Umkehr zum Leben

Nachhaltige Entwicklung im Zeichen des Klimawandels, Denkschrift des Rates der EKD, 2009, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05909-9

3. Armut und Klimawandel

Leitgedanke: Die Auswirkungen des Klimawandels sind vielfältig. Höhere Temperaturen werden die Niederschlagsmengen und -muster verändern, sie werden zu häufigeren und intensiveren Dürren, Überschwemmungen und Stürmen führen. Insbesondere die tropischen und subtropischen Länder werden von diesen Veränderungen betroffen sein. Ihre landwirtschaftlichen Erträge werden sinken und ihre Bevölkerungen werden vermehrt unter Wasserknappheit leiden. Dadurch wird es in vielen Ländern, insbesondere in Subsahara-Afrika, erheblich schwerer werden, die Armut zu verringern und die Millenniumsziele der Vereinten Nationen zu erreichen. Dies trifft sogar auf Länder wie China und Indien zu, die in den vergangenen zehn Jahren hohe Wachstumsraten erreicht haben und in denen die absolute Zahl der Menschen, die über kein geregeltes oder nur ein geringes Einkommen verfügen, zurückgegangen ist. Denn das Wirtschaftswachstum in diesen Ländern hat ihre Ökosysteme stark belastet; der Klimawandel wird diese Belastung verstärken.

3.1 Was ist Armut?

Auch nach vier Dekaden Entwicklungspolitik und Zusammenarbeit fällt die Welt ökonomisch gesehen immer weiter auseinander. 25 Prozent der Menschen verfügen über rund 75 Prozent des Welteinkommens, während 60 Prozent der Menschen von nur sechs Prozent des Welteinkommens leben. Annähernd die Hälfte der Weltbevölkerung leben von weniger als zwei USD am Tag (2,8 Mrd.), und 1,4 Milliarden von weniger als 1,25 USD.[28] Diese Schere öffnet sich sowohl zwischen den Ländern (um 20 Prozent seit 1980) wie auch innerhalb der Länder. Verarmungs- oder Bereicherungsprozesse verlaufen häufig quer zu nationalen Grenzen und schließen die Industrieländer ein. Das Ausmaß der extremen Armut hat seit 1980 prozentual abgenommen, ist in absoluten Zahlen jedoch leicht gestiegen.

Armut hat viele Gesichter und ist vor allem weiblich – zu den Armen gehören Landlose und Slumbewohner, Kleinbauern/bäuerinnen und informelle Händler/innen, Wanderarbeiter/innen, Aids-Waisen, Kinderarbeiter/innen. Gemeinsam ist ihnen der unzureichende Zugang zu den Basisressourcen Land und Energie, Mittel- und Machtlosigkeit und der Ausschluss von Bildung und Gesundheit.

Trotz des Städtewachstums ist Armut weiterhin zu rund 80 Prozent ein ländliches Problem. Ländliche Armut konzentriert sich auf Süd- und Südostasien, Zentralchina, Afrika südlich der Sahara und innere Zonen Lateinamerikas, während städtische Armut mit den Metropolen und Megastädten der Welt wächst. Die Zahl der Hungernden (923 Mio. 2008) nähert sich der Zahl der absolut Armen an (rund eine Milliarde). Nur rund zehn Prozent des Hungers hat mit Naturkatastrophen oder Krieg zu tun, was umgekehrt heißt, dass rund 90 Prozent aller Hungerprobleme strukturell bedingt sind.

Ländliche Armut umfasst über verschiedene regionale und kulturelle Kontexte hinweg wiederkehrende Elemente: Das verfügbare Land ist in der Regel zu klein und/oder ohne Rechtstitel. Die Höfe liegen in ökologisch ungünstigen Gebieten wie an steilen Hängen oder in von Trockenheit und Überschwemmungen bedrohten Regionen. Zugang zu Krediten und zu Saatgut ist erschwert oder verwehrt, fachliche Beratung in der Regel nicht existent. Fehlende Transportmöglichkeiten und Infrastruktur verschließen Marktchancen und den Zugang zu Basisdienstleistungen wie Bildung und Gesundheit. Es besteht eine hohe Verletzlichkeit gegenüber den zunehmenden extremen Wetterereignissen im Kontext des Klimawandels, aber auch gegenüber anderen Änderungen der Rahmenbedingungen wie erhöhtem Importdruck und Liberalisierung des Marktgeschehens.

Armut bedeutet immer ökonomische, soziale und politische Marginalisierung bzw. Ausschluss. Arme Menschen sind in der Regel unmittelbar und stark abhängig von natürlichen Ressourcen und besonders verletzlich gegenüber Natur- und anderen Katastrophen. Dass arme Bevölkerungsgruppen sich aus diesen Zwängen befreien, ist elementarer Bestandteil eines Lebens in Würde.

Diese Denkschrift nimmt die entscheidenden Elemente des neuen multidimensionalen Armutsbegriff es auf, der stark durch die Arbeiten des Nobelpreisträgers Amartya Sen beeinflusst ist.[29] Amartya Sen definiert Armut aus der Perspektive des Einzelnen als Ausdruck eines Mangels an grundsätzlichen Verwirklichungschancen. Materielle Not verschärft diesen Mangel, ist aber nicht ihre einzige Ursache: Hinzu kommen weitere Dimensionen wie Beschränkungen aufgrund von Geschlecht, ethnischer oder sozialer Zugehörigkeit und des fehlenden Zugangs zu Bildung, Gesundheit und dem Arbeitsmarkt. Aus dieser Sicht sind Wirtschaftswachstum und höhere Real einkommen keine hinreichenden Bedingungen für die Reduzierung von Armut. Auch der deutsche nationale Armutsbericht[30] geht auf diesen Armutsbegriff zurück. Die Denkschrift des Rates der EKD zur Armut in Deutschland, "Gerechte Teilhabe: Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität", von 2006 nimmt ebenfalls wesentliche Bestandteile davon auf. Der Argumentation der Denkschrift zufolge ist Armut nicht nur eine Frage des absoluten Einkommens, das einer Person oder einem Haushalt zur Verfügung steht, oder der Einkommensverteilung, d. h. des Einkommens, das jemand im Verhältnis zum durchschnittlichen Einkommen einer Gesellschaft hat (Verteilungsgerechtigkeit). Vielmehr muss Armut auch aus der Perspektive der Teilhabegerechtigkeit, d. h. der umfassenden Integration aller Gesellschaftsmitglieder in das soziale, politische, kulturelle und wirtschaftliche Leben, betrachtet werden: "Niemand darf von den grundlegenden Möglichkeiten zum Leben, weder materiell noch im Blick auf die Chancen einer eigenständigen Lebensführung, ausgeschlossen werden."[31] Verteilungs- und Teilhabegerechtigkeit sind Bedingungen dafür, dass die einzelnen Menschen dazu befähigt werden, eigenverantwortlich zu handeln und die Chancen zu nutzen, die ihnen die Gesellschaft bietet, und auch die damit verbundenen Risiken zu bewältigen.

