Kirche und Jugend. Lebenslagen, Begegnungsfelder, Perspektiven

Eine Handreichung des Rates der EKD, 2010, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05961-7

1. Kirche und Jugend ­- zur aktuellen Situation

Die gegenwärtige Situation im Verhältnis zwischen Kirche und Jugend ist durch eine Vielzahl von sehr unterschiedlichen Prozessen charakterisiert. Die Jugendforschung beschreibt sorgfältig die Bedingungen des Aufwachsens in der heutigen Zeit. Die Lage der Kirche wird in den Mitgliedsuntersuchungen ausführlich beschrieben. Beides soll hier nicht wiederholt werden. Vielmehr ist zu fragen, was denn das Charakteristische in der Verhältnisbestimmung zwischen Kirche und Jugend ist.

1.1 Freiheit und Entscheidung

Ein zentrales Merkmal des Verhältnisses von Kirche und Jugend ist die Tatsache, dass die Freiheitsgrade von Jugendlichen, sich auf den Glauben und die Institution Kirche einzulassen, hoch sind und Jugendlichen damit eine Entscheidung abverlangt wird.

Diese Freiheit ist zum einen entwicklungsbedingt. In der Jugendphase kann sich ein selbstständiger Zugang zum Glauben, zur Religion und zur Kirche entwickeln. Die Phase der Jugend ist für die Ausbildung einer Haltung zu Religion und Kirche von besonderer Bedeutung; Jugendliche können sich mehr und mehr selbstständig mit ihrem Glauben, der Religion und der Zugehörigkeit zur Kirche auseinandersetzen. In dieser Lebensspanne gewinnen Fragen von Lebensgestaltung und Ethik an Bedeutung, und es werden eigene Antworten gesucht. Viele Erfahrungen der Jugendzeit seien sie positiv befreiend, aber auch negativ einengend sind für den weiteren Lebenslauf prägend. Jugendliche setzen sich mehr und mehr eigenständig mit diesen Fragen auseinander.

Die Eigenständigkeit ist aber auch durch die gesellschaftliche Entwicklung bedingt. Die Lebenslagen von Jugendlichen haben sich in den letzten Jahren erkennbar verändert und neue Herausforderungen des Aufwachsens entstehen lassen. Jugendliche in Deutschland müssen heute weniger denn je um Freiräume für die Verwirklichung ihres eigenen Lebensentwurfes kämpfen und diesen in Abgrenzung zur vorhergehenden Generation entwickeln. Vielmehr müssen sie sich heute darum bemühen, in einer Multioptionsgesellschaft eine eigene Lebensplanung zu realisieren und sich einer komplexen und unübersichtlichen Gesellschaft unter den Bedingungen der Globalisierung selber zuzuordnen. Es ist schwer für sie, Formen der Teilhabe an Gesellschaft zu finden, trag fähige Gemeinschaftsformen zu identifizieren und zu gestalten. Lebenslaufentscheidungen bergen Risiken und provozieren Entscheidungen. Viele Jugendliche empfinden dieses als Entscheidungsüberlastung. Jugendliche werden heute als "pragmatische Generation" beschrieben, die durch die zunehmend auseinandergehende wirtschaftliche Schere zwischen Arm und Reich unter starkem ökonomischen Erfolgsdruck steht.

Jugendliche suchen nach Orientierung und Lebenssinn. Viele Jugendliche interessieren sich für moralische und ethische Fragen. Sie suchen nach überzeugenden Antworten, nach Orientierung und Lebenssinn. Sie interessieren sich für Religion bzw. Religionen. Sie suchen Räume, in denen sie sich mit ihren Fragen entfalten können. Sie engagieren sich in der Gesellschaft und möchten etwas für andere tun. Gleichzeitig sinkt das Wissen von Jugendlichen über Religion, und die religiöse Sprachfähigkeit nimmt ab. Immer weniger Jugendlichen gelingt es, religiöse Dimensionen sprachlich zu kommunizieren und religiöse Verweise oder Prägungen in kulturellen Ausdrucksformen zu entziffern.

