall zählt  dazu die Entfaltung der persönlichen Potenziale der Menschen in Europa (S. 7). Damit einher geht die Realisierung des großen Bedürfnisses nach erfüllter Arbeit (S. 12). Es geht um Persönlichkeitsentwicklung und Eigenständigkeit (S. 20). Die Entwicklung neuer Bedürfnisse in einer zunehmend postmaterialistischen Gesellschaft  wird positiv gesehen (S. 15). Ja, es geht letztendlich sogar darum, die Glückserfahrung der Menschen in Europa zu steigern (S. 21 ff). Die Studie rezipiert an dieser Stelle eine Reihe von Ergebnissen der immer populärer werdenden Glücksforschung. Hierzu wird festgehalten: „Eine bessere Sozialordnung kann durch aus dazu führen, dass die Menschen glücklicher oder zufriedener sind als es ihnen vielleicht selbst bewusst ist.“ (S. 21) (Im Folgenden wird eine interessante Bemerkung von Amartya Senn zitiert, demgemäß Sklaven durchaus glücklich gewesen sein können, weil sie sich ein Leben in Freiheit nicht hätten vorstellen können. Dieses Argument, das die Glücksforschung insgesamt in Frage stellt, wird jedoch schnell beiseite gewischt.)

 

Ziel des Papiers ist es – so hat es den Anschein – herauszustellen, dass die Erreichung dieser Ziele der Steigerung des sozialen Wohlergehens bzw. sogar eine Steigerung des Glücksempfindens in Europa durchaus möglich ist, auch wenn dies zurzeit durch vielfältige Bedingungen der Ungleichheit bzw. der Armutsentwicklung konterkariert wird. Soziales Wohlergehen ist demnach ungleichmäßig verteilt – daran lässt das Papier keinen Zweifel – und das Ziel der Politik muss darin bestehen, in Zukunft in dieser Hinsicht eine größere Gleichverteilung zu erreichen. An dieser Stelle werden folglich Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit deutlich. Dabei ginge es allerdings ausdrücklich nicht um Ergebnisgleichheit, sondern um die Herstellung einer wirklichen Chancengleichheit, die allen Zugänge zu den Möglichkeiten sozialen Wohlergehens bzw. von Glückserfahrungen eröffnet. Diese insgesamt positive Sicht, mit der der Text auf S. 48 abschließt, resultiert vor allen Dingen daraus, dass in Europa mehr Menschen glücklich und mit dem eigenen Leben zufrieden sind als in anderen Teilen der Welt: „Die Europäer können sich auf eine Welt voller neuer Chancen freuen.“ (S. 48) Mehr Glück für alle – so könnte man – zugegeben: etwas flach und vielleicht auch überspitzt - die Vision dieses Papiers zusammenfassen.

 

Bereits hier lässt sich nun anmerken, dass es natürlich andere Leitwerte für die Beurteilung und die politische Gestaltung Europas geben kann. Erinnert sei z.B. an die Definition des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, die den Schutz der Würde des Menschen als oberstes Ziel allen staatlichen Handelns definiert – und dies nach den Erfahrungen des Faschismus so stark verankert, dass es selbst durch Mehrheitsbeschlüsse des Bundestages als Staatsziel nicht abzuschaffen ist. Würde als Leitkriterium ist jedoch schon auf den ersten Blick etwas anderes als Glück und Wohlbefinden. Allerdings gebe es an dieser Stelle natürlich nun noch viel im einzelnen zu diskutieren.

 

IV.

Wenn auf diese Weise die Steigerung sozialen Wohlbefindens und das Bestreben zu einem längeren und noch glücklicheren Leben (S. 23) zu kommen das Hauptkriterium des Textes ist, so kommen in ihm gleichwohl auch eine ganze Reihe von retardierenden Faktoren zum Tragen, die aus eben diesem Streben nach mehr Wohlergehen und mehr Glück selbst heraus folgen. Im Bennennen dieser Faktoren liegt eine deutliche Stärke des Papiers, die es deutlich von platten Glücksverheißungen abhebt. Es argumentiert folglich nicht einfach einlinig in Richtung Steigerung – auch wenn dies die hauptsächliche Argumentationslinie ist – es benennt auch inhärente Widersprüche einer zu einlinig und zu direkt auf reine Steigerungswerte zielenden Befriedigungs - Strategie.