3.2 Armutsbekämpfung im Kontext des Klimawandels

Strategien der Armutsbekämpfung müssen den Klimawandel heute integrieren, und zwar sowohl in energie- und wirtschaftspolitischer Hinsicht als auch mit Blick auf die Anpassung an die wahrscheinlichen Auswirkungen der globalen Erwärmung. Armutsbekämpfung setzt sich zum Ziel, "(extrem) arme und benachteiligte Frauen, Männer und Jugendliche, die von Wachstumsprozessen ausgeschlossen sind, in die Lage zu versetzen, zu ihnen beizutragen und von ihnen zu profitieren".[32] Es geht dabei nicht nur um die Förderung wirtschaftlicher Entwicklung, sondern – im Sinne der fünf Dimensionen von Freiheit von Amartya Sen[33] – auch um einen verbesserten Zugang zu Gesundheit, Bildung, Energie und Wasser, um eine armutsorientierte Politik in der Agrar- und der Transportpolitik, d. h. um Veränderungen in den Bereichen, die für den ökonomischen Ausschluss armer Bevölkerungsgruppen ursächlich sind. Auch gute Regierungsführung und die Stärkung der politischen Rechte der Armen sind Voraussetzung für eine nachhaltige Armutsbekämpfung. In all diesen Bereichen muss auch ansetzen, wer die negativen Folgen des Klimawandels für die Armen begrenzen und sie darin unterstützen will, den Klimawandel nicht nur kurzfristig zu bewältigen, sondern in langfristige Veränderungen zu investieren und damit ihre Chancen für die nachhaltige Überwindung der Armut zu verbessern.

Aus klimapolitischer Sicht ist notwendig, dass Strategien der Armutsbekämpfung nicht selbst zur Verstärkung der globalen Erwärmung und ihrer Folgen beitragen. Dies bedeutet, dass ein armutsorientiertes breitenwirksames Wirtschaftswachstum dazu beitragen sollte, dass

  • Wirtschaftswachstum in Entwicklungsländern auf Klima schonende, im Idealfall Klima neutrale Pfade gelenkt wird;
  • Investitionen in sozialen und anderen Bereichen verstärkt werden, mit denen die Gefährdung verringert und die Anpassungsfähigkeit verbessert werden kann;
  • die politische Freiheit, gebunden an Institutionen, Regeln und Verfahren der Demokratie, die Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit sichern;
  • die ökonomische Freiheit, gebunden an Institutionen, die den ungestörten und freien Zugang zum Markt und zum Arbeitsmarkt sichern;
  • die soziale Freiheit, gebunden an Institutionen, die den Menschen die Teilhabe am Wirtschaftswachstum ermöglichen;
  • gesellschaftliche Transparenz, die auf einem bestimmten Maß an Vertrauen in die gesellschaftlichen Institutionen und Regeln beruht und vorbeugend gegen Korruption und Machtmissbrauch wirkt. Politische und ökonomische Freiheiten werden stark durch Transparenzgarantien beeinflusst;
  • soziale Sicherung als Ziel und als Mittel der Entwicklung. Soziale Sicherungssysteme verhindern extreme Armut und sichern gegen Risiken ab, die durch Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit oder durch außerordentliche Ereignisse wie Naturkatastrophen entstehen.
  • Wirtschaftswachstum so konzipiert wird, dass neben dem Klima auch andere Umweltdienstleistungen und natürliche Ressourcen nicht übernutzt werden.

Es liegt auf der Hand, dass es bei dem Versuch, diese Ziele zu verwirklichen, zu zahlreichen Zielkonflikten kommen kann. Zudem zeichnete sich zur Jahrtausendwende in dramatischer Form ab, dass die Entwicklungsversprechen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die meisten Länder der Welt unerreichbar blieben. Vor diesem Hintergrund verabschiedeten die Vereinten Nationen im Jahr 2000 die Millenniumserklärung zu den vier Politikbereichen Frieden und Sicherheit, Entwicklung und Armutsbekämpfung, Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen sowie Menschenrechte und Demokratie.[34] Diese Erklärung ist von der klaren Einsicht getragen, dass das globale Problem Armut ganz im Sinne der oben genannten Definition sowohl eng mit Fehlsteuerungen in einer Reihe von Politikfeldern zusammenhängt als auch gleichzeitig Reformen und Fortschritte in anderen Bereichen erschwert oder verhindert. Und dass diese Fehlsteuerungen teilweise in der Verantwortung nationaler Entscheidungen liegen, teilweise aber auch durch internationale Regime sowie politische und ökonomische Machtungleichgewichte bedingt sind.

Um konkrete Verbesserungen zu erreichen, definierten die Vereinten Nationen zum selben Zeitpunkt auch acht spezifische Ziele der Armutsbekämpfung, die so genannten Millenniumsentwicklungsziele (Millennium Development Goals, MDGs), entlang elementarer Lebenssituationen: Hunger und absolute Armut, Grundschulbildung, Benachteiligung der Frauen, Kinder- und Müttersterblichkeit, epidemische Krankheiten, ökologische Nachhaltigkeit und Entwicklungspartnerschaft.[35] Die MDGs stellten 2000 den breitest möglichen Konsens über mittelfristige Entwicklungsziele bis 2015 dar. Um alle Nationen auf konkrete Schritte zu verpflichten, wurden eine Reihe dieser Ziele auch mit Indikatoren belegt, um Fortschritte bzw. Versagen messbar zu machen.