Bei dieser Suche nach Orientierung und Engagement erscheinen die kirchlichen Angebote in vielen Fällen nicht attraktiv. Jugendliche interessieren sich häufig nicht für die kirchlichen Antworten und Angebote. Auch wenn sich mehr als 90% der evangelisch Getauften konfirmieren lassen, engagieren sich viele Jugendliche nach der Konfirmation nicht mehr im Bereich der Kirche. Obwohl ein erheblicher Teil der Jugendlichen am Ende der Konfirmandenzeit angibt, dass sie sich gerne an kirchlichen Aktivitäten beteiligen würden, finden viele kein passendes Angebot. Die Kirchenmitgliedschaft wird dann in dieser Altersgruppe nicht selten zu einer bloßen Konvention und Tradition. Auch zu den Inhalten des christlichen Glaubens besteht dann zunehmende Distanz: Hinsichtlich des Glaubens an Gott werden häufig Zweifel geäußert bzw. man begegnet bei Jugendlichen der Einstellung, dass man "an eine höhere Kraft" glaube, "aber nicht an einen Gott, wie ihn die Kirche beschreibt" (Vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, 2003). Diese Form der Distanz zur Kirche unter scheidet sich von den Formen der Institutionenkritik von Jugendlichen der vorhergehen den Generationen. Die kirchenkritische Haltung von Jugendlichen war bis in die 80er Jahre aus der heutigen Perspektive eher emotional von Kirchennähe geprägt. Schließlich ging es vielfach darum, die Institution zu verändern, mit der man selbst groß geworden war. Vielen Jugendlichen heute ist die Institution Kirche von vornherein fremd geblieben und deshalb gleichgültig sie wollen sie nicht einmal mehr verändern. Hierin zeigt sich eine generelle Distanz zu Institutionen. Allerdings wird ein solcher Befund dadurch unübersichtlich, dass sich die Kirchenbindung von Jugendlichen in einzelnen Gegenden Deutschlands in der Ausprägung deutlich unterscheidet. Es gibt Regionen, in denen die deutliche Mehrheit der Jugendlichen der Kirche angehört, und andere, in denen sie damit eine Minderheit darstellen. Dies verändert die Problemsicht. Gleichwohl ist der allgemeine Trend einer zunehmenden Distanz zur verfassten Kirche nicht zu verkennen.

1.2 Mehrheit und Minderheit

Diese Entwicklung vollzieht sich zudem vor dem Hintergrund eines demographischen Wandels, der heute noch gar nicht richtig bewusst ist. Die demographische Entwicklung unserer Gesellschaft hatte bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts die Form einer Pyramide, in der die nachkommende Jugend gegenüber den Alten einer Gesellschaft die Mehrheit darstellte. Heute hat sich diese Situation radikal geändert.

Die Anzahl der Jugendlichen nimmt durch die geringer werdende Geburtenrate ab: Entsprechend der Analysen des Nationalen Bildungsberichts wird die Zahl der 10- bis unter 20-Jährigen in den westlichen Ländern bis 2020 um 16 % zurückgehen. In den östlichen Bundesländern wird sie sich bis 2020 gegenüber dem Stand von 2004 sogar in etwa halbieren. In manchen Gegenden werden sich diese Trends durch Abwanderungen noch verstärken. Dabei muss bewusst bleiben, dass evangelische Jugendliche ganz besonders betroffen sind. Der Rückgang der Geburtenraten in Deutschland ist ungleich verteilt mit am stärksten ausgeprägt bei den evangelischen Bevölkerungsanteilen.

Jugendliche als Minderheit: Jugendliche werden in nicht wenigen Gegenden Deutschlands zur Minderheit. In der Konsequenz dieser demographischen Entwicklung werden sich Jugendliche auf der einen Seite in Institutionen wie der Kirche tendenziell als weniger einfluss- und wirkmächtig erleben. Auf der anderen Seite werden sie die Erfahrung machen, dass sie als Minderheit in der eigenen Verwandtschaft bzw. dem eigenen genealogischen Netzwerk, aber auch als potenzielle Arbeitnehmer und als Trendsetter geradezu umworben werden. Die heutigen Verhältnisse von Minderheiten und Mehrheiten werden sich angesichts einer sich kulturell, sprachlich und religiös entwickelnden Einwanderungsgesellschaft deutlich verändern. Durch den wachsenden religiösen Pluralismus wird die Sozialisation in den evangelischen Glauben und die evangelische Kirche noch weniger selbstverständlich. Damit verstärkt sich der oben beschriebene Zwang zur eigenen Entscheidung.

Jugendliche als Minderheit einer kleiner werdenden Kirche: Diese Entwicklung wird für die Kirche im Blick auf die Erfüllung ihrer Aufgaben gegenüber und mit Jugendlichen eine besondere Herausforderung darstellen, wenn diese in den nächsten Jahrzehnten insgesamt weiter an Mitgliedern verlieren wird. Sie wird für die Kirche darüber hinaus aber auch im Hinblick auf ihre eigene Überlieferung und Tradierung sowie auf ihre flächendeckende Angebotsstruktur und ihre eigene finanzielle Basis vor allem dann Konsequenzen haben, wenn sie in der Gruppe der weniger werdenden Jugendlichen auch noch größere Kohorten verliert. Für evangelische Jugendliche entsteht eine doppelte Minderheitensituation: Minderheit in der Gesellschaft und in der Kirche zugleich.