 

Zu solchen inhärenten Widersprüchen einer reinen Maximierung von individuellem Glück und Wohlergehen zählt vor allen Dingen die in der Glücksforschung mehrfach diskutierte Tatsache der so genannten „hedonistischen Tretmühle“ (S. 16). Sie wird in dem Papier in der Rubrik „Der Bürger als Konsument“ diskutiert. In der Glücksforschung bezieht sie sich allerdings auf alle möglichen Formen des Anstrebens einer dauernden Glücks- und Wohlergehenssteigerung – nicht nur auf den Konsum -, die auf ihrer Kehrseite eine Art Suchtbestreben auslöst, das eine stabile und nachhaltige Befriedigung grundsätzlich unterminiert. Das Papier erwähnt zu Recht die Einsicht, dass Allgemein unterschätzt wird, wie schnell man sich an neue Gegenstände und bestimmte Tableaus von Befriedigung gewöhnen kann. Die Folge ist dann, dass sehr viel Zeit darauf verwendet wird, noch eine höhere Form von Befriedigung zu erreichen, und diese Spirale dann insgesamt zu keiner wirklichen Glückssteigerung, sondern im Gegenteil zur permanenten Unzufriedenheit führt.

 

Erwähnt wird zudem ein weiterer Faktor in der Studie, der ebenfalls eine inhärente Widersprüchlichkeit der steigenden Wohlbefindens- und Glückserwartungen bezeichnet, nämlich das Sinken der Geburtenraten seit den 60er-Jahren in fast ganz Europa. Kennzeichnend ist, dass dieses Sinken sehr viel drastischer ist, als es den Wünschen der betreffenden Frauen entspricht. An dieser Stelle lässt sich – diese Schlussfolgerung wird allerdings in dem vorliegenden Text nicht gezogen – durchaus eine Verbindung zwischen den gestiegenen Erwartungen an persönliche Selbstverwirklichung und der Entscheidung für Kinder bzw. der Nichtentscheidung für Kinder herstellen. Viele Forscher meinen, dass die kurz- und mittelfristigen „Mehrkosten“ an Glücksverzicht und Befriedungsaufschub im Falle von Kindern zu einer – mehr oder minder bewusst getroffenen – Entscheidung gegen sie führen. Das folgenreichste  Opfer der „hedonistischen Tretmühle“ wäre folglich – sieht es man es drastisch, aber nicht unrealistisch – der Verzicht darauf, das Leben an die nächste Generation weiter zu geben. Es wird dem Glück im Hier und Jetzt geopfert.

 

Insgesamt verdichten sich diese inhärenten Paradoxien der Steigerung von Wohlergehen und Glück im Trend zur Individualisierung, von dem im Papier zutreffend gesagt wird, dass er eindeutig die persönliche Freiheit verbessert hat, man aber zugleich fragen kann, welche Werte dabei auf der Strecke geblieben sind. (S. 19) Hier werden dann die gestiegenen Scheidungsraten (Verdoppelung seit 1960) erwähnt, aber seltsamerweise gleichzeitig auch als Indikator für Beziehungsstabilität wiederum relativiert: Sie würden nicht auf eine Abkehr von der Ehe hindeuten, sondern vielmehr auf gestiegene Ansprüche an die Zufriedenheit in der Ehe. (S. 19) Genau dies jedoch bezeichnet die Paradoxie des gestiegenen Wohlergehens: Da die Ansprüche an persönliches Glück immer weiter bis geradezu ins Unermessliche steigen, können selbst zwischenmenschliche Beziehungen, die für die Glückserfahrung nach allgemeiner Erkenntnis unabdingbar sind, dem nicht mehr standhalten. Was tragen aber hohe Erwartungen an einen Partner, den man eben ihretwegen nicht findet, für das Glücksgefühl aus? An dieser Stelle greift das Papier zu kurz und wird seiner sonst erreichten Komplexität nicht gerecht.