Auf dem Weg von der Millenniumserklärung zu den quantitativen Indikatoren der MDGs geriet der multidimensionale Charakter von Armut jedoch aus dem Blick. Im Vordergrund standen nun wieder quantitative Ziele wie die Halbierung der Anzahl der Menschen, die täglich mit weniger als einem USD auskommen müssen, das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts pro Erwerbstätigen oder der Anteil der Analphabeten. Die Fokussierung auf globale quantitative Ziele hat den Vorteil der Konkretion. Sie hat aber auch den entscheidenden Nachteil, die sichtbaren Zeichen der Armut aus den Zusammenhängen ihrer Verursachung herauszulösen. Das Leitbild von Entwicklung wird nicht mehr explizit thematisiert und damit die Verflochtenheit von Armut und anderen großen globalen Problemen wie dem Klimawandel nur mittelbar einbezogen. Armutsbekämpfung wird dadurch wieder zum sozialpolitischen Spezialproblem, statt in den zahlreichen relevanten Politikfeldern und vor allem bei einer gemeinsamen Strategiebildung in Industrie- wie Entwicklungsländern berücksichtigt zu werden.

So kam auch eine erste Zwischenbilanz zum Stand der MDGs nach fünf Jahren zu ernüchternden Ergebnissen.[36] Demnach konnte das Ziel anteilsmäßiger Senkung von Hunger und absoluter Armut erreicht werden, dies jedoch nur auf Grund der Veränderungen in China und Indien; in den Ländern Afrikas südlich der Sahara wurden keine Verbesserungen erzielt. Die absolute Anzahl der Hungernden ist daher nicht gesunken, sondern von 840 Millionen (1996) auf 923 Millionen (2008) gestiegen.[37] Am geringsten sind die Fortschritte, wo sie am nötigsten wären – in den ärmsten Ländern, die überwiegend in Afrika südlich der Sahara liegen. Die Erreichung fast aller anderen Millenniumsentwicklungsziele ist gefährdet.

Kasten 3:

Nachhaltige Entwicklung – das siebte Millenniumsentwicklungsziel

Aus der Perspektive des Klimawandels und der nachhaltigen Entwicklung ist das siebte Millenniumsziel "Sicherung der ökologischen Nachhaltigkeit" besonders wichtig. Vier Teilvorgaben wurden hier gemacht: a) Grundsätze der nachhaltigen Entwicklung in einzelstaatliche Politiken und Programme einbauen, b) den Verlust von Umweltressourcen umkehren, c) bis 2015 den Anteil der Menschen, die keinen Zugang zu sicherem Trinkwasser und zur Sanitärversorgung haben, um die Hälfte senken; d) bis 2020 erhebliche Verbesserungen der Lebensverhältnisse von mindestens 100 Mio. Slumbewohnern erreichen. Für das erste Teilziel wurden keine Indikatoren festgelegt; für das zweite gelten Indikatoren, die sich u. a. auf die Waldfläche, Schutzgebiete und die Treibhausgasemissionen beziehen. In den ersten Jahren nach 2000 standen jedoch allein die quantifizierten Indikatoren des dritten Teilziels, d. h. zur Trinkwasser- und Sanitärversorgung, im Vordergrund der entwicklungspolitischen Debatte. Erst in jüngerer Zeit wird in den Berichten zum Stand der MDGs auch das zweite Teilziel hervorgehoben und mit Zahlen zu den Treibhausgasemissionen und zur Entwaldung unterlegt, die verdeutlichen, dass keine Fortschritte zu verzeichnen sind.

Die Schwierigkeiten mit dem MDG 7 hängen mit grundsätzlichen Funktionsproblemen der Weltwirtschaft im Zeichen der globalen Liberalisierung zusammen. In den letzten Jahrzehnten wurden der Welthandel, der Aufbau international integrierter Produktionsketten und die Öffnung und Verflechtung der Finanzmärkte im Zeichen dieser globalen Liberalisierung gefördert. Die internationale Ausweitung der Krise an den Finanzmärkten der OECD-Länder Ende 2008 hat gefährliche Regulierungsdefizite aufgezeigt; die Schwierigkeiten, international wirksame Maßnahmen gegen den Klimawandel zu ergreifen, verweisen ebenfalls auf die Grenzen eines weltwirtschaftlichen Regimes, das Regulierung vor allem als Hemmschuh für Wachstum und nicht als Wegbereiter einer nachhaltigen Entwicklung begreift. In vielen Entwicklungsländern ist die ökonomische Liberalisierung als Freibrief für Raubbau an den natürlichen Ressourcen genutzt worden. Die bisherigen Bemühungen, dem durch freiwillige Verhaltenskodices oder Appelle an die soziale Verantwortung der Großunternehmen (Corporate Social Responsibility, CSR) Einhalt zu gebieten, sind u. a. deshalb unzureichend, weil die Gewinninteressen der Unternehmen mit staatlichen Wirtschaftsinteressen verknüpft sind. Diese staatlichen Interessen betreffen die Steigerung von Steuerzuflüssen aus der Wirtschaft – mit denen z. B. klientelistische Netzwerke bedient werden – sowie die Schaffung von Arbeitsplätzen, vor allem durch die Einwerbung von internationalem Kapital. Unter den Bedingungen der Liberalisierung wird die Einführung strengerer Umweltgesetze und wirksamer staatlicher Kontrollen gerade in Entwicklungsländern als Wettbewerbsnachteil gegenüber konkurrierenden Ländern ohne derartige Auflagen dargestellt. Reale Hürden sind außerdem die Kosten für diese Maßnahmen und der Wegfall von Einnahmen, wenn z. B. Waldflächen geschützt werden und nicht mehr für die Ausweitung der exportorientierten Landwirtschaft zur Verfügung stehen. Gerade in diesem Sektor wird jedoch besonders deutlich, dass Armut häufig auf Kosten der Umwelt einerseits bekämpft, aber andererseits auch erweitert wird. Denn den wenigen Arbeitsplätzen, die durch agro-industriellen Raubbau in großem Stil geschaffen werden, steht in der Regel eine größere Zahl von Entwurzelten gegenüber, die auf den neuen Anbauflächen zuvor eine Subsistenzwirtschaft betrieben haben. Sie sehen sich häufig gezwungen, auf marginale Standorte auszuweichen, die ökologisch besonders anfällig sind. In diesem Falle entsteht ein doppelter Schaden für die Umwelt bei gleichzeitigem Fortbestand, wenn nicht sogar bei gleichzeitiger Vertiefung der Armut.

