Ein Weg zu Gott

Gottesdienste haben einen festen Ablauf, der Einkehr und Gemeinschaft ermöglicht

Pfarrerin und Pfarrer zelebrieren am Altar

Wer zum ersten Mal, oder nach langer Zeit wieder, einen Gottesdienst besucht, taucht ein in eine fremde Welt. Viele sind spontan fasziniert, auch wenn ihnen der Ablauf nicht vertraut ist. Die Musik, meist von der Orgel oder mit Posaunen, der Chor, die Formeln, die der Pfarrer oder die Pfarrerin spricht, die gesprochenen oder gesungenen Antworten der Gemeinde, die Lieder, Lesungen aus der Bibel und die Predigt entführen einen. Sie wecken Gedanken und Eindrücke, sie lassen einen zur Ruhe kommen.

Ermutigt in die Welt zurückkehren

Menschen erleben, dass im Gottesdienst ihr Alltag unterbrochen wird, und es tut ihnen gut. Darin liegt eine Wirkung des „Heiligen Spiels“ – so hat der Theologe Romano Guardini die Liturgie genannt, die Abfolge im Gottesdienst. Sie ist wie ein Weg, auf dem Menschen aus ihrem Alltag zu Gott gehen können und durch diese Begegnung ermutigt wieder in ihre Welt zurückkehren. Manche Teile des Gottesdienstes gehen zurück bis auf die frühe Christenheit der ersten drei Jahrhunderte.

Die Liturgie legt fest, dass die Teilnehmer*innen in jedem Gottesdienst Gott anrufen und ihm Ehre geben, dass Menschen ihre Schuld bekennen und dass ihnen die Vergebung und die Gnade Gottes zugesprochen wird. Die Gemeinde betet für andere Menschen und ihre Probleme, sie bittet Gott um Beistand. Alle Besucher*innen sprechen gemeinsam das Vaterunser, das Gebet, das die Welt umspannt. Für die Dauer dieses Gebets läutet eine der Glocken und verbindet die Gläubigen mit ihrer Umgebung.

In den Lesungen und in der Predigt liegt ein besonderes Geheimnis: Die Teilnehmer*innen  konzentrieren sich auf Christus, sie hören Gottes Wort und erfahren, wie es in ihrer Situation verstanden werden kann. „Allein Christus“ – die Einsicht der Reformation, dass er das entscheidende Wort sagt, das Menschen rettet, ihnen hilft und Maßstäbe setzt, kommt hier besonders zum Ausdruck.

Das Abendmahl verbindet – mit Christus und den Christinnen und Christen weltweit

Im Abendmahl begegnen die Teilnehmer*innen Gott auf eine weitere Art, nicht nur durch Worte, sondern durch Brot und Wein. Dabei erinnern sie sich daran, dass Jesus selbst dieses Sakrament, ein heiliges Geschenk, eingesetzt hat. Das Abendmahl verbindet die Gemeinde untereinander und mit Jesus, mit den Menschen früherer Generationen wie auch mit den Christen und Christinnen überall in der Welt. Denn alle feierten und feiern sie im Abendmahl die Gemeinschaft mit Jesus und untereinander. Jeder Gottesdienst soll ein Fest sein, in dem Menschen sich über die Größe und die Freundlichkeit Gottes freuen. Am Schluss wird über allen der Segen ausgesprochen.

„Gottesdienst ist eine heilsame Unterbrechung“, sagt auch Irmgard Schwaetzer. Die frühere Bundesministerin war Präses der Synode, des sogenannten Parlaments der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Zudem gehört sie zur Leitung des Berliner Doms. „Zur Kirche zu gehen ist für mich Brot und Wasser für die Seele, eine pure Notwendigkeit, im Gebet, und im Gesang und im Hören auf Gottes Wort die Verbindung mit Gott zu suchen. In einer Woche ohne Gottesdienst werde ich ganz unruhig.“

„In einer Woche ohne Gottesdienst werde ich ganz unruhig.“

Irmgard Schwaetzer
Irmgard Schwaetzer frühere Präses der EKD-Synode

In der Liturgie zuhause

Was löst ein Gottesdienst in ihr aus? „Ich nehme immer etwas mit“, sagt sie. „Ich fühle mich in der Liturgie zuhause, diesem Aufbau von Schuldbekenntnis, Gnadenzusage, Glaubensbekenntnis, Predigt und Abendmahlfeiern. Jedes traditionelle Stück hat für mich große Bedeutung.“

Viele Gemeinden bieten neben dem gewohnten Gottesdienst neue Formen an, um einen leichteren Einstieg in die Liturgie möglich zu machen. Oder sie gehen damit auf andere Lebensgewohnheiten ein. Mitunter ersetzt eine Band die Orgel, so dass auch das von heutiger Musik geprägte Lebensgefühl im Gottesdienst vorkommt. Es gibt Segnungs- und Heilungsgottesdienste, in denen der Segen oder das Gebet für Kranke im Mittelpunkt stehen. Gemeinden gehen mit einem Gottesdienst auf Berge, auf Plätze oder in Kinos und Museen, um ihre Umwelt in die Feier mit Gott einzubeziehen. „Das ist alles gut, denn das Erlebnis der Verbindung mit unserem Schöpfer ist etwas sehr Individuelles“, sagt Irmgard Schwaetzer.

In den letzten Jahren haben evangelische Gemeinden neu erkannt, wie wichtig die Vorbereitung von Gottesdiensten ist. Die EKD betreibt in Hildesheim und Wittenberg zwei Institute zur Weiterentwicklung der Gottesdienst- und der Predigtkultur. Neben Pfarrerinnen und Pfarrern berufen evangelische Kirchen auch ehrenamtliche Lektoren bzw Lektorinnen oder Prädikanten bzw Prädikantinnen und beauftragen sie nach einer Ausbildung mit der Leitung von Gottesdiensten.

Sich auf das Herz der Kirche besinnen

Irmgard Schwaetzers Gemeinde im Berliner Dom hat sich übrigens dafür entschieden, für jeden Gottesdienst ein Programm zu drucken, so dass Besucher sich leichter beteiligen können. Viele Gemeinden heften ein Blatt mit der Liturgie in die Gesangbücher, die in der Kirche ausliegen.

Irmgard Schwaetzer findet es wichtig, dass man sich auf einen Gottesdienst einstellen kann. Die Mitglieder einer Gemeinde sollten zehn Minuten vor Beginn ruhig werden und nicht mehr auf ihre Smartphones schauen oder miteinander reden. Das sagt auch der Dichter und Liturgiewissenschaftler Christian Lehnert. „Wir sollten die Kräfte sammeln, in Ruhe“, sagt er, „und sollten uns auf das Herz der Kirche besinnen: Gottesdienst, Gebet, Spiritualität.“ Denn er meint: Im Gottesdienst wird klar, dass die Kirche beim Gottesdienst nicht im Alltag aufgeht und eine weiter Veranstaltung neben anderen anbietet, sondern Brücken baut zu Gott.

wt