 

An dritter Stelle ist es sodann eine offene Frage, ob nicht auch der Trend zu mehr Ungleichheit, der in dem Papier zu Recht festgestellt – und kritisiert wird, eine notwendige Folge einer schlichten Orientierung an immer mehr Wohlbefinden und Glück ist. Dieser Trend wird nämlich nicht zuletzt aufgrund größerer persönlicher Unsicherheit und dem Verlust des Selbstwertgefühls, der mit einer Niederlage beim Kampf um Positionen einhergeht, erklärt. Er sei, wie richtig festgestellt wird, mit erheblichem sozialem Stress verbunden. (S. 36) Woher aber resultiert dieser Kampf, wenn nicht aus dem Bestreben, immer mehr Glück und Wohlbefinden für sich selbst zu akkumulieren – und, da die entsprechenden Ressourcen knapp zu sein scheinen, gegen andere durchzusetzen. Allerdings weist das Papier auch darauf hin, dass es vieler plausible Vermutungen in die Richtung einer eigentlich großen Verträglichkeit von Glücksempfinden mit mehr Gleichheit unter den Menschen gibt. Hier sind dringend nähere Forschungen nötig, welches Ausmaß an Gleichheit bzw. an Ungleichheit mit der Steigerung von Wohlbefinden einhergehen kann.

 

Im weiteren Verlauf des Papiers werden sodann eine Reihe von Feldern und Faktoren untersucht und im Einzelnen sehr sorgfältig und zutreffend beschrieben, die auf die Steigerung des Wohlbefindens Einfluss haben. Dazu zählen insbesondere Beschäftigungschancen, die Arbeitssituation, der Zugang zu Bildungschancen, zu sozialer Mobilität, die Frage der alternden Gesellschaft von Familienleben, Armut, Ungleichheit, Gesundheit, Kriminalität, Immigration. Ohne Frage ist mit dieser Auflistung eine sehr gute Übersicht über die wichtigsten Felder der Lebensqualität in Europa gewährleistet.

 

V.

Wenn man darin übereinstimmen kann, dass bis hierhin die Intentionen des Papiers zutreffend beschrieben sind, so ist deutlich, dass das Kriterium für die Bewertung der Lebenswirklichkeit in Europa die Steigerung des Wohlbefindens bzw. des Glücksgefühls der Bürger ist. Von daher kann nun die Frage gestellt werden, ob dies ein allgemein konsensfähiges Beurteilungsprinzip sein kann oder ob es möglicherweise alternative Beurteilungskriterien gibt. Die inhärente Problematik und Widersprüchlichkeit, die mit der Orientierung an der Steigerung von Wohlbefinden und Glück als solcher verbunden ist, wurde ja an einigen Stellen des Papiers bereits deutlich. Sie lässt bereits Zweifel daran, ob eine solche Orientierung überhaupt die Ausarbeitung einer nachhaltigen Vision für Europa zulässt, plausibel erscheinen.

 

Sie wird noch deutlicher, wenn man sich der Glücksforschung als solcher zuwendet. Es ist eine der entscheidenden Entdeckungen der Glücksforschung und sozusagen auch ihr Ausgangspunkt, dass Menschen in reichen Nationen, wenn sie reicher werden, nicht unbedingt glücklicher werden. Es tritt eine Gewöhnung ein an das, was man erreicht hat; von daher kommt es zu einem neuen Ansteigen von Defiziterfahrungen und entsprechenden Wünschen und damit zu Antriebsmechanismen, das Wohlbefinden und das Glück noch weiter zu steigern, was aber nicht zu einem wirklich nachhaltigen Zufriedenheitsniveau führt. Insofern kann man feststellen: „Obwohl in den letzten fünfzig Jahren die westlichen Länder ein in der Geschichte einzigartiges Wirtschaftswachstum zu verzeichnen hatten, zeigen diese Befragungen, dass über diese Zeit keine Zunahme der Lebenszufriedenheit (des Glücksempfindens) zu verzeichnen war.“ (Rückriegel, WiSt,  H 10, Okt. 2005, S. 516) In der Literatur spricht man hier auch vom so genannten Easterlin-Paradoxon. Es wird folgendermaßen erklärt: Sofern die materielle Existenz gesichert ist, ist weniger das absolute Einkommen, sondern vielmehr das relative Einkommen für den Einzelnen und sein Wohlbefinden entscheidend. Je mehr man hat, desto mehr braucht man. Entgegen vielen beliebten Selbstillusionen von Wohlhabenden muss man sagen: Desto mehr nehmen Kriterien des Habens Raum im eigenen Denken und Fühlen ein und desto weniger Bedeutung haben Kriterien des Seins.