Quelle: http://www.bmz.de/de/themen/MDG/Downloads/BMZ-Presse_MDG-7-RZ.pdf (7. 1. 2009)

Die Verringerung der Armut ist somit nicht nur eine Frage des politischen Willens von Industrie- und Entwicklungsländern zur Finanzierung und Realisierung wirkungsvoller Strategien der Armutsbekämpfung. Hierzu hat die Kammer der EKD für Nachhaltige Entwicklung bereits im Jahr 2005 eine Stellungnahme abgegeben.[38] Es stellt sich vielmehr die Frage, wie Armut in ihrer Vielgestaltigkeit wirksam bekämpft und wie dabei vermieden werden kann, globale Fehlentwicklungen wie den Klimawandel und den Raubbau an den natürlichen Ressourcen zu verstärken.

3.3 Regionale Aspekte des Zusammenhangs von Armut und Klimawandel

Die Auswirkungen des Klimawandels werden vor allem die Entwicklungsländer treffen. Wird nicht rechtzeitig im Sinne vorbeugender Anpassungsmaßnahmen Vorsorge getroffen, können die gestiegenen Temperaturen, unregelmäßigere und heftigere Niederschläge, Dürren, Stürme und der Anstieg des Meeresspiegels zu andauerndem Hunger und vielfältigen, sich in kurzen Zeitabständen wiederholenden Notsituationen führen.

Ob es dazu kommt, hängt nicht nur davon ab, ob es gelingt, die globale Erwärmung auf ein einigermaßen beherrschbares Ausmaß zu begrenzen und ob die Industrieländer ausreichend Mittel für Klimaschutz und Anpassungsmaßnahmen in Entwicklungsländern bereitstellen. Entscheidend für die zukünftigen Lebensbedingungen in Entwicklungsländern wird sein, dass die Menschen vor Ort – die Regierung, die Kommunen, die Wirtschaft, lokale Entscheidungsträger, Bauern und Bäuerinnen, Wissenschaftler/innen, meteorologische Dienste, die Medien – die Bedeutung des Klimawandels für ihre Zukunft erkennen und sinnvolle Maßnahmen des Klimaschutzes und der Anpassung beschließen.

Die Voraussetzungen dafür sind in den Entwicklungsländern sehr unterschiedlich. Dies hängt damit zusammen, dass sich in den vergangenen 50 Jahren nicht nur der Abstand zwischen Nord und Süd vergrößert hat, sondern auch die Länder des Südens sehr verschiedene Entwicklungspfade eingeschlagen haben.

Nach der Unabhängigkeitsbewegung, die in den 1960er Jahren fast alle Kolonien erfasst hatte, war die politische Situation in vielen Entwicklungsländern durch eine Aufbruchstimmung und große Hoffnungen auf Entwicklungsfortschritte gekennzeichnet. Diese Situation wurde durch den damaligen Ost-West-Konflikt zunächst scheinbar begünstigt, erwiesen sich doch die Länder des Südens als Bühne, auf der die markt- und die planwirtschaftlichen Länder die Überlegenheit ihres jeweiligen Modells demonstrieren konnten. Schon bald jedoch dominierten machtpolitische Ziele die Kooperationsbeziehungen zwischen "dem" Süden und "dem" Westen bzw. "dem" Osten. Wichtiger als tatsächliche Fortschritte bei der wirtschaftlichen, sozialen und wissenschaftlich-technologischen Entwicklung wurden politische Loyalitäten, die sich in ressourcenreichen Ländern auch im privilegierten Zugang der befreundeten Länder und ihrer Unternehmen zu diesen Ressourcen niederschlug. Viele Diktaturen in der Dritten Welt wurden so aus politischen Gründen international unterstützt. Das Ende der Ost-West-Konfrontation 1990 weckte vielerlei Hoffnungen in der Entwicklungspolitik und im Süden: auf eine Friedensdividende ebenso wie auf die Chance, dass entwicklungsorientierte nationale Regierungen unbelastet von ideologischen oder politischen Prioritäten die notwendigen Handlungsspielräume für die Umsetzung ihrer Strategien erhalten würden. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt.

Tabelle 2: Ausdifferenzierung der Entwicklungsländer nach Regionen und Indikatoren

  Afrika südlich der Sahara Lateinamerika und Karibik Nordafrika und Naher Osten Ostasien Südasien
Index der menschlichen Entwicklung (2007)a 0,493 0,803 0,699 0,771 0,611
BIP pro Kopf (2005, in USD PPP)a 1.998 8.417 6.716 6.604 3.416
Anteil am Welthandel (2007, in Prozent)b 1,5 4,0 5,0 23,0
China: 9,0
Indien: 1,0
Stromverbrauch pro Kopf (kWh 2004)a 478 2.043 1.841 1.599 628
  1. UNDP: Human Development Report 2007/2008, New York 2007. Der Index für die menschliche Entwicklung setzt sich zusammen aus statistischen Angaben zur Lebenserwartung, zum Bildungsgrad und zum Bruttoinlandsprodukt.
  2. WTO: World Trade Report, Genf 2008. Die WTO bildet andere Regionalgruppen als die Weltbank und UNDP, deshalb sind die statistischen Daten nicht ohne Weiteres vergleichbar. Die Angabe zu Afrika südlich der Sahara stammt aus World Bank: African Development Indicators 2005, Washington 2005.

Die gegenwärtige Lage des Südens ist durch zwei Tendenzen geprägt: durch die zunehmende Differenzierung zwischen den Entwicklungsländern und Regionen (siehe Tabelle 2) und durch das zunehmende ökonomische und politische Gewicht einer Reihe aufsteigender großer Entwicklungsländer, vornehmlich China, Indien und Brasilien. In China und Indien leben nach wie vor die meisten Armen dieser Erde, gleichzeitig sind ihre Volkswirtschaften in den vergangenen zehn Jahren sehr stark gewachsen, was zu Erfolgen in der Armutsbekämpfung geführt hat.

Im Folgenden wird ein knapper Überblick über die Armut in den einzelnen Kontinenten und die Auswirkungen des Klimawandels gegeben, die dem Vierten Sachstandsbericht des IPCC zu entnehmen sind.

  • In Afrika südlich der Sahara konzentrieren sich nicht nur die meisten der ärmsten Länder der Welt; vielmehr haben sich hier auch die Durchschnittswerte für den Lebensstandard in den vergangenen Jahrzehnten noch weiter verschlechtert. Zwischen 1981 und 2001 hat sich die Zahl der Armen von 164 auf 314 Millionen erhöht.[39] Heute leben etwa 72 Prozent der Bevölkerung von weniger als 2 USD am Tag.

