Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen

EKD-Text Nr. 65, 1999

4. Engagement gegen Genitalverstümmelung - eine Aufgabe für den kirchlichen Entwicklungsdienst

Der kirchliche Entwicklungsdienst sieht Genitalverstümmelung als eine Menschenrechtsverletzung an Frauen und Mädchen an. Der Orientierungsrahmen der Arbeitsgemeinschaft Kirchlicher Entwicklungsdienst (AG KED) "Wege zu einer frauengerechten Entwicklungszusammenarbeit" (1993) formuliert sein Selbstverständnis folgendermaßen: "Unter frauengerechter Entwicklung verstehen wir die besondere Stärkung (empowerment) von Frauen in ihrer gleichberechtigten Beteiligung an der Verwirklichung von Menschenrechten und in Entwicklungsprozessen." (67) Dies bedeutet auch das Recht auf Selbstbestimmung und Eigenständigkeit. Darum bemüht sich der kirchliche Entwicklungsdienst, daß die grausamen und menschenverachtenden Praktiken beendet werden.

Um dieses Ziel zu erreichen, sind Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen notwendig. Es ist nicht ausreichend, nur an den Symptomen anzusetzen, wie zum Beispiel der gesundheitlichen Nachsorge. Genitalverstümmelungen kann auch nicht mit einem Verbot durch die nationale Gesetzgebung allein begegnet werden. Als ein Akt der Gewalt gegen Frauen ist Genitalverstümmelung eingebettet in eine komplexe soziale Situation und hat eine Reihe von wirtschaftlichen, politischen und sozialen Ursachen. Deshalb kann der Kampf gegen Genitalverstümmelungen sich nur in einem behutsamen, langsamen Prozeß des sozialen und kulturellen Wandels vollziehen. Ein Umdenken muß erfolgen, wenn das, was bisher für "richtig" bewertet wurde, nun als "schädlich" erkannt werden soll. Letztendlich wird das Geschlechterverhältnis insgesamt sich ändern müssen, denn diese menschenverachtenden Praktiken sind Teil des patriarchalen Machtgefüges, in dem die Sexualität der Frauen kontrolliert wird, ohne Rücksicht auf ihr seelisches und körperliches Wohlbefinden bzw. ihre Selbstbestimmung.

Kirchen und kirchliche Entwicklungsdienste vertreten die Auffassung, daß spezielle Aufklärungskampagnen und integrierte Entwicklungsstrategien notwendig sind.

Eine große Bedeutung hat hierfür die Aufklärung aller beteiligten Personen. Binta Sidibe, Leiterin einer säkularen Initiative in Gambia, macht deutlich, daß die Kampagne dort ansetzen müsse, wo die Menschen sind, das heißt vor Ort in den Kommunen und ausgehend von den Argumenten, die in der öffentlichen Meinung für diese Praktiken sprechen. Es muß mit den Eltern und den Mädchen, den Beschneiderinnen, den Dorfältesten, den politischen und religiösen Entscheidungsträgern, den Hebammen und dem medizinischen Personal sowie Jungen und Männern zusammengearbeitet werden. Ausgangspunkt einer Kampagne ist die Aufklärung darüber, was genau Genitalverstümmelung ist, wie hoch die Risiken für die Mädchen und jungen Frauen sind und welche gesundheitlichen Folgeprobleme auf die Frauen zukommen. Neben der "objektiven" Argumentation müssen hier auch Werte, Normen, der soziale Druck und die Eigeninteressen der einzelnen berücksichtigt werden. Ganz wichtig ist es dabei, den Beteiligten Handlungsoptionen anzubieten, die positive Werte beinhalten und ihnen gleichzeitig erlauben, die grausamen Praktiken aufzugeben. Denkbar wäre zum Beispiel die Einführung anderer Riten zur Aufnahme der Mädchen in den Kreis der Erwachsenen ohne körperliche Verletzungen. Damit es für einzelne möglich wird, aus dem traditionellen Gefüge auszusteigen, müssen für Beschneiderinnen alternative Einkommensquellen erschlossen werden, die ihnen auch einen gewissen Status erhalten. Durch ihre Tätigkeit als Beschneiderin erfahren sie ein hohes soziales Ansehen und haben eine gewisse Macht. Die jungen Mädchen brauchen Ausbildungsmöglichkeiten und ein System der gegenseitigen Unterstützung.

Die Förderung von Frauengruppen, -organisationen und Netzwerken ist in einer Gewaltsituation besonders wichtig. Allein ist es meist sehr viel schwieriger, sich nicht normkonform zu verhalten. Sowohl in kleinen Gruppen in der Nachbarschaft und der Gemeinde als auch in speziellen Frauenorganisationen können Frauen sich gegenseitig den Rücken stärken und eigene Ansichten entwickeln.

Durch die Interessenvertretung der Frauen, aber auch durch den gezielten Einsatz von Medien und die Unterstützung von Entscheidungsträgern in der Öffentlichkeit kann langfristig das öffentliche, politische Klima verändert werden. Auch die kirchlichen Autoritäten und Gremien sollen die vermeintlich religiös begründeten Traditionen hinterfragen.

Der kirchliche Entwicklungsdienst fördert nationale und internationale Austauschforen und Zusammenschlüsse von Kampagnen. Sie haben eine große Bedeutung, da zum einen Veränderungen auf nationaler Ebene den Druck von internationalen Organisationen und Gremien benötigen und zum anderen die nationalen Initiativen voneinander lernen und ihr Vorgehen untereinander abstimmen sollten. Zwei engagierte Institutionen sind zum Beispiel das "Interafrican Committee On Traditional Practices Affecting the Health of Women and Children" und das "Women's Global Network for Reproductive Rights".

Der kirchliche Entwicklungsdienst sieht darüber hinaus die Notwendigkeit, im Dialog mit den Partnerorganisationen und Kirchen das Thema in bestehende Programme zu integrieren. Dabei kommen Programmen der Gesundheitsvorsorge und Bildungsprogrammen sowie der Gesundheitsversorgung eine besondere Bedeutung zu. Das medizinische Personal muß umfassend über die Praktiken der Genitalverstümmelung und ihre Folgeprobleme aufgeklärt werden und bereit sein, die medizinischen Komplikationen - wo überhaupt möglich - zu beseitigen. Die Situation erfordert es außerdem, mit Männern, Frauen und Jugendlichen (Mädchen wie Jungen) über die reproduktive Gesundheit zu sprechen, das heißt sie über Fragen der Sexualität, Familienplanung und der medizinischen Versorgung zu informieren und sie zu beraten. Auch in die Programme des kirchlichen Entwicklungsdienstes im Bereich von Bildung, Ausbildung und christliche Medien sowie in die pastoralen und diakonischen Aufgaben der Kirchen muß Aufklärung über Genitalverstümmelungen integriert werden.

Anmerkungen

67: Wege zu einer frauengerechten Entwicklungszusammenarbeit. Ein Orientierungsrahmen der AG KED. Texte 52, hrsg. von Eberhard le Coutre, u.a., Hamburg 1993, S. 28.

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