 

Dabei ist aber auch in der Glücksforschung deutlich, dass die Beziehungen zu anderen Menschen von ganz entscheidender Bedeutung für das Glücksgefühl sind.  Diese lassen jedoch nur in begrenzter Weise maximieren. Eine entscheidende Steigerung des Wohlempfindens ginge in dieser Sichtweise weniger von der reinen Einkommensmaximierung, sondern von der Zufriedenheit mit den sozialen Kontakten, in denen man lebt, aus. Gerade diese sozialen Kontakte werden aber, wie die Untersuchungen von Liddle und Lerais zeigen, durchaus auch von immer gesteigerten Ansprüchen bedroht.

 

Der bekannte Glücksforscher Csikszentmihalyi (Flow – der Weg zum Glück, Freiburg 2006, S. 86 f) hat an dieser Stelle schon 2006 für eine Bremse plädiert und Folgendes angemerkt: „Wenn du zu sehr in Wettbewerbskategorien denkst, wirst du dich natürlich nur dann belohnt fühlen, wenn du als der Beste, Machtvollste, Reichste usw. abschneidest. Wenn du nichts gewinnst, wirst du dich als Verlierer fühlen. Im Allgemeinen ist es so, dass immer nur einer gewinnt. Die vielen anderen, die bei einer Lotterie mitgespielt haben, verlieren – es ist daher ganz und gar ineffizient, auf gesellschaftlicher Ebene so zu denken. Aber auch auf individueller Ebene ist es nicht fruchtbar: Auch als Persönlichkeit kannst du nicht immer erfolgreich sein. Warum aber sollte man sich dann elend fühlen? Wenn man lernt – egal was man tut –, in der Tätigkeit selbst die Belohnung zu entdecken, dann muss man nicht gewinnen, um sich gut zu fühlen.“

 

Dies würde bedeuten, dass persönliches soziales Wohlbefinden wenig mit ständiger Steigerung, sondern mit anderen Dimensionen der persönlichen Verfasstheit, der individuellen Einstellungen, der eigenen Mentalität in Bezug auf andere Menschen – und d.h. mit Verantwortung -  zu tun hätte. Diese Dimensionen kommen allerdings in dem vorliegenden Papier eigentlich nicht vor. Insofern erweckt es letztlich stark den Eindruck einer doch – z.T. gegen die eigenen Intentionen laufenden - rein materiell ausgerichteten Bewertung der Situation in Europa. Man kann fragen, ob damit nicht zu kurz gegriffen wird.

 

VII.

Die Problematisierung der Ausgangshypothesen dieser Stelle erlaubt nun auch den Übergang zu einer substantiell anderen Sicht der leitenden Kriterien für die Bewertung der Lebenswirklichkeit in Europa – und zwar in diesem Fall zu der Sicht, die sich von bestimmten Optionen des christlichen Glaubens bzw. der christlichen Kirche her nahe legt.. Es ist zunächst kennzeichnend, dass in dieser kulturell-religiösen Tradition – wie wohl letztlich in jeder ernsthaften religiösen Orientierung - das Erreichen eines möglichst hohen subjektiven Wohlbefindens bzw. Glücksgefühls als solches nicht an erster Stelle in der Bewertung von Lebenswirklichkeiten bzw. der eigenen Aspirationen der Glaubenden steht, da es der Vermutung unterliegt, dass die Menschen sich auf diese Weise zu sehr an Äußerlichkeiten und letztlich lediglich an vordergründige narzisstisch-egoistische Befriedigungsobjekte binden würden. Der Verdacht an dieser Stelle ist, dass auf diese Weise die soziale Verfasstheit des Menschen, sein notwendiger Bezug auf den Anderen, bzw. den Nächsten verloren gehen würden, denn sie resultiert zuerst und grundlegend aus einer sozusagen vorausliegenden Aufgabe, die sich in Liebe, aber in Liebe als Pflicht und Verantwortung umsetzt.