    Die Länder Afrikas südlich der Sahara wurden erst in den 1960er Jahren unabhängig. Ihre Wirtschaftskraft beruht zum großen Teil auf der Landwirtschaft; viele Menschen leben als Subsistenzbauern. Die Infrastruktur ist unterentwickelt: Straßennetze bestehen kaum bzw. sind auf die Küsten und Städte orientiert, während das Binnenland kaum erschlossen ist – dies erschwert die Vermarktung der bäuerlichen Produktion erheblich und beeinträchtigt die Versorgung. Stromversorgung ist nur in Ansätzen vorhanden. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eskalierte eine Reihe von Bürgerkriegen und es kamen neue hinzu. Dabei wurden einige langjährige Diktaturen beendet, was zu weiteren Instabilitäten beitrug. Auf der anderen Seite kam es in einer Reihe von Ländern aber auch zu Demokratisierungsprozessen. Einige afrikanische Länder haben von der gestiegenen Nachfrage Asiens nach Erzen, Erdöl und Erdgas profitiert. Da diese Sektoren nicht arbeitsintensiv sind, sind Umverteilungsmaßnahmen notwendig, um die Einnahmen für die Armutsbekämpfung zu nutzen – Botswana ist diesen Weg seit den 1960er Jahren gegangen. Derartige politische Entscheidungen sind in den anderen Ländern bisher noch nicht sichtbar.

    Aus diesen Gründen geht das IPCC davon aus, dass in Afrika die Auswirkungen des Klimawandels am stärksten sein werden: Denn hier treffen die Klimaveränderungen auf andere Stressfaktoren wie eine unsichere Nahrungsmittel- und Gesundheitsversorgung und verstärken diese. Die Bedingungen für die Landwirtschaft werden sich verschlechtern: So wird erwartet, dass bis 2080 die Trockengebiete in Afrika um 5 – 8 Prozent (60 – 90 Millionen Hektar) zunehmen werden. Wegen Dürre und Bodendegradation werden die landwirtschaftlichen Erträge in marginalen Anbaugebieten abnehmen.

    Dies betrifft sowohl den Regenfeldbau in der Sahelzone als auch den Regenfeldbau und die höher gelegene Agroforstwirtschaft in der Region der Großen Seen in Ostafrika. Der Fischbestand der Großen Seen wird mit dem Klimawandel abnehmen (im Tanganjika-See um voraussichtlich 30 Prozent) und damit die tierische Eiweißversorgung der lokalen Bevölkerung deutlich verschlechtern. Die Wasserknappheit wird in vielen Teilen Afrikas durch Klimavariabilität und Klimawandel verstärkt. Zur Jahrhundertmitte wird im südlichen Afrika das Dürrerisiko steigen, während es in Ostafrika vermehrt zu Überflutungen kommen kann. Gegenwärtig wird Wasserknappheit auch stark durch Schwächen in der Wasserverwaltung und im Management von Wassereinzugsgebieten verursacht; in diese Bereiche muss investiert werden, damit die zukünftigen Veränderungen bewältigt werden können. An den Küsten wird sich der Zustand der Mangroven und Korallenriffe weiter verschlechtern und damit die Fischerei und den Tourismus beeinträchtigen. Besonders dramatisch wird sich der Anstieg des Meeresspiegels auf tief gelegene Küstengebiete mit hoher Bevölkerungsdichte auswirken. Dies betrifft unter anderem das Nildelta und die Hafenstadt Lagos in Nigeria.

  • Asien ist in jeder Hinsicht ein sehr heterogener Kontinent. Die Region Ostasien umfasst neben sehr armen Ländern wie Laos, Kambodscha und der Mongolei gerade auch diejenigen Länder, die in den vergangenen zwanzig Jahren die größten Entwicklungserfolge erzielt haben, und zwar sowohl die so genannten neuen Industrieländer (Hongkong, Korea, Singapur und Taiwan) als auch die aufsteigenden Länder China, Malaysia, Thailand, Indonesien und Vietnam. Die Literatur bezeichnete die erfolgreiche Entwicklung dieser Länder als "asiatisches Wunder" und führte sie auf eine Reihe struktureller Reformen (Landreform, Bildungsreform) sowie den gezielten Aufbau exportorientierter Industriebranchen mit staatlicher Unterstützung zurück. 1997/98 kam es in einer Reihe dieser Länder zu einer Finanzkrise, die jedoch mittlerweile als überwunden gilt. Heute verzeichnen die Länder hohe Wachstumsraten und verfügen mehrheitlich über hohe Währungsreserven und stabile Banken, während die öffentlichen Budgets finanzielle Spielräume aufweisen.[40] Aber auch in dieser Region leben durchschnittlich noch 45 Prozent der Bevölkerung von weniger als zwei US-Dollar am Tag, in Kambodscha sind es knapp 78 Prozent. In China sind es immerhin noch 35 Prozent der Bevölkerung, d. h. etwa 460 Millionen Menschen.

    Die Region Südasien umfasst so unterschiedliche Länder wie Bangladesch, Indien, Pakistan, Sri Lanka, Bhutan, Nepal und die Malediven. Durchschnittlich leben hier etwa 54 Prozent der Bevölkerung von weniger als zwei US-Dollar am Tag; in Indien sind es über 80 Prozent. Seit Mitte der 1990er Jahre haben Indien und Bangladesch jedoch ein durchschnittliches jährliches Wirtschaftswachstum von über fünf Prozent. Trotz einer anhaltend hohen Ungleichheit bei der Verteilung der Einkommen ist es beiden Ländern gelungen, ihre Armutsraten um sieben (Indien) und neun (Bangladesch) Prozent zu senken.[41]

    Die Auswirkungen des Klimawandels werden in Asien zum einen durch die große Armut verstärkt, zum anderen durch die hohen Bevölkerungszahlen. Im Vordergrund stehen die Auswirkungen auf die dicht besiedelten und wirtschaftlich sehr wichtigen Küstengebiete: Stürme werden diese Gebiete häufiger und intensiver treffen, gleichzeitig sind sie durch den Meeresspiegelanstieg bedroht. Bei einem Anstieg von einem Meter können 5000 km2 des Deltas des chinesischen Roten Flusses und 15 – 20.000 km2 des Mekongdeltas überflutet werden. Dies würde eine Umsiedlung von insgesamt 7,5 Millionen Menschen erzwingen.

