Sterben hat seine Zeit

Vorwort

Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland hat sich seit vielen Jahren mit den verschiedenen Instrumenten der Willensbekundung – Patientenverfügungen, Vorsorgevollmachten und Betreuungsverfügungen – befasst und die gesellschaftliche und politische Debatte aufmerksam verfolgt. Zusammen mit der römisch-katholischen Deutschen Bischofskonferenz und in Verbindung mit den übrigen Mitglieds- und Gastkirchen der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland hat er bereits 1999 eine „Handreichung zur Christlichen Patientenverfügung“ herausgegeben.

Die Kirchen haben damit das Ziel verfolgt, die Menschen zum Gespräch über das Sterben und über erwünschte und unerwünschte Schritte im Falle einer lebensbedrohlichen Erkrankung anzuregen. Dies ist gut aufgenommen worden: In Caritas und Diakonie, in kirchlichen Krankenhäusern und in der christlichen Hospizarbeit hat ein verstärkter Diskussionsprozess zwischen der Ärzteschaft, den Patienten sowie deren Angehörigen über die Chancen und Möglichkeiten von Verfügungen am Lebensende eingesetzt.(1) Auch hat die seit Jahren anhaltende Diskussion über die Sterbehilfegesetze in den Niederlanden und Belgien dazu beigetragen, dass sich immer mehr Menschen der Notwendigkeit einer Vorsorge für das Lebensende bewusst werden.

Obwohl bereits eine große Anzahl verschiedener, auch christlich ausgerichteter Formulare im Umlauf waren, erfreute sich die Christliche Patientenverfügung so großer Nachfrage, dass schon 2003 eine Neuauflage nötig wurde.(2) In ihr wurde vor allem eine Änderung in der Bestimmung der Reichweite der Christlichen Patientenverfügung vorgenommen: War in der 1. Auflage ausschließlich eine enge Reichweite vorgesehen, so wandten sich die Kirchen in der 2. Auflage davon ab und erweiterten die enge Reichweitenbestimmung durch die Möglichkeit einer zusätzlichen Verfügung für Situationen außerhalb der eigentlichen Sterbephase. Der Rat hat diese neue Ausrichtung, die Öffnung der engen Reichweite im Formular der Christlichen Patientenverfügung durch weitergehende individuelle Verfügungen, für gut erachtet und darin eine Chance gesehen, den Wünschen und Vorstellungen vieler Menschen zu entsprechen.

Beide Auflagen der Christlichen Patientenverfügung hatten mit der Schwierigkeit umzugehen, dass es außer einzelnen Gerichtsentscheidungen zur sog. „passiven“ und „indirekten Sterbehilfe“ und den „Grundsätzen der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung“ (1998, überarbeitet 2004) keine rechtlich bindenden Vorgaben für Patientenverfügungen gab.

Erst der umstrittene Beschluss des 12. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 17. März 2003 (3), nach dem eine Betreuerin oder ein Betreuer in eine Beendigung ärztlich angebotener lebensverlängernder Maßnahmen nur mit Genehmigung des Vormundschaftsgerichts einwilligen kann, bewirkte, dass auf politischer Ebene Anstrengungen unternommen wurden, zivilrechtliche Regelungen über die in einer Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht und Betreuungsverfügung zu regelnden Inhalte zu entwickeln und öffentlich zu diskutieren. Mit diesem Beschluss wurden auch Fragen der Verbindlichkeit und Reichweite einer Patientenverfügung sowie Fragen der Zulässigkeit und der Grenzen sog. passiver und indirekter Sterbehilfe aufgeworfen. Erstmalig legten daraufhin im Laufe des Jahres 2004 der „Zwischenbericht: Patientenverfügungen“ der Enquête-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“, der Abschlussbericht der Arbeitsgruppe des Bundesjustizministeriums „Patientenautonomie am Lebensende“ und der inzwischen zurückgezogene „Entwurf eines 3. Gesetzes zur Änderung des Betreuungsrechts“ des Bundesjustizministeriums detaillierte Regelungsvorschläge vor, die die besonderen Probleme dieses Rechtsinstituts ans Licht brachten.

Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland hat in dieser Situation im Herbst 2004 die Kammer für Öffentliche Verantwortung damit beauftragt, einen Diskussionsbeitrag auszuarbeiten, um an der kirchlichen und öffentlichen Willensbildung mitzuwirken. Mit diesem Heft wird das Ergebnis der Beratungen der Kammer vorgelegt. Der Rat dankt der Kammer und ihrem Vorsitzenden Prof. Dr. Wilfried Härle für die schnelle und sorgfältige Ausarbeitung. Er begrüßt insbesondere, dass es der Kammer gelungen ist, die in der Diskussion häufig als Pole eines Spannungsverhältnisses dargestellten Normen – nämlich: Selbstbestimmung des Patienten und Fürsorge für den Patienten – miteinander zu verbinden und aufeinander zu beziehen. In dieser Stellungnahme wird deutlich, dass Selbstbestimmung Fürsorge in mehrfacher Hinsicht voraussetzt. „Der Respekt vor der Selbstbestimmung der Patienten ist, so gesehen, geradezu eine Implikation der Fürsorge.“ (S. 17) In diesem integrativen Ansatz sieht der Rat der EKD einen besonders geeigneten und hilfreichen Ausgangspunkt für die Entwicklung ethischer Regeln zum Umgang mit Patientenverfügungen.

Die unterschiedlichen Auffassungen zur Reichweite von Patientenverfügungen werden in zwei Argumentationslinien nebeneinander dargestellt und aufeinander zugeführt, ohne dass sie ganz zur Deckung gebracht werden. Der vorliegende Text bietet insofern keine abschließende Lösung der mit der Thematik der Patientenverfügung verbundenen Probleme. Vielmehr eröffnet und umschreibt er einen ethisch begründeten Raum, der für situationsbezogene Ermessensentscheidungen offen ist. Auch insofern ist dieser Text als Diskussionsbeitrag und Hilfestellung zur ethischen Urteilsbildung zu verstehen.

Hannover, den 8. März 2005


Bischof Dr. Wolfgang Huber
Vorsitzender des Rates der
Evangelischen Kirche in Deutschland

 

Fußnoten:

(1) Vgl. auch Sterbebegleitung statt aktiver Sterbehilfe. Eine Textsammlung kirchlicher Erklärungen mit einer Einführung des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz und des Vorsitzenden des Rates der EKD, Gemeinsame Texte 17, Hannover/Bonn 2003.
http://www.ekd.de/EKD-Texte/2064_
sterbebegleitung_2003.html
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(2) Vgl. Christliche Patientenverfügung mit Vorsorgevollmacht und Betreuungsverfügung. 2. Auflage. Handreichung und Formular der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der EKD in Verbindung mit den weiteren Mitglieds- und Gastkirchen der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland, Hannover/Bonn 2003.
http://www.ekd.de/download/
patientenverfuegung_formular.pdf
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(3) Vgl. NJW 2003, 1588ff. Der Bundesgerichtshof musste erstmalig über den Antrag eines Betreuers entscheiden, die Einstellung der künstlichen Ernährung eines Komapatienten vormundschaftsgerichtlich zu genehmigen.

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