 

Die religiöse Grundorientierung und –bindung eines Menschen weist eine andere Struktur auf: Indem sich der religiöse Mensch auf ein drittes außerhalb seiner selbst – auf Gott oder das Transzendente – angewiesen weiß, kann er eine gewisse Distanz auch zur Befriedigung seiner eigenen Glücksbedürfnisse und auf diese Weise Freiheit zum Dienst und zum proaktiven Dasein für andere gewinnen. Genau dies ermöglicht eine verantwortliche sozialorientierte Einstellung, die Distanz auch zur Verfolgung eigener Interessen gewinnen kann. In dieser Matrix der eigenen Lebensbeziehungen ist eine individuelle Glückserfahrung selbstverständlich nicht ausgeschlossen: sie gibt es auch in diesem Beziehungsdreieck zwischen mir, dem anderen und Gott, aber sie kann in keiner Weise in einer Ansprüchlichkeit oder als eine Art von Besitz beansprucht werden, sondern bleibt eine unverfügbare Größe, die unter bestimmten Bedingungen emergiert und zur Freude, Gelöstheit, ja Exaltiertheit führen kann, aber von außen nicht ins Beliebige steigerbar ist. Diese Struktur bietet folglich die Möglichkeit der Zufriedenheit und des Wohlbefindens, ohne in die hedonistische Tretmühle geraten zu müssen. Sie hat eine Dynamik des Von-Sich-Selbst-Absehens und Für-Andere-Dasein Könnens. Das Ziel ist nicht eine Steigerung des individuellen Glückgefühls, sondern der verantwortlichen eigenen Haltung und der ethischen Reflexivität eigener Handlungsweisen. Die Ausgangsannahme wäre, dass jedem und jeder ein würdiges Leben in substantieller Freiheit – und d.h. in voller Teilhabe - gewährleistet sein müsste.

 

 

VIII.

Dieses Verständnis von Freiheit, Würde und Teilhabe als leitende Kriterien der Bewertung von gesellschaftlichen und individuellen Wirklichkeiten gründet in christlich religiöser Sicht darauf, dass Menschen Teilhabe an der Wirklichkeit Gottes haben. So heißt es in der Denkschrift des Rates der EKD zu Frage der Armut in Deutschland: „Gott gewährt den Menschen in der Kraft des heiligen Geistes Anteil an seiner Fülle: Unterschiedliche Begabungen befähigen Menschen, die ihnen in ihrer Lebenssituation gestellten Aufgaben zu erfüllen. Dieser Gedanke hat sich in unserer Rede von Begabung erhalten. Wird den Menschen Teilhabe an Gottes Kraft geschenkt, ohne dass sie selbst etwas dafür tun müssten, so ist es ihre Aufgabe, diese Begabung in ihrem Leben fruchtbar werden zu lassen – für sich selbst und für andere, also auch für das Gemeinwohl. In der Realisierung dieser aktiven Teilhabe an den gesellschaftlichen Aufgaben liegt ihre Verantwortung vor Gott und ihren Mitmenschen. Die von Gott gewährte Teilhabe an ihm selber bewährt sich so in der aktiven Weltgestaltung.“[1] Und weiter heißt es dann: „Eine gerechte Gesellschaft muss so gestaltet sein, dass möglichst viele Menschen tatsächlich in der Lage sind, ihre jeweiligen Begabungen sowohl zu erkennen, als auch sie auszubilden und schließlich produktiv für sich selbst und andere einsetzen zu können. Eine solche Gesellschaft investiert folglich, wo immer es geht, in die Entwicklung der Fähigkeiten der Menschen zur Gestaltung ihres eigenen Lebens sowie der gesamten Gesellschaft in ihren sozialen und wirtschaftlichen Dimensionen. Eine solche Gesellschaft ist so verfasst, dass sich die individuellen Begabungen (…) zur möglichst eigenverantwortlichen Sicherung des Lebensunterhalts und im Interesse aller solidarisch einsetzen lassen, d.h. mit Blick auf das gegenwärtige Wirtschaftssystem, dass ein größtmöglicher Teil der Bevölkerung über bezahlte Arbeit verfügen soll, soweit er dies anstrebt, und dass gleichzeitig die wichtige, vielfältig geleistete familiale, soziale und gesellschaftliche Arbeit in angemessener Weise anerkannt und integriert wird.“[2]

 