    Auch die Wasserknappheit wird nach bisher vorliegenden Daten z. T. in erschreckendem Maße zunehmen. Insbesondere in Indien wird sich die verfügbare Wassermenge pro Kopf erheblich verringern, und zwar nicht nur aufgrund des Bevölkerungswachstums, sondern auch aufgrund schwererer Regenfälle und plötzlicher Überschwemmungen, die zu einem höheren Oberflächenabfluss und geringeren Wassereinspeicherungen im Grundwasser führen. Der Fortbestand der Gletscher, aus denen sich viele große asiatische Flüsse speisen, ist durch den Klimawandel gefährdet. Wenn der gegenwärtige Erwärmungstrend anhält, können die Himalaja-Gletscher sehr schnell verschwinden. Bis 2030 würden sie anstelle der heutigen 500.000 km2 nur noch eine Fläche von 100.000 km2 bedecken. Bei einer globalen Erwärmung um 3° C und keinen Veränderungen in den Niederschlägen würden auch diejenigen Gletscher des Tibetplateaus verschwinden, die weniger als vier Kilometer lang sind. Die Bedingungen für die Landwirtschaft verändern sich auch hier. In Ost- und Südostasien können die landwirtschaftlichen Erträge bis zur Jahrhundertmitte um bis zu 20 Prozent steigen, während sie in Zentral- und Südasien um bis zu 30 Prozent abnehmen können. In einer Reihe von Ländern bleibt damit das Hungerrisiko sehr hoch.

  • In Lateinamerika und der Karibik besteht zwar die höchste Einkommensungleichheit, in der Region gibt es aber die wenigsten Armen: Durchschnittlich leben knapp 30 Prozent der Bevölkerung der Region von weniger als zwei USD pro Tag. In einigen Ländern sind es jedoch erheblich mehr, z. B. in Nicaragua (80 Prozent) und in Haiti. Die lateinamerikanischen Länder wurden bereits zu Anfang des 19. Jahrhunderts unabhängig und etablierten auch früh demokratische Strukturen. Diese wurden jedoch nicht durch eine gesellschaftliche Modernisierung getragen, vielmehr bestanden die politischen und ökonomischen Strukturen der exportorientierten Agrar- und Minenwirtschaft in der Regel fort. Indigene wurden gerade in den Ländern mit einem hohen indigenen Anteil an der Bevölkerung politisch und ökonomisch ausgegrenzt, ebenso wie die Nachkommen der ehemaligen afrikanischen Sklaven. Im 20. Jahrhundert erzielten viele lateinamerikanische Länder durch eine Strategie der binnenorientierten Industrialisierung einige Entwicklungserfolge: Es entstand eine Mittelschicht aus gebildeten Industriearbeitern, Angehörigen der öffentlichen Verwaltung sowie dem Dienstleistungssektor. Die in dieser Zeit gegründeten Unternehmen konnten in der globalisierten Wirtschaft jedoch nur mit Ausnahmen bestehen. Wie Afrika hatte auch Lateinamerika von den gestiegenen Preisen für Rohstoffe und Agrargüter profitiert.

    Die Auswirkungen des Klimawandels werden in Lateinamerika vor allem die Landwirtschaft treffen und damit sowohl moderne exportorientierte Sektoren als auch die arme, großenteils ländliche Bevölkerung. Wasserknappheit wird dabei zum zentralen Problem. In den nächsten 15 Jahren werden wahrscheinlich die Gletscher in Bolivien, Peru, Kolumbien und Ecuador verschwinden und damit die Wasserverfügbarkeit und die Wasserkraft reduzieren. In den Trockengebieten Argentiniens, Chiles und Brasiliens werden wahrscheinlich verringerte Niederschläge zu erheblicher Wasserknappheit führen. Bis 2020 werden zwischen sieben und 77 Millionen Menschen unter Wasserknappheit leiden, während es in der zweiten Jahrhunderthälfte aufgrund verringerter Wasserverfügbarkeit und steigender Bevölkerung schon zwischen 60 und 150 Millionen sein werden.

    Die Auswirkungen auf die Landwirtschaft variieren: Während die Reiserträge nach 2020 vermutlich abnehmen werden, können die Sojaerträge im südöstlichen Südamerika aufgrund steigender Temperaturen und Niederschläge sogar steigen. Insgesamt könnte die Zahl der von Hunger bedrohten Menschen jedoch bis 2020 bereits um 5 Millionen zunehmen, bis 2080 sogar um 85 Millionen. In Peru und Chile wird die Erwärmung der Meeresoberflächentemperatur die Fischbestände beeinträchtigen. Die Fischereiwirtschaft ist in beiden Ländern von erheblicher volkswirtschaftlicher Bedeutung. Bedroht sind auch die Korallenriffe in Mexiko, Belize und Panama. Besonders unsicher ist die Zukunft der Tropenwälder Lateinamerikas. Bereits bei einer Temperaturerhöhung um 2° C und abnehmendem Wassergehalt des Bodens würde der Tropenwald in Ostamazonien und in Zentral- und Südmexiko durch Savannen verdrängt werden. In Teilen Nordostbrasiliens und Zentral- und Nordmexikos würden sich die Wüsten ausbreiten. Die Karibik ist vor allem durch die wahrscheinlich zunehmende Frequenz und Intensität der Hurrikane bedroht.

Was folgt aus dieser Darstellung? Maßnahmen zur vorbeugenden Anpassung an die wahrscheinlichen Folgen des Klimawandels haben für das Leben und die Sicherheit der Menschen in allen Ländern große Bedeutung. In den Ländern mit hoher Wirtschaftsdynamik und entsprechend steigender Nachfrage nach Energie müssen aber auch Maßnahmen des Klimaschutzes, d. h. zur Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Treibhausgasemissionen, umgesetzt werden. Um den Herausforderungen des Klimawandels angemessen zu begegnen, werden diese beiden klimapolitischen Ansätze in den kommenden Jahren immer stärker in die relevanten Politikfelder integriert werden müssen. So werden z. B. bei Investitionsvorhaben oder auch bei Planungen in der Agrarpolitik die prognostizierten Folgen des Klimawandels berücksichtigt werden müssen. Dies bedeutet, dass zum Beispiel Infrastrukturvorhaben gegen Klimarisiken abgesichert oder bei Staudämmen Veränderungen des zukünftigen Wasservolumens einbezogen werden müssen, um etwaige Nutzungskonkurrenzen vorwegzunehmen. Darüber hinaus dürfen Entwicklungsstrategien vorhandene Verwundbarkeiten (Vulnerabilitäten) für die Folgen des Klimawandels nicht verstärken oder gar neue hervorrufen. Das bedeutet, dass in der ländlichen Entwicklung nicht mehr die Förderung der Spezialisierung auf den Anbau weniger, auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähiger Agrarprodukte im Vordergrund stehen darf, sondern möglichst diversifizierte Einkommensstrategien auf Haushaltsebene, die verschiedene wirtschaftliche Aktivitäten auf dem Land und in der Stadt miteinander kombinieren, um beim klimabedingten Ausfall einer Quelle auf andere ausweichen zu können. Kleinbäuerliche Landwirtschaft kann beispielsweise in vielen Teilen Afrikas Ressourcen schonender mit biologischen Anbaumethoden erfolgen.[42]