1.3 Die Herausforderung einer jugendsensiblen Kirche

Aus der Tradition der kirchlichen Arbeit mit Jugendlichen hat sich ein Angebot entwickelt, das weit mehr ist als die herkömmliche "kirchliche Jugendarbeit". Die Kirche hält ein vielfältiges Angebot für Jugendliche bereit. Sie wendet sich mit Angeboten für Familien, der Gemeindearbeit, in der Schule, der evangelischen Jugend, der Konfirmandenarbeit, in musisch-kulturellen Projekten, mit Sportangeboten, Chören und Bläsergruppen, in diakonischen Angeboten, in Jugendkirchen und vielem mehr an Jugendliche. Dieses vielfältige Angebot der Kirche ist ein Reichtum, der sich allerdings daraufhin befragen lassen muss, ob die Herausforderungen, denen Jugendliche begegnen, mit aller Deutlichkeit im Blick sind; ob zum Beispiel:

  • die Lebenswelten der Jugendlichen aufgenommen und Jugendliche in ihrer spezifischen Lebenssituation angemessen begleitet werden. Manchmal scheint das Angebot eher Ausdruck der Eigenlogik kirchlichen Handelns zu sein, denn die Lebenswelten und Interessen von Jugendlichen in den Blick zu nehmen.
  • berücksichtigt wird, dass das begleitende religiöse Lernen im Elternhaus und der Gesellschaft immer weniger vorausgesetzt werden kann. Trägt das Angebot hinreichend dazu bei, die religiöse Sprachfähigkeit von Jugendlichen zu stützen und sich auf deren Fragen einzulassen?
  • das Angebot hinreichend dazu beiträgt, die eigene kirchliche Tradition weiter zugeben, und ob in ihm ein evangelisches Profil erkennbar wird. Die vielfältigen Angebote der Kirche für Jugendliche erscheinen nicht immer als ein konsistentes evangelisches Angebot.
  • das Angebot dazu beiträgt, die vielfältigen Perspektiven auf die Kirche als Institution und ihre Prägung durch eine Vielzahl von unterschiedlichen Menschen hinreichend sichtbar zu machen.

Kirchliche Angebote für Jugendliche begründen sich aus dem Evangelium und sind konstitutiv auf die Lebenslagen Jugendlicher bezogen. Grundlage evangelischer Arbeit mit Jugendlichen ist die wechselseitige Verschränkung zwischen der Botschaft des Evangeliums und der Orientierung an den Jugendlichen als Subjekten und ihrer Lebenswelt. Aus der Botschaft des Evangeliums ergeben sich Orientierungsmarken für die Lebenswelten Jugendlicher, und gleichzeitig erwachsen aus den Lebenswelten Jugendlicher zentrale Fragen, die das Evangelium erschließen. Damit kommen die Lebenslagen Jugendlicher als eigene Herausforderung in den Blick. Diese Dialektik ist in der jeweils historischen Situation immer wieder neu dahingehend auszuleuchten, wie die Lebens lagen der Jugendlichen zur Botschaft des Evangeliums stehen bzw. in welcher Form das Evangelium seine Relevanz für Jugendliche entfaltet. Die Verschränkung der Botschaft des Evangeliums mit den Lebenslagen Jugendlicher ist für das Verhältnis von Kirche und Jugend von zentraler Bedeutung, eben weil sie dem Evangelium selbst in seiner Menschenfreundlichkeit entspricht. Dabei geht es auch praktisch um die Frage, wie die Botschaft des Evangeliums an der Wirklichkeit auszulegen ist und wie die Kirche in der Begegnung mit Jugendlichen die Gestalt findet, die diesem Anliegen dient. Dieses wird deshalb in den nachfolgenden Kapiteln 2 und 3 im Einzelnen ausgeleuchtet.

Vor diesem Hintergrund konkretisieren sich Perspektiven für eine "jugendsensible Kirche" mit vielfältigen Handlungsperspektiven. Wenn Jugendliche keinen Kontakt zur christlichen Tradition bekommen, wird es zumindest unwahrscheinlich, dass sie den christlichen Glauben als wertvoll für ihr Leben entdecken. Das Interesse, das kirchliche Angebot attraktiv und plausibel sichtbar zu machen, muss die Kirche auch im Hinblick auf die Sorge um ihren Erhalt haben. Zum Wesen der Kirche gehören konstitutiv die Überlieferung und ihre Wirkungsgeschichte und deren Kommunikation in der Gegen wart. Wenn es der Kirche nicht gelingt, immer wieder der nachwachsenden Generation Zugänge zur Botschaft des Evangeliums zu eröffnen, wird sie auf Dauer in ihrer eigenen Existenz gefährdet. Im abschließenden Kapitel werden vor diesem Hintergrund Perspektiven für eine "jugendsensible Kirche" entworfen (Kapitel 4).

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