Beschrieben wird hier – deutlich anders als im Liddle-Lerais-Papier – als Kriterium einer gerechten und guten Gesellschaft eine Art von Bewährungsstruktur: Die Menschen sind gehalten, ihre Möglichkeiten und Fähigkeiten – gesellschaftlich gesehen: ihren Reichtum – in den Dienst anderer zu stellen und sie in dieser Hinsicht nicht nur für sich zu konsumieren, sondern produktiv zu investieren. Es geht pointiert gesagt nicht darum, Wohlstand in dem Sinne des puren immer mehr – oder gar des auf nichts verzichten Müssens – zu kultivieren, sondern ihn von anerkannten qualifizierten Zielsetzungen her zu nutzen. Es ginge mithin um eine Gesellschaft derjenigen, die sich „einbringen“. Was es dafür braucht ist zunächst vor allem die Erfahrung substantieller Freiheit im eigenen Lebensbereich um sich überhaupt der eigenen Möglichkeiten – religiös: der eigenen Berufung – klar zu werden. In dieser Hinsicht ist die Förderung der Individualität unumgänglich – der gegenwärtige Zustand des Bildungswesens in vielen Teilen Europas, die Zunahme von Armut und Ungleichheit stehen dem entgegen. Tatsache ist auch, dass solche substantielle Freiheitserfahrung nach wie vor viel zu sehr mit Eigentum – und damit einer höchst ungerechten Vermögensverteilung in Europa – verknüpft ist. Die liberale Vision des freien Bürgers ist längst noch nicht real eingelöst – vielleicht war sie aber auch nie wirklich für alle gemeint.

 

IX.

Von dieser Sichtweise her kommt der in Europa erreichte Wohlstand auch aus christlicher Sicht positiv als Ermöglichungsgrund einer gerechten Gesellschaft in den Blick – aber eben als solcher und nicht als ein Ziel in sich selbst. Dies ist besonders deutlich in einem Papier von „Churches Together in Britain and Ireland“: “Prosperity with a purpose. Christians and the Ethics of Affluence“[3] zum Ausdruck gekommen. In ihm wird betont: „The very possibility of prosperity for the many and not just the few is a new factor in the history of human civilization, which will demand the fashioning of new forms of wisdom.”[4] Und es geht dann weiter: “A purely negative appraisal of economic activity is unacceptable and an injustice to those engaged in it. Economic activity is instead something to celebrate. When it raises the standard of living of the population while relieving the lot of the poor, it is part of God’s will for humanity. There is a need to redress a perceived imbalance in the way Christians have regarded the creation of wealth by economic activity. They should recognize that it is one of the chief engines of progress and greater well-being in the modern age, both directly and indirectly, and thank God for it.”[5]

 

Dann geht es allerdings etwas kritischer weiter: “But the pursuit of profit as an end in itself does frequently result in hardship and injustice. A market-based economy, given free rein, can increase both wealth and poverty.”[6] Dies geschieht insbesondere dann, wenn sich díe Struktur der Ökonomie Strukturen der Sünde unterwirft: “To the extent that all these components encourage virtue and discourage vice, they are helping to enhance prosperity. In so far as they encourage vice, they are the enemy of prosperity. And it will therefore be seen that prosperity has many enemies in modern society, some of whom masquerade as its friends”.[7] Hier wird eine deutliche Absage gegenüber der altbekannten These gemacht, dass private vices public benefits mit sich bringen könnten.

 

Und schließlich heißt es dann in diesem Papier höchst eindeutig und faszinierend vom europäischen Modell: „This European model, when working properly, relies upon the initiative of innovators and entrepreneurs to create and sustain successful business. If they fail, it fails. They have a ‚right of enterprise’, which is part of the basic human right to engage in creative work. Directly or indirectly they employ, and thereby bring prosperity to, workers, managers, suppliers, distributors and retailers; and meet the needs of consumers. Taxation revenue is generated by this successful process, which in turn makes possible extensive levels of public expenditure. The various markets required by these complex cycles of business are regulated in the name of society to ensure fair competition, health and safety, environmental and consumer protection, access to employment without discrimination with a decent level of wages and pensions, and so on. Provided the levels of regulation and taxation are not such as to cripple economic growth, the result is a virtuous circle of wealth creation and public revenue on the one hand and public and private investment on the other. In this climate productivity increases, and workers acquire ever more valuable skills in return for higher pay. Such societies generate wealth which can be directed to such socially desirable ends as the relief of poverty, the treatment of illness, pensions for the retired and improvement of the general social fabric.”[8]

 

 

X.