Sozioökonomische Entwicklungsstrategien müssen ganz neu auf einen Klima schonenden Entwicklungspfad ausgerichtet werden. Das umfasst die Einführung erneuerbarer Energien ebenso wie die Förderung neuer Konzepte der Stadtentwicklung und Verkehrspolitik. Auch die Orientierung auf regionale Wirtschaftskreisläufe anstelle des Weltmarkts wird mittelfristig eine wichtige Alternative werden.

Diese Überlegungen weisen auf eine grundsätzlichere Umsteuerung hin, die von zwei neuen Einflussfaktoren auf die menschliche Wohlfahrt ausgeht: Zum einen muss von einem erhöhten Maß an Risiken ausgegangen werden, da Ausmaß, Geschwindigkeit und Folgen des Klimawandels nicht genau prognostiziert werden können. Dies gilt nicht nur für Entwicklungsländer; auch in Europa können die Veränderungen der Niederschlagsmuster nicht genau vorherbestimmt werden. Zum anderen müssen Umweltschutz und Wirtschaftswachstum in ein anderes Verhältnis gesetzt werden als bisher: Der Schutz der Ökosysteme und ihrer Funktionen, die für das menschliche Leben fundamental sind und die durch Technologien nicht ersetzt werden können, darf dem Wirtschaftswachstum nicht mehr untergeordnet werden.

3.4 Das Scheitern der nachholenden Entwicklung am Beispiel von China und Indien

Die Bekämpfung von Armut im Sinne verbesserter Verteilungs- und Teilhabegerechtigkeit war historisch gesehen eng mit Wirtschaftswachstum verbunden – daher die krasse Wachstumsorientierung der meisten Strategien zur Bekämpfung der Armut, auch derer, die auf eine Integration wirtschaftlicher und sozialer Maßnahmen setzen. Die meisten Entwicklungsstrategien beruhten auf der Vorstellung, die Entwicklungswege erfolgreicher Nationen nachahmen und die dafür notwendigen Schritte in kürzerer Zeit nachholen zu können. Der Begriff der "nachholenden Entwicklung" bezieht sich auf den strukturellen Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft und die damit verbundenen Prozesse des Wirtschaftswachstums, der Urbanisierung und einer damit einhergehenden Abnahme des Bevölkerungswachstums und verbesserter Lebensbedingungen für die Bevölkerungsmehrheit.

Ein quantitatives Wirtschaftswachstum schloss jedoch bisher eine immer umfassendere wirtschaftliche Ausbeutung natürlicher Ressourcen und Ökosysteme ein. Seit den 1960er Jahren entstand auch ein Bewusstsein dafür, dass es für die Unterwerfung der Natur unter die Bedürfnisse der Wirtschaft Grenzen gibt. Die zunehmende Belastung der Böden und der Nahrungskette mit Giften wie DDT und die damit verbundenen gesundheitlichen Gefahren für Menschen und Tiere waren ein erster Hinweis; die globale Erwärmung und die unvermeidbaren, komplexen Folgen des Klimawandels stehen gegenwärtig im Vordergrund der öffentlichen Wahrnehmung des belasteten Verhältnisses von Mensch und Natur. Aufgrund dieser Veränderungen entstand in den 1980er Jahren die bis heute gültige Kritik am Konzept der nachholenden Entwicklung, und das neue Leitbild der nachhaltigen Entwicklung setzte sich durch – jedenfalls in der politischen Programmatik (siehe dazu näher Abschnitt 6.1). Es findet sich gegenwärtig in den meisten nationalen Strategien der Entwicklungsländer und in den Programmen von Entwicklungsbanken und anderen Organisationen wieder, in der Praxis ist es jedoch kaum wirksam geworden. Vielmehr dominiert hier nach wie vor das Konzept der nachholenden Entwicklung.

Besonders deutlich wird dies am Beispiel Chinas und Indiens. In beiden Ländern ist Wirtschaftswachstum immer noch mit einem hohen Ausmaß des Raubbaus an der Natur und einer Verstärkung von Mustern sozialer Ungleichheit verbunden. Hier können in beiden Ländern in den kommenden Jahren große Hemmnisse für eine nachhaltige Entwicklung entstehen.

  • Die Menschen und die Wirtschaft in China leiden bereits heute unter großen ökologischen Problemen, die durch die Auswirkungen des Klimawandels voraussichtlich noch verschärft werden. In Zukunft werden die Durchschnittstemperaturen steigen, es wird zu schwereren Dürren und Starkniederschlägen kommen. Dadurch werden sich im Norden die Wüsten weiter ausbreiten, außerdem wird in weiten Teilen des Landes die Wasserversorgung gefährdet. Die ärmsten und am wenigsten entwickelten ländlichen Trockenregionen sind bereits heute am stärksten von den Folgen der Rohstoffausbeutung betroff en. Die dort lebenden Menschen sind den Problemen der voranschreitenden Bodendegradation, zunehmenden Unwettern und Dürreperioden sowie den Engpässen knapper werdender Süßwasserressourcen unmittelbar ausgesetzt. Landflucht ist heute eine gängige Bewältigungsstrategie. Daher ist sehr wahrscheinlich, dass die Binnenmigration weiter zunehmen und zu einer der zentralen Herausforderungen für die chinesische Regierung werden wird. Aber auch die Bevölkerung an der Ostküste wird nicht verschont werden. Hier konzentriert sich die Industrieproduktion Chinas. Der Anstieg des Meeresspiegels und stärkere und häufigere Tropenstürme und Flutkatastrophen könnten nicht nur die Industrieanlagen und ihre Versorgungsinfrastruktur beschädigen. Sie werden auch Millionen von Wanderarbeitern betreffen, die in den großen Städten leben.[43]

    Die Herausforderungen durch den Klimawandel treffen auf bereits große bestehende Umweltprobleme, die von der Verschlechterung der Böden über zunehmenden Wassermangel und Gewässerverschmutzung bis zu Luftverschmutzung in stark gesundheitsschädlichem Ausmaß reichen. Außerdem haben die Treibhausgasemissionen des Landes erheblich zugenommen. China steht mittlerweile, was die Gesamtemissionen betriff t, weltweit mit 17,3 Prozent der globalen CO2-Emissionen an erster Stelle. Der chinesische Energieverbrauch stieg in den letzten drei Jahren im Durchschnitt um 13 Prozent jährlich und wuchs damit sogar noch stärker als das BIP. Im Durchschnitt wird pro Woche ein neues Kohlekraftwerk in Betrieb genommen. Das Programm zum Ausbau der Nutzung erneuerbarer Energieträger ist zwar eines der größten derartigen Programme weltweit, deckt derzeit aber nur einen Bruchteil des jährlichen Mehrverbrauchs an Energie im Land.