Übergreifendes Ziel einer nach solchen Kriterien gestalteten und entsprechend evaluierten Gesellschaft wäre folglich nicht die Maximierung des Wohlbefindens oder des Glücks der Einzelnen, sondern, wenn man das so sagen kann, die Steigerung der Resilienz der Gesellschaften Europas im Ganzen. Dies gilt insbesondere angesichts der offensichtlichen ökologischen und demographischen Bedrohungen des europäischen Modells. Aus unserer Sicht ist es längst nicht ausgemacht, dass immer weiteres Wachstum in Europa möglich sein wird – vielmehr wird man sich in vielen Bereichen auch auf Schrumpfungsprozesse – und damit einen Verlust an Möglichkeiten der Lebenssteigerung – einzustellen haben. Die ökologische Bedrohung wird nicht ohne Kosten abzuwenden sein; die Senkung des Verbrauchs an fossilen Ressourcen ist absolut nötig und mittelfristig kaum alternativ aufzufangen. Zudem darf nicht vergessen werden – und dies kommt in dem Papier ebenso wenig wie die ökologische Problematik zum tragen – dass sich der Wohlstand Europas inmitten eines großen Sees der Armut in der Welt entwickelt hat. Es kann aber kaum auf Dauer glückliche Europäer hinter hohen Zäunen geben, die die Armen dieser Welt am Eindringen hindern.

 

Die Idee, ein resilientes Europa zu konzipieren und entsprechende Indikatorenkataloge zu entwickeln, widerspricht überhaupt nicht dem berechtigten Streben der Menschen nach Glück und Zufriedenheit in ihrem Leben. Aber dieses Konzept würde dieses Streben der Einzelnen entsprechend für die erwähnten sozial und kulturell wünschenswerten Ziele in den Dienst nehmen.  Dies allerdings kehrt die Bewertungslogik des Papiers um.

 

Von dieser Blickrichtung aus müssten nun Indikatoren für die Steigerung substantieller Freiheitserfahrung als Voraussetzung der Übernahme von Verantwortung durch möglichst viele Menschen in Europa entwickelt werden. Das Ziel wäre ausdrücklich nicht, einen Weg des Immer mehr zu beschreiten, sondern zumindest auch die Möglichkeit offen zu lassen, mit weniger zurecht zu kommen.

 

Das ließe in der einen Richtung z.B. fragen nach

-         dem Abbau existentieller sozialer Angst

-         der Stärkung von individueller und gruppenbezogener Widerstandsfähigkeit

-         der Erweiterung individueller Einfluss- und Handlungsmöglichkeiten

-         der Stärkung der Fähigkeit des Umgangs mit Verlusten und Einschränkungen.

 

In der anderen Richtung ginge es z.B. um:

-         dem Wahrnehmen von persönlicher und gesellschaftlicher Verantwortung

-         der Stärkung des gesellschaftlichen Engagements in allen sozialen Milieus

-         der Stärkung von gegenseitiger Hilfe und Unterstützung

-         der Förderung von Kreativität.

 

All diese Fragen betreffen soziale, ökonomische aber vor allem kulturelle Ressourcen und ihre Erneuerbarkeit. Die europäische Vision von der unverlierbaren und für alle gleichen Würde des Menschen als Ebenbild Gottes stellt in dieser Hinsicht die entscheidende Variable dar. Sie wird konkret z.B. in der Vision, die Jeremy Rifkin – ohne ihn nun christlich vereinnahmen zu wollen - vom europäischen Teilhabeverständnis in der Differenz zum amerikanischen formuliert: „Der neue europäische Traum basiert auf einem anderen Verständnis von Freiheit und Sicherheit. Für die Europäer liegt die Freiheit nicht in der Autonomie, sondern darin, eingebettet zu sein. Frei zu sein bedeutet, Zugang zu vielen voneinander abhängigen Beziehungen zu haben. Je mehr Gesellschaftsgruppen einem den Zugang erlauben, desto mehr Möglichkeiten hat man, ein erfülltes und sinnvolles Leben zu führen. Hier bringt Inklusivität die Sicherheit – Zugehörigkeit und nicht Besitz.“

 

Gerhard Wegner,

21.11.07



[1] A.a.O., S. 11.

[2] A.a.O., S. 11 / 12.

[3] London 2005.

[4] A.a.O., S. 13.

[5] A.a.O., S. 15.

[6] A.a.O., S. 16.

[7] A.a.O., S. 21.

[8] A.a.O., S. 25.