    Das umwelt- und klimapolitische Problembewusstsein der chinesischen Zentralregierung hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Seit 1992 lässt sie sich beispielsweise von einer Internationalen Kommission für Umwelt und Entwicklung (China Council for International Cooperation on Environment and Development, CCICED) beraten, deren Empfehlungen Eingang in die Entwicklungsplanung gefunden haben. 2008 wurde ein Weißbuch veröffentlicht, das die klimapolitischen Maßnahmen der Regierung zusammenfassend darstellt, allerdings ohne die Ziele mit eindeutigen Indikatoren und Fristen zu versehen. Das Umweltministerium (MEPA) wurde institutionell gestärkt, hat jedoch – wie andere zentrale Instanzen auch – erhebliche Schwierigkeiten, sich gegenüber einzelnen Provinzregierungen und Kommunalverwaltungen durchzusetzen. Die durch die Luft- und Gewässerverschmutzung verstärkt auftretenden Gesundheitsprobleme und Gefährdungen insbesondere der armen ländlichen und städtischen Bevölkerung haben dazu geführt, dass China sogar – als eines der ersten Länder der Erde – seit 2004 damit begonnen hat, die Folgekosten der Umweltbeeinträchtigungen in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung auszuweisen und ein "grünes" Volkseinkommen zu berechnen, das deutlich niedriger liegt als das BIP.[44]

    Zunehmend geht die chinesische Regierung dazu über, für ihre großen Wassereinzugsgebiete Yangtze, Gelber Fluss und Songhua internationale Hilfe vor allem zur Beratung bei der Behandlung von Abwässern und Entsorgung von Abfällen einzuholen, gefolgt von großen Investitionsvorhaben. Im Jahr 2006 hat der chinesische Staatsrat beschlossen, dass bis zum Jahr 2010 mindestens 70 Prozent der Abwässer in Groß- und Mittelstädten geklärt sein müssen. Die Abwasserbehandlung im ländlichen Bereich müsste ebenfalls landesweit angegangen werden.

  • Auch in Indien werden die Folgen des Klimawandels vielfach spürbar sein. Am schlimmsten werden sich voraussichtlich die Veränderungen des Monsuns auswirken, da die landwirtschaftliche Produktion und damit die Ernährungssicherheit von dessen Niederschlägen abhängen. Das Abschmelzen der Himalajagletscher gefährdet die Wasserversorgung, und auch hier werden häufigere starke Niederschläge und Tropenstürme die großen Städte an den Küsten bedrohen und zu wiederholten schweren Flutkatastrophen führen. Am schwersten betroff en werden wahrscheinlich die Armen sein: die vom Regenfeldbau abhängigen Bauern auf dem Land und die Bewohner der riesigen Slums in den Ballungszentren.[45]

    Indien leidet bereits heute unter den Folgen des hohen Bevölkerungswachstums und einer kaum kontrollierten Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, die erhebliche Auswirkungen auf die Biodiversität hat. Die indische Regierung hat – teilweise unter dem Druck von Gerichtsurteilen – Schritte zur Verbesserung der Luft- und Wasserqualität, zur Bewahrung der Biodiversität und der Tiervielfalt und gegen eine weitere Verschlechterung der Bodenqualität eingeleitet. Ein verbessertes Management von Boden und Wasser wird für die Erhöhung der Ernährungssicherheit sehr wichtig sein.

    Die zunehmende Verstädterung schafft zusätzliche Probleme bei der Versorgung mit Trinkwasser, bei der Abfallbeseitigung und bei der Gewährleistung eines Minimalstandards bei der Luftqualität. In Neu Delhi wurden nachhaltige Verbesserungen der Luftqualität erzielt, nachdem der Oberste Gerichtshof erzwungen hatte, dass öffentliche Verkehrsmittel nur noch mit Flüssiggas betrieben werden dürfen. Diese Praxis wird jetzt freiwillig von immer mehr privaten Fahrzeughaltern übernommen. Auf dem Land geht es vor allem um die Verbesserung der Wasserqualität und der Wasserversorgung, die noch immer zu einer hohen Sterblichkeit von Müttern und Kleinkindern führen.

    Die Armut führt auch in Indien zunehmend zu sozialen Spannungen. Da auch die Nachbarn Bangladesch und Pakistan unter erheblichen Auswirkungen des Klimawandels leiden werden, wird die Zuwanderung nach Indien voraussichtlich zunehmen. In der Vergangenheit hat insbesondere Migration aus dem dicht besiedelten Bangladesch schon häufiger zu gewalttätigen Auseinandersetzungen in den angrenzenden indischen Bundesstaaten geführt. Ein zunehmender Migrationsdruck durch "Klimaflüchtlinge" bei einer gleichzeitig weiter wachsenden indischen Bevölkerung wird fast zwangsläufig zu einer Verschärfung der sozialen Spannungen führen, und dies in einer Region, die ohnehin zu den konfliktträchtigsten der Welt zählt.[46]

In Anbetracht des Klimawandels hat sich gezeigt, dass das Konzept nachholender Industrialisierung alter Form gescheitert ist. Umweltschutz muss von vornherein in Wirtschaftsstrategien integriert werden. Die Bekämpfung der Armut kann nicht durch traditionelles Wirtschaftswachstum geleistet werden, die Industrieländer können hier nicht mehr als Vorbild dienen, um eine zukunftsfähige Entwicklung zu erreichen. Diese Herausforderung muss ein Umdenken in Richtung auf eine klimaverträgliche Politik aufgenommen werden.

Nächstes